Leopold Museum: Gabriele Münter Retrospektive

„Gabriele Münter (1877–1962) war weit mehr als die „Frau an der Seite Kandinskys“. Durch Ausstellungen und Publikationen, insbesondere jene der vergangenen zwei Jahrzehnte, findet sie breite Anerkennung als eine der führenden Protagonist*innen der deutschen Avantgarde. Nun würdigt das Leopold Museum als erste Institution in Österreich ihr Werk im Rahmen einer umfassenden Personale. In zwölf Themeninseln wird die expressionistische Malerin auf ihren Lebensstationen begleitet, die oft mit jeweiligem Stilwechsel oder lebhaftem Interesse an unerprobten Techniken und Sujets koinzidierten.“ (Pressetext)

Die Wände der Ausstellung sind in Blau gehalten, gerade so wenig oder sos viel blau, dass es nicht von den Bildern ablenkt, sie nur angenehm umrahmt. „Angenehm“ ist gleich das passende Attribut für die ganze Ausstellung – kleines Manko: Die Texte neben den Bildern in Minischrift verleiten nicht zum Lesen. Schade!

Farbinstensität und klare Formensprache sind Gabriele Münters Merkmal. Wie sie sich von männlichen Einflüssen freizukämpfen versucht, sich von ihrer Formensprache abbringen lässt, dann doch immer wieder zu sich und ihrem inneren Credo zurückfindet, das wird in der Ausstellung deutlich. Wassily Kandinsky- zuerst Lehrer, dann langjähriger Weggefährte – sucht sie immer wieder von der reinen Abstraktion zu überzeugen. Doch die Versuche in dieser Richtung bleiben Versuche. Auch im Stil der „neuen Sachlichkeit“ versucht sie sich und die Ergebnisse sind beeindruckend. Während des Nationalsozialismus lebt sie mit ihrem neuen Gefährten und späteren Ehemann Johannes Eichner ziemlich unbeobachtet und unbehelligt in Murnau. Unter seinem „Diktat“ sollen möglichst dem Geschmack der Nazis angepasste Bilder entstanden sein. Einige sieht man in der Ausstellung – das war nie ihr Stil. Versuche von Männern, wie Wassily Kandinsky oder Johannes Eichner – auf ihren Malstil Einfluss zu nehmen, werden von ihr nur mit Vorbehalt ausprobiert, um doch dann zu ihrem eigenen Stil zurückzukehren.

Ihre Bilder sind von einer Art „unbeschwerten“, fast „naiven“ Abstraktion und gerade deshalb, in dieser Mitte zwischen Realität und abstrakter Phantasie, heute noch viel ansprechender als je zuvor. In einer Zeit der Digitalisierung der Kunst, in der es entweder um Fake-Kunst oder um Darstellung einer Welt außerhalb des eigenen Denkens geht, tut es richtig gut, sich auf diese Bilder voller Farben-. Lebensfreude und Spiel mit der Realtiät einzulassen. Dass die reine Abstraktion ein Versuch war, zeigt das Bild rechts wohl deutlich.

Die Ausstellung ist noch bis 18. Februar 2024 zu sehen.

www.leopoldmuseum.org

Albertina modern: Herbert Böckl-Oskar Kokoschka – Eine Rivalität

„Die Ausstellung Herbert Boeckl – Oskar Kokoschka. Eine Rivalität zeigt zwei der bedeutendsten österreichischen Künstler des Expressionismus. Präsentiert werden mehr als 100 herausragende Arbeiten auf Papier, eine Auswahl aus den reichen Beständen der ALBERTINA.“ (Zitat aus Ausstellungstext)

Der Zusatztitel ist nicht ganz einsichtig. Rivalen waren die beiden Künstler nie, höchstens hatten ihre Werke manchmal zeitbedingte Ähnlichkeiten, aber nicht mehr. Beide sind in ihrer künstlerischen Veranlagung nur auf den ersten Blick ähnlich – und daher, wenn man so will Rivalen. Aber schon die Fotos beider und ihre Biografie machen deutlich, wie sehr ihre Entwicklung auseinandertriftet.

