DDelphine de Vigan, Das Lächeln meiner Mutter. Droemer. Aus dem Französischen von Doris Heinemann

Es ist eines der Hauptthemen, das Delphine de Vigan immer wieder beschäftigt: Die Frage, wieviel in einem Roman, einem literarischen Werk jeglicher Gattung Fiktion, wieviel reine Berichterstattung sein darf. In dem vorliegenden Fall eine besonders heikle Frage, da es sich um die Aufarbeitung der Krankheit (Schizophrenie) ihrer Mutter, die sich dasLeben nahm, handelt. „Anfangs, als ich den Gedanken, dieses Buch zu schreiben….akzeptiert hatte, dachte ich, es würde mir ganz leicht fallen, Fiktives einzubauen. …Stattdessen kann ich an nichts rühren, …voller Schrecken bei dem Gedanken, ich könnte Verrat an der Geschichte üben, mich in den Daten, Orten, Altersangaben irren.“ Diese Gewissensfrage durchzieht den Text und den Fortlauf der Erzählung. Immer wieder unterbricht die Autorin, stockt, fragt sich, ob es richtig ist, die Familienmitglieder mit Fragen nach Erinnerungen zu belästigen, sie im Text miteinzubeziehen. Das macht das Buch in der ersten Hälfte schwerfällig. Erst mit dem voranschretend Erzählfluss scheint de Vigan es mit ihrem Gewissen vereinbaren zu können, über die intimsten Situationen und Gefühle der Mutter, ihrer Geschwister und Freunde, über ihre eigenen Gefühle und die ihrer Schwester nach dem Selbstmord zu berichten. Dann immer wieder die Frage: Ist diese Krankheit erblich? Wird der Hang zum Selbstmord an die nächste oder übernächste Generation weitergegeben? Eine Frage, die sich auch Charlotte Salomon in ihrem Buch stellt. (siehe auch meinen Beitrag: Marget Greiner, Charlotte Salomon). Eine andere Frage ist ebenso wichtig: Hat sie als Tochter, als Autorin  das Recht, die Geheimnisse ihrer Familie aufzudecken, zu schreiben, dass der allgegenwärtige Vater (ihr Großvater) ihre Mutter sexuell missbraucht hat? Hat sie das Recht, den Mythos der heilen Familie zu zerstören?Das Werk ist kein Roman, sondern eine Aufarbeitung, eine literarische Familienaufstellung, bei der  Verwundungen, Freuden,  Leiden,  Probleme, aber auch so manch schöne Erinnerungen an ihre kluge, überaus schöne Mutter Lucile wie Luftblasen aus dem Teich aufsteigen und vor dem Verschwinden durch Sprache, Schreiben festgehalten werden. Letztendlich ist es eine Liebeserklärung an eine Frau, die ihre Krankheit mit allen Mitteln bekämpft, immer wieder ins Leben zurück findet. Dann aber, erschöpft von den Kämpfen, den Zeitpunkt ihres Todes selbst bestimmt, als letzte große Freiheitsgeste.