Gesuino Némus, Die Theologie des Wildschweines

Aus dem Italienischen von Sylvia Spatz

EIN SARDINIEN-KRIMI steht auf dem Cover. Sardinien ja, Krimi -eher nein. Denn die „Lösung“ gibt es nicht wirklich, sie ist so absurd wie das ganze Buch. Daher hier meine Warnung: Nur Leser mit Sardinienerfahrung werden ihre Freude an dem Buch haben und Figuren aus ihrem eigenen Sardinienspektrum bestätigt finden. Alle anderen werden das Buch als überdrehtes Hirnjogging abtun.

Sardinien in den späten 60er-, Anfang 70er Jahren. Damals und auch noch bis in die 90er waren Kidnapping, Mord und Erpressung an der Tagesordnung, Fremde -sprich Menschen aus dem „continente“, wie die Sarden Italien nannten, stießen in Gesprächen schnell auf eine Schweigemauer. Dass Aga Khan die Costa Smeralda mit Promihotels besetzte – verschandelte – ist an den meisten Sarden so was von nicht bemerkenswert vorbei gegangen, Es sei denn, sie gehörten zu den armen Würsteln, die damals um fast kein Geld ihren Grund an Aga Khan und Nachfolger verkauft hatten.

Der Rest der Sarden war eher damit beschäftigt, sich gegen die Gesetze vom „continente“ zu wehren, wie etwa als ein Atomkraftwerk in den Bergen von Orgosolo angedacht war. Aber darum geht es nicht in diesem Buch. Sondern ganz grundsätzlich um die typischen Charaktere des eigenwilligen Volkes der Sarden. Ein Toter wird, nur oberflächlich vergraben, im Wald ganz nahe bei dem Bergdorf Televras gefunden. Der Carabiniere De Stefani ist mit der Lösung des Falles betraut, aber als Piemonteser total überfordert. Denn keiner würde ihm, dem „Fremden“, auch nur ein Sterbenswörtchen verraten. Schon gar nicht der Pfarrer Don Cossu. Er weiß alles über seine Schäfchen, hält aber dicht. Mord, Erpressung, Betrug, Vergiftung – er weiß Bescheid, schweigt aber. Der Carabiniere Piras ist ein gebürtiger Sarde, weiß auch viel, würde auch nichts verraten. „Er erwartete für sein Stillschweigen keine Gegenleistung. Er begriff einfach, wie das nur Sarden begreifen können, was es hieß, arm zu sein: schweigend und würdevoll.“ (p.68). Das ist einer der Kernsätze des Buches. Was nicht heißt, dass der Autor, selbst gebürtiger Sarde, Mord und Erpressung gut heißt, nur weil das Verbrechen von armen Sarden begangen wird. Im Grunde geht es um Verständnis für Menschen, die ums Überleben kämopfen. Sie haben nicht viel, eine Herde Schafte, Ziegen und die Natur. Wenn sie Menschen gekidnappt und Lösegeld erpresst haben, so ist das theoretisch ein Verbrechen, aber für den Pfarrer und den einheimischen Polizisten ein verstehbares Verbrechen. Ich möchte das hier durch ein eigenes Erleben verstehbar machen:

In den frühen 90er Jahren war Kidnapping auf Sardinien noch en vogue. Besonders die Bewohner von Orgosolo waren da eifrig tätig. Als ich eine Reportage über diesen Ort in den Bergen, zu dem es damals nicht einmal eine Hinweistafel auf den Straßen gab, vorbereitete, warnte man mich: Fahr nicht hin, schon gar nicht allein. Ich fuhr, stellte mein Auto vor einer Bar ab und übergab die Schlüssel dem Besitzer, um sicher zu gehen, dass ich es wiederbekomme.Im Ort sprach man viel über die letzte Entführung einer Bankierstochter und darüber, dass die Behörde Leute aus Orgosolo verdächtigte. Es war gerade ein großes Fest imgange, irgendein Ortsheiliger wurde gefeiert. Ich hörte den Pfarrer predigen. Er sprach über Armut und eine neue Art der Gerechigkeit. Nach der Predigt fragte ich ihn, ob er die Entführer verurteile. Klare Antwort: Nein! Und wenn er sie auch kenne, werde er sie niemals verraten. Denn er habe Verständnis für die Lage der Menschen hier – Armut und das Wissen, der Willkür des Staates – il continente – ausgeliefert zu sein, sind der Boden, wo Gewalt gedeiht. Er verurteile keinen einzigen seiner Schäfchen, beteuerte er nochmals. Es dauerte ein halbes Jahr, dann fand man die Entführte: Sie lebte gemütlich im Haus der Großmutter des Entführers. Das Haus stand direkt neben der Unterkunft der Carabinieri.

Zusammenfassung: Man schmunzelt beim Lesen über die einzelnen Figuren, die skurril, absurd und dennoch sehr menschlich geschildert werden. Allerdings muss ich gestehen, dass ich die Bedeutung der „Theologie des Wildschweines“ überhaupt nicht verstand. Ist ja kein Wunder, ich bin keine Sardin!

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