Kokoschka – ein Wilder, Unangepasster, einer dessen Bilder von den Nazis als entartete Kunst verboten wurden. Er emigriert und kehrt erst nach Ende des Zweiten WEltkriegs zurück. Böckl bleibt, er hat ja eine große Familie, tritt der NSDAP bei, verschweigt es, verliert kurzfristig seinen Posten an der Akademie der bildenden Künste in Wien, wird aber in den späteren Jahren ebenda Lehrer und Direktor. Als Lehrer war er – so die Erzählung meines Vaters, der in seiner Klasse war- unerbittlich. Eigenwilligkeit war nicht gefragt. Und so sehe ich in der Ausstellung Böckls Spuren in den Bildern meines (verstorbenen) Vaters.

Die Unterschiede zwischen Kokoschka könnten nicht größér sein.

Die Augen der beiden Porträts sagen viel über den Maler aus: Kokoschka zeichnet tiefliegende Augen, voller Verzweiflung oder zumindest Zweifel Böckl malt sich selbst als einen Glücklichen. Die Pinselstriche sind gelassen, unaufgeregt – ich habe im Atelier meines Vaters viele ähnlich ausgeführte Porträts gesehen: Ein ruhiger Hintergrund, oft im ähnlichen Braun, das Gesicht fest und klar.

www.albertina.at

Herbert Lackner, Als Schnitzler mit dem Kanzler stritt. Verlag Ueberreuter.

Eine politische Kulturgeschichte Österreichs

Im Kreuzungspunkt zwischen Politik und Kultur gab und gibt es Konflikte. Oft mit tödlichem Ausgang, natürlich für die Künstler, im besten Fall „nur“ Konfrontation. Herbert Lackners Interesse und schriftstellerischer Fokus liegt auf diesem Kreuzungspunkt. Mit akribischer Recherche deckt er Hintergründe und Auswirkungen auf. In dem Buch „Als die Nacht sich senkte“ schreibt er über die Anfänge, als Künstler , besonders jüdische, in der Zwischenkriegszeit mit Anfeindungen zu kämpfen hatten. Im zweiten Band „ Die Flucht der Dichter und Denker“schildert er die Schicksale der Künstler, die dem Naziregime entkamen. Wie ernüchternd für viele die Rückkehr nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in die Heimat war, beschreibt Lackner in dem Band „Rückkehr in die fremde Heimat“

Nun ist also der vierte Band erschienen: „Als Schnitzler mit dem Kanzler stritt“. Als Vollprofijournalist findet Lackner immer attraktive Titel, wie eben auch diesen. Das Streitgespräch fand 1928 im Kanzleramt statt. Ignaz Seipel hatte einige Künstler, darunter auch Arthur Schnitzler, zu einer Diskussion über die Verschärfung des „Schmutz- und Schundgesetzes“ eingeladen. Dabei kam es zu einem heftigen Streit zwischen Seipel und Schnitzler, in dem Schnitzler einem Politiker grundsätzlich die Urteilsfähigkeit über Kunst abspricht. Und genau diese Frage ist das grundlegende Thema des Buches. Lackner zeigt auf, wie sich Politik immer wieder der Kultur und der Frage, was als Kultur gelten darf, bemächtigt. Vor allem deckt Herbert Lackner Hintergründe auf, von denen man bisher nichts wußte, etwa wie viele ehemalige Nationalsozialisten es „sich richten konnten“ und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder politische Karriere machten.

Lackner spannt den Bogen von Schnitzlers „Reigen“ bis zum heftig angefeindeten „Heldenplatz“ von Thomas Bernhard und endet bei den heftig umstrittenenen Aktionen rund um „woke“ und „kulturelle Aneignung“. Die Gefahr, Kultur als Politikum zu missbrauchen, ist immer virulent. So gesehen, liest sich das Buch als Aufruf zur Wachsamkeit. Als Leser stellt man sich am Ende die heikle Frage, wo man sich selbst einordnet – als reaktionär? – Nur weil man vielleicht manches nicht gutheißen kann?! Gehört man zu den Rechten, den „ewig Gestrigen“, weil man Gendern und Regietheater lächerlich findet?

www.ueberreuter.at

Musikverein Wien: Andrè Schuen, Lieder von Schubert und Mahler

Am Klavier: Daniel Heide

Andrè Schuen ist auf dem internationalen Musikparkett längst kein Unbekannter mehr. 2023 sang er in der Wiener Oper und bei den Salzburger Festspielen in Mozarts „Le nozze di Figaro“ beide Male den Grafen Almaviva und jüngst war er als Schwanda, der Dudelsackpfeifer im Museumsquartier (Theater an der Wien) in einer wenig geglückten Inszenierung zu erleben. Man spürte ganz deutlich, dass ihm diese Rolle nicht behagte.

