Untertitel: Ein Totentanz von John Neumeier, frei nach der Novelle von Thomas Mann.
Choreographie, Lichtkonzept und Inszenierung: John Neumeier. Bühnenbild: Peter Schmidt. Kostüme: John Neumeier und Peter Schmidt.
Klavier: David Frey. Musik von Sebastian Bach und Richard Wagner, Orchesterwerke vom Tonträger
Titelfoto: Tadzio (Caspar Sasse) und Gustav von Aschenbach (Edvin Revazov)©Karin West
„Venedig“ heißt das Motto der Pfingstfestspiele 2025. Tod in Venedig, die Novelle von Thomas Mann, bietet sich als erster Einfall an. Die Verfilmung von Luchino Visconti machte den Stoff beim breiten Publikum bekannt. In der Novelle ist Gustav von Aschenbach ein alternder Schriftsteller, der an einer heftigen Schreibhemmung leidet. Venedig, die Stadt der Sinnlichket, soll ihn davon befreien. In der Filmversion ist Aschenbach ein Komponist – mit deutlichen Anspielungen auf Gustav Mahler, dessen Musik den Film beherrscht . Im Ballett Neumeiers ein „Meisterchoreograph“, dem nichts mehr einfällt. Auf den Punkt gebracht: Aschenbach wird zum Symbol des Künstlers in der Schaffenskrise.
John Neumeier interessierte dieses Thema schon viele Jahre. Im Gespräch, das er anlässlich der Uraufführung in der Staatsoper Hamburg 2003 mit Telse Hamann führte (abgedruckt im aktuellen Programmheft), leugnet er die autobiographischen Züge nicht: „Ich kann mich durchaus mit Aschenbach identifizieren, aber es ist auf gar keinen Fall eine Autobiografie“. (Programmheft S 32). Er will Aschenbach als Choreograph in der Krise zwischen abstraktem Konzept und Trieb, Eros, Liebe sehen. Eine sehr aktuelle, heutige Diskrepanz, vor der jeder Choreograph gestellt ist: Konzipiert er – gleichsam auf dem Reißbrett – ein abstraktes Ballett, eine „Creation“ zu einem theoretischen Thema oder lässt er sich auf menschliche Gefühle, auf Annäherung ein. Diesen Zwiespalt macht Neumeier in vielerlei Hinsicht in dem Ballett verständlich: Da klingt die mathematisch aufgebaute Musik Bachs an, wenn Aschenbach sich mit Choreographien um die Figur Friedrich des Großen abmüht. Was immer er probiert, passt nicht. Das verdeutlicht Neumeier durch „falsche Bewegungen“, unharmonsiche Choreographien und vor allem durch Humor. Das Zusammenspiel zwischen ihm und seinen erschaffenen Figuren zertrümmert Aschenbach immer wieder, doch sie kehren mit penetranter Ausdauer zurück, er wird sie nicht los. Edvin Revazov ist der ideale Gustav Aschenbach: steif, humorlos und als solcher sorgt er für so manches Schmunzeln im Publikum. Da nützt es nichts, wenn seine Figuren ihn umschmeicheln – er scheucht sie alle weg, bis er auch das Porträt Friedrich des Großen vernichtet. Aus, er will nicht mehr. Aus dem Hintergrund der Bühne tauchen zwei Figuren auf – die Verdoppelung eines Wanderers. Louis Musin und Matias Oberlin tanzen all das, was Aschenbach fehlt: Mut, Veränderung, Lebensfreude, Keckheit, Neugier. In diesen Augenblicken des prallen Lebens – wunderbar verkörpert von den beiden Tänzern – hört man die Musik Wagners. Sie lockt Aschenbach – nach Venedig. Und schon sind beide die „Führer“, „Verführer“. Als Gondoliere rudern sie Aschenbach an den Lido, ans Meer, an die Orte der Sinnlichkeit, der bequemen Gleichgültigkeit, die man in gesellschaftliche Tänzen auslebt. Später werden sie als Friseure die unheimliche Verjüngung Aschenbachs vornehmen, und wieder später werden sie die mitten im Tode vor Lust herumwirbelnde Gesellschaft mit ihren Gitarrenklängen anfeuern. Vor den Augen Aschenbachs und des Publikum entwickeln sich in Choreographie, Bewegungen, Kostümen, Gesten und Musik „Tableaus“ der Gesellschaft – keine Hammerkritik, die liegt Neumeier nicht, sondern hauchfeine Pinselstriche, an denen man die Distanz zwischen dem noch immer steifen Aschenbach und der allzu freizügig sich gebärdenden „gehobenen“ Gesellschaft auslesen kann. Wäre da nicht einer, der alles durchbricht – Tadzio! Jung, schön, selbstbewusst, wie ein Wirbelsturm bricht er in die feine Soirée des Hotels ein. Unbekümmert und scheinbar nicht wissend um seine Wirkung. Oder doch? Caspar Sassse ist ein koketter Tadzio, ein Junge, der sich seiner Wirkung sehr wohl bewusst ist. Ein Lächeln, ein Wink – Aschenbach verfällt dem Charme. Dem Eros – bis in den Liebestod. Neumeier steigert die Beziehung zwischen den beiden : Von dem konventionellen Handgruß bis zu einem erotischen Liebespas de deux am Schluss: Aschenbach wirft die Kompositionen Bachs weg, überlässt sich den Liebeslockungen Wagners und Tadzios, im Bewusstsein, dass sie tödlich sind. So hält Tadzio den sterbenden Aschenbach wie eine Pietà in den Armen, begleitet von Isoldes Liebestod von Franz Liszt. Aschenbach hat sich für Eros entschieden. Eros und Thanatos haben Apoll, den Gott der strengen Ordnung, besiegt.
Jubel, frenetischer Beifall für die gesamte Truppe, standing ovation für John Neumeier, der sichtlich zu Tränen gerührt ist.