Dass Saphia Azzeddine zu den besten Schriftstellerinnen des Maghreb zählt, beweist sie wieder einmal in dem Roman „Zorngebete“. Die Icherzählerin Jbara ist 16 Jahre altund hütet die Schafe in Tafafilt, einem Ort in der Wüste, in dem kaum Fremde vorbeikommen. Sie weiß nichts von der Welt, auch nicht, dass sie schön ist. „Schönheit git es nur in der Sprache der Reichen“.Sie lässt sich von einem Jungen aus der Umgebung hin und wieder „besteigen“, ohne zu ahnen, wozu dieser Geschlechtsakt führt. Als sie schwanger wird, wird sie vom Vater, der ihr wegen seiner Pseudoreligiosität verhasst ist, vertrieben. Mit dem Bus fährt sie in die nächste Stadt, wo sie das Kind auf der Straße ganz allein auf die Welt bringt und es einfach liegen lässt. Als Putzfrau und auch als Nutte bringt sie sich durch, immer im Gespräch mit Allah, an dessen Existenz sie glaubt, aber ganz genau weiß, dass nur sie allein sich helfen kann. Die Frage nach dem richtigen Tun stellt sie ihm immer wieder und gibt sich selbst die Antwort. Eines Tages gelingt es ihr, in einer Villa der Reichen als Dienstmädchen zu arbeiten. Man liest mit großem Vergnügen, wie sie das absurde Benehmen der Bewohner beschreibt. Sie wird von ihnen als Mensch nicht wahr genommen: „Die Reichen sehen uns nicht“, auch nicht, als der Hausherr sie regelmäßig fickt und danach gleich wieder vergisst. „Es ist schrecklich, niemandem in Erinnerung zu bleiben“. Obwohl sie nicht lesen kann,lernt sie bald den „Unterschied zwischen einer Sonnenbrille von Fendi und Versace“ erkennen. Mit dem Wissen um das Tun und Treiben der Reichen wird sie bald zu einer gefeierten Stripperin, dann die Edelnutte eines Scheichs. Sie ist jetzt „Geschäftsfrau und ihr Körper ist ihr Büro“. Das geht so lange gut, bis ihr Scheich wegen Drogenhandels des Landes verwiesen wird und sie ins Gefängnis kommt.Nach der Haft heiratet sie einen „braven Imam“ und hofft auf ein ruhiges Leben. Doch die Schiegermutter will es nicht so und drangsaliert sie ordentlich. Als ihr Mann einen Schlaganfall erleidet, füttert und badet sie ihn und singt ihm, um die Schmerzen zu lindern, Lieder ihrer Kindheit vor. Immer wieder richtet sie ihre Zorngebete an Allah, hadert mit ihm, zweifelt an ihm, fragt nach dem Sinn des Leidens und des Bösen, um am Schluss zu erkennen: „Gut und Böse gibt es nicht. Dafür bist Du viel zu scharfsinnig. Allah, Du bestehst nur aus Zwischentönen und darum liebe ich Dich.“
Ein berührendes Buch ganz ohne Rührseligkeit. Dafür sorgt schon die direkte, oft sehr harte Ausdrucksweise. Azzeddine nimmt sich kein Blatt vor den Mund, nennt die Dinge beim Namen, ohne billig zu werden. Wenn sie den Geschlechtsakt beschreibt, so geschieht das sehr direkt, in groben Ausdrücken, denn genau so erlebt ihn Jbara.“Im Grunde kann ich mich nicht beklagen. Ich verkaufe Sex..was ist schlecht daran?“ fragt sie. Erst als sie so etwas wie Liebe zu ihrem sterbenden Mann empfindet, wird sie mit sich eins.
Saphia Azzeddine hat ein packendes Buch jenseits der gängigen Moralvorstellungen geschrieben. Sie geht hart mit den Lebensführungen der Reichen um, schildert mitleidlos den Lebensweg eines Mädchens, das von den Männern ausgenützt wird und das ihre Schönheit umgekehrt auch nützt, um am Reichtum mitzunaschen. Azzeddines Kritk richtet sich vor allem gegen eine Männerwelt, die unter dem Vorwand religiöser Gesetze Frauen schamlos ausnützen und sie, um sich ihrer ganz sicher zu sein, unter einen Schleier stecken. „Scheiße nochmal, dieser Schleier kotzt mich an.“ Und sie wird ihn ablegen. Zum Zeichen ihrer neuen Freiheit.
Einer der Höhepunkte der Wiener Festwochen war Franz Schuberts Winterreise mit Markus Hinterhäuser am Klavier und Matthias Goerne als Liedinterpret . Dazu verfilmete Zeichnungen von William Kentridge.
Die Kombination – Gesang und Video – gab es immer wieder, aber die Versuche liefen ins Leere. Meiner Meinung auch hier. Ganz einfach, weil gerade die Winterreise eine so starke, existentielle Aussage provoziert, dass der Zuhörer damit genug beschäftigt ist, seine inneren Bilder zu koordinieren. Außerdem war Goernes Interpretation so intensiv, dass Bilder, wären sie auch noch so interessant gewesen, nur störten. Ich habe, um die Lieder voll in mich aufzunehmen, versucht, nicht auf die Videos zu sehen -was natürlich fast unmöglich war. Wenn ich hinsah, hatte ich genug mit der Deutung zu tun. Es ist schon klar, dass Kentridge mit seinen gezeichneten Filmen die konservative, all zu vordergründige Deutung der Winterreise brechen will. Aber ich wollte nicht wissen, wie und warum er gerade diese oder jene Bilder mit diesem oder jenem Lied verknüpft und spürte heftige Abwehr in mir, was mich wiederum von der Musik wegholte.
Während wir auf den Beginn warteten, durften wir uns den Kopf über die Pinwand des Künstlers zerbrechen. Papier, zerrissen, Entwürfe weg -geworfen, ver-worfen, Veruche, sich in der Musik zu orten? Fotos verblasst und verblasen. Alles ist Scheitern, künstlerisch und existentiell. Dann das erste Lied – Gute Nacht. Ein Baum, den der Wind entblättert. Manche Bilder waren überbordend, manche ließen mich ratlos werden, so etwa die Schnüre, die sich während des Liedes „Der Lindenbaum“ von den Ästen lösen, als hätte sich gerade jemand erhängt. Ganz ärgerlich fand ich die Bilder zum Lied „Wasserflut“ – da zeichnete Kendrige eine Dusche, einen Messbecher und immer wieder eine Kaffeetasse.
Ein Abend, der trotz der Videos in die Tiefe ging. Das lag vor allem an den beiden Interpreten: Hinterhäuser, der seine Begleitung feinfühlig zu dosieren wusste, Goerne, dessen Einsatz bis ans Äußerste seiner Kräfte ging. Eine besseren Interpreten der Winterreise gibt es zur Zeit sicher nicht.