Strahlkraft und Sinnlichkeit seiner Stimme kommen am besten im Liedgesang zur Geltung. In der congenialen Begleitung des Pianisten Daniel Heide war er im Frühjahr im Konzerthaus mit seiner Interpretation der „Schönen Müllerin“ von Franz Schubert zu hören. Ein tiefes Erlebnis, das in Erinnerung bleibt.

Nun also am 16. Dezember im ausverkauften Brahmssaal des Musikvereins. Vom ersten Ton an lebt Schuen in der Musik, steigt tief in das Lied ein, lässt sich auf die existentielle Ebene ein, begleitet von dem sensiblen Pianisten Daniel Heide. Am Beginn standen die „Vier Lieder eines fahrenden Gesellen“. Darf man heutzutage noch den Begriff „Inbrunst“ verwenden? Egal – Schuèn sang sie mit Inbrunst, drang mit seinem vollen, weichen Bariton bis in die Tiefen der Existenz ein. Mit Mut zur Dramatik sang er das Universum Mahlers, besonders intensiv etwa das Lied „Ich hab`ein glühend Messer“ , bei dem sein Bariton tief in den Bass hineinreichte. Mt der Auswahl der Mahler- und Schubertlieder bewies Schuen das Gespür für die tiefe Tragik, die beide Liedkomponisten miteinander verband. Auch Querverweise und Übergänge von einem Komponisten zum anderen wurden deutlich.

Für Schubertlieder ist Schuens Vortragskunst ganz besonders ideal. Mit der sensiblen Klavierbegleitung Daniel Heides und seinem samtig-weichen Bariton gestaltetet er die Lieder zu einem Lebensbild des Komponisten, lässt vergebliche Hoffnungen und flüchtiges Liebesglück spürbar werden.

Ein großer, berührender Abend abseits des allgemeinen Musik- und Medienrummels!! Als Zugabe sang Schuen zuletzt ein ladinisches Volkslied aus seiner Heimat Südtirol. Langer, begeisterter Applaus!

www.andreschuen.com und www.musikverein.at

Volksoper Wien: „Lass uns die Welt vergessen“ Volksoper 1938

Ein Auftragswerk zum 125. Geburtstag der Volksoper Wien. Buch von Theu Boermans unter Verwendung der Operette „Gruss und Kuss aus der Wachau“ von Jara Benes, Hugo Wiener, Kurt Breuer und Fritz Löhner – Beda

Karen Kagarlitsky dirigiert die Originalmusik der Operette, sowie zusätzlich Musik von Arnold Schönberg, Viktor Ullmann, Gustav Mahler und eigene Kompositionen.

Selten noch hat eine öffentliche Institution so akribisch, ehrlich und aufwühlend die eigene NS-Vergangenheit beleuchtet. Dem Dreigespann Theu Boermans (Inszenierung), Bernhard Hammer (Bühnenbild) und Anjen Klerks (Video) gelang ein beeindruckendes Gesamtkunstwerk. Mit dem Spiel auf drei Ebenen, die der Probenarbeit zur Operette, zeitgleich mit dem politischen Geschehen „draußen“ und dem Einblick in die Privatatmosphäre aller Beteiligten entstand eine minutiöse Zusammenschau zeitgleicher Ereignisse, die einem manchmal den Atem verschlug.Wie oft hat man schon die Geschichte um den Einmarsch der Hitlertruppen, den Auftritt Hitlers auf dem Heldenplatz und die jubelnden Massen in kurzen Wochenschauausschnitten gesehen! Und wie oft schon davon gehört, gelesen. An diesem Abend jedoch wird man miteinbezogen. Man sieht Hitler am Heldenplatz, die jubelnde Menge und davor die Menschen, die in Furcht ihre Abreise vorbereiten. Starke Szenen wie die, in der die Witwe Bründl (Ulrike Steinsky) die Schönheit der Wachau besingt und sich der jüdische Souffleur Osip Rosental erhängt (beeindruckend Andrea Patton), wird man so schnell nicht vergessen. Während Österreich Schritt für Schritt seine Unabhängigkeit verliert – ebenfalls in Videos eingespielt-, deklariert sich die Hälfte des Volksopernensembles als begeisterte Nazis und übernimmt die Führung im Theater. Nun heißt es: Widerstand oder sich fügen. Wie entscheiden sich die einzelnen Mitglieder? Schnell heißt es : Kunst geht über Politik. Dass aus dem heiter-witzigen Operettenstück im Laufe der Proben unter Naziführung bald der größte Kitsch wird, kann man plastisch miterleben. Ein starkes Ende lässt das Publikum erstarren: Vorne spielen sie das ktischig-fröhliche Finale der Operette, im Hintergrund sehen die K-Insassen auf die unbekümmert – heitere Szenerie herab. Aus dem Off singt Hugo Wiener, der nach Bogotà fliehen konnte: „Im Prater blühen wieder die Bäume“. Der begeisterte Applaus galt den durch die Bank hervorragenden Leistungen der Schauspieler, vor allem aber dem Team der Inszenierung und der Dirigentin. Nicht unerwähnt bleiben soll die akribisch wissenschaftliche Aufarbeitung und Hilfe von Marie Theres Arnbom, Direktorin des Österreischischen Theatermuseums. Das ausgezeichnete Programmheft liefert viele zusätzliche Hintergrundinformationen zur Entstehung des Stückes und zu biografischen Details der an der Operette beteiligten Künstler. Und einmal mehr muss dankbar angemerkt werden: Es ist eine Aufführung frei von didaktischem Erziehungswillen.

www.volksoper.at

Jennifer Ackerman: Die geheime Welt der Vögel.

Untertitel: „Wie sie denken, spielen, sprechen und ihre Kinder erziehen. Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel.

Illustrationen von John Burgoyne

Jennifer Ackerman ist eine weltweit anerkannte Ornithologin. Sie erforscht die Welt der Vögel, ohne sie zu vermenschlichen oder zu verniedlichen. Ihre Forschungsergebnisse hat sie in mehreren Büchern veröffentlicht. In ihrem letzten Werk schreibt sie zwar darüber, wie „Vögel denken, spielen oder sprechen“, aber es folgen keine „lieben“ Geschichten, die man den Kindern am Abend vorliest, sondern faktenbasierte ERgebnisse langer und ausführlicher Beobachtungen. Bei jedem einzelnen Thema, zum Beispiel „Mobbing“ oder „Alarm“, bescheibt sie die für diese Aktion in Frage kommenden Vogelarten. So greifen zum Beispiel Krähen von oben an, Möwen sind besonders fies: sie bekoten ihren Gegner, bis dieser sich nicht mehr rühren kann. Alle Beobachtungen werden in wissenschaftlicher Sprache abgehandelt, aber immrt wieder mal durch witzige Neuigkeiten aus der Vogelwelt aufgelockert. Der Laie wird sich über diese Passagen freuen, der Kenner die wissenschaftlichen Informationen aufsaugen.

Eine ausführliche Literaturliste und ein abundantes Register sind bei der Suche nach spezifischen Themen sehr hilfreich.

www.ullstein.de

SCALA: „Play Strindberg“ von Friedrich Dürrenmatt nach dem „Totentanz“ von August Strindberg

Inszenierung: Babett Arens. Raum: Marcus Ganser. Kostüm: Sigrid Dreger. Musik: Alexander Lutz

In der bekannten großartigen Sicht auf sich und sein Werk meinte Friedrich Dürrenmatt, Strindberg sei ein Genie gewesen, aber heute „sei er literarisch total veraltet“ (Zitat Programmheft)., Also schrieb er den „Totentanz“ so um, dass „fast kein Strindbergsatz mehr übrig geblieben ist“ (Zitat Programmheft). Dem Ehekrieg nahm er die Tragik und formte ihn zu einer bitterbösen Komödie um. Gleichsam wie in einem Boxkampf gehen die Eheleute aufeinander los, schlagen sich gegenseitig knock out, kehren wieder in den Ring zurück. bereit für die nächste Runde.

Konsequent hat Marcus Ganser diese Idee vom Boxkampf umgesetzt und die Schauspieler in einem hohen Maschenkäfig agieren lassen. Jede Runde wird an- und abgepfiffen. Der Nachteil dieser Idee: sie nützt sich nach 6-7 Runden ab und zersägt den Fluss der Dramatik. Die Schauspieler holen aus diesem Konzept das Beste raus, was möglich ist. Allen voran Thomas Kamper als Ekel Edgar. Er hat ja schon in vielen Inszenierungen in der Scala reüssiert, unter anderem im „Tod eines Handlungsreisenden“ oder in der „Liebelei“. Als widerwärtiger Ehemann Edgar, der seine Frau herumkommandiert und sie zur unbezahlten Hausmagd degradiert, ist er richtig gut grauslich. Wie ein Stehaufmandl ist er nach einem kurzen Scheintod immer wieder da und triumphiert über sie. Er ist der verkörperte Philister und Heuchler, dem man als Zuschauer den baldigen Tod wünscht. Vanessa Payer Kumar hat es schwer, als Alice neben ihm sich zu behaupten. Sie ist eher eine elegante, leicht resignierende als widerliche Ehefrau. Ihre Stärke ist das Wort, das sie über ihn ausspeit, wenn er am Boden liegt: „Stirb endlich, aufs Gartenbeet mit dir!“ Aber er sirbt nicht und nicht. Am Ende triumphiert sie über ihn, füttert den Gelähmten, der nur mehr unverständliche Sprachbrocken ausspeien kann. Zwischen diese beiden Kampfhähne gerät der Besucher von draußen – Kurt. Alexander Lutz ist in dieser Rolle perfekt: Eleganter Hochtapler, Verführer, der aber im entscheidenden Moment die um ihn buhlende Alice abblitzen lässt und die Kampfhähne ihrem Schicksal überlässt. Außerdem rundet er mit seiner Musik das Geschehen ab.

Ob aus dem „Totentanz“ Strindbergs wirklich eine Komödie wurde, wie Dürrenmatt meinte, diese Frage mag jeder für sich beantworten. Eine Zuseherin hat sich offenbar wirklich amüsiert, ihr Lachen war nicht zu überhören. Die Orgie des Hasses wirkte eher schockierend.

Gespielt wird jeweils Dienstag bis Samstag um 19.45h vom 12.12. bis 22.12. 2023.

http://www.theaterzumfuerchten.at

Theater Akzent: The Tiger Lillies‘ Christmas Carol: A Victorian Gutter

Martyn Jacques: Erzähler, Akkordeon, Klavier. Adrian Stout: Scrooge, Bass, diverse Instrumente wie singende Säge, Budi Butentop: Percussion und Gesang

Die Geschichte vom Geizhals Scrooge und seiner Verwandlung in einen Menschenfreund hatte 2021 in London Première und war gleich ein Riesenerfolg. Ebenso im ausverkauften Theater Akzent. Das Bühnenbild war eine Mischung aus Marionettentheater und Cabaret und zauberte Weihnachtsstimmung mit Augenzwinkern in den Saal. Die drei Sänger erinnerten an Figuren aus Brechts „Dreigroschenoper“. Martyn Jacques als genialer Bänkelsänger erzählte die Geschichte, mal begleitete er sich am Klavier, mal mit dem Akkordeon. Mit beißendem Humor – so weit man den Text mitbekam – erzählte er von den hungernden Straßenkindern in London, von der menschlichen Kälte des Geizhalses, die erst schmilzt, wenn ihm Sterben in totaler Einsamkeit angedroht wird. Alles ohne didaktischen Unterton, die „Moral von der G´schicht“ war in pures musikalischens Vergnügen verpackt. Man schmunzelte, forschte aber zugleich in seinem Innersten nach, wie es da um die eigene Menschenfreundlichkeit steht.

Das Publikum dankte mit frenetischem Applaus und standing ovations. So manche einer – wie auch die Schreiberin dieser Zeilen – hätte sich Übertiteln gewünscht. Denn man konnte das meiste nur erraten, der feine, hinterlistige Humor der Gruppe blieb leider oft auf der Strecke.

http://www.akzent.at

Ilona Jerger, Lorenz. Piper Verlag

Konrad Lorenz entwarf mit seiner „Vergleichenden Verhaltensforschung“ ganz neue Sichtweisen auf die Welt der Tiere. Seine Vergleiche Tier-Mensch fanden nicht immer die Zustimmung in der Welt der Wissenschaft. Und seine Parteizugehörigkeit zur NSDAP hat er lange verschwiegen, was man ihm schon zu Lebzeiten übel nahm. Dennoch waren die Österreicher mächtig stolz auf ihn, als er 1973 den Nobelpreis erhielt.

Über ihn erschienen schon zu Lebzeiten viele Artikel, seine Bücher erregten Aufsehen. Nun hat sich Ilona Jerger mit dieser schillernden Persönlichkeit befasst und nach langen Recherchen eine interessante, humorvolle und immer spannend geschriebene Biografie vorgelegt. Wobei sie betont, keine reine Biografie verfasst zu haben, sondern eher eine Romanbiografie. So erlaubte sie sich Details einzuflechten, die vielleicht so hätten stattfinden können, für die es aber keine Beweise gab. Sie führt auch in Ichform eine Tierforscherin ein, die den Spuren ihres großen Vorbildes nachgeht. Dieser erzählerische Kapriole wäre allerdings nicht notwendig gewesen, sie verwirrt eher.

Konrad Lorenz‘ Leben (1903-1989) spiegelt die Geschichte des 20. Jahrhunderts wider.Nach seinem Medizinstudium widmet er sich als Privatgelehrter der Tierforschung und richtet 1926 auf dem Grund es elterlichen Anwesens in Altenberg bei Wien eine zoologische Forschungsstätte ein. Er beobachtet Gänse – die Gans Martina geht in die Geschichte ein -, Vögel, Hunde, eben alles, was um ihn herum kreucht und fleucht. Als er sich der nazionalsozialistischen Ideologie andienert, bekommt er einen Lehrstuhl in Königsberg. Doch bald wird er eingezogen, als Arzt an die Ostfront geschickt und von den Russen gefangen genommen. Doch auch in der Gefangenschaft setzt er seine Tierbeobachtungen fort. Dank seiner medizinischen Kentnisse kann er vielen Kameraden das Leben retten. Nach sechs Jahren Gefangenschaft wird er freigelassen und kehrt nach Altenberg zurück. Sein Ruhm als Forscher verbreitet sich, 1950 leitet er die Forschungsstelle für Vergleichende Verhaltensforschung, später wird er Direktor des Max-Planck-Institutes für Verhaltensphysiologie am Eßsee in Oberbayern. Mit steigendem Ruhm werden die Stimmen gegen ihn immer lauter, seine NS -Vergangenheit kommt ans Licht. Doch unbeirrt arbeitet Lorenz weiter, schreibt Bücher, engagiet sich im Umweltschutz – Hainburg. Er bleibt bis zu seinem Tod der berühmte Mann, der mit den Gänsen, Fischen und Vögeln sprach.

Ilona Jergers Buch ist keine trockene Biografie. Mit vielen interessanten und humorvollen Details gelingt es ihr, den Menschen Konrad Lorenz den Lesern nahe zu bringen. Dabei beschönigt sie nichts, zitiert aus Briefen und Vorträgen reichlich unangenehme Zitate, die Lorenz als glühenden Verfechter der Rasssentheorie ausweisen. Seitenhiebe und Details rund um das Hitlerregime verblüffen – etwa, die Tatsache, dass Hitler nicht einschlafen konnte. Erst wenn sein geliebter Schäferhund mit ihm einen Schlafgesang anstimmte, dann fand der Neurotiker einigermaßen Ruhe. Geschichten über den schrulligen Philosophen Heidegger, den Dichter Celan oder Willy Brandt beleuchten die politischen und kulturellen Entwicklugen..

„Lorenz“ von Ilona Jerger ist ein lebendig geschriebenes, interessantes Buch, ohne moralisierende Überlegungen. Die intensive Recherche macht sich nicht als lästiger Überhang breit, sondern wird geschickt in die Handlung eingebaut.

www.piper.de

Wiener Konzerthaus: Plattform K & K Vienna. Fatma Said: „A Sense of Mosaic“

K&K steht für Kirill Kobantschenko, den Primgeiger der Wiener Philharmoniker und Gründer der Plattform, die sich als „Hommage an die kaiserlich-königliche Musiktradition versteht“ (Zitat aus Programm). Kirill Kobantschenko: Violine, Petra Kovacic Violine, Michael Strasser Viola, Florian Egger, Violoncello, Bartosz Sikorsi Kontrabass, Christoph Eggner Klavier.

Fatma Said, geboren in Kairo, erhielt schon zahlreiche Auszeichnungen in der Kategorie Lied und ist auf dem Weg zu einer internationalen Karriere. In der Saison 2023/24 ist sie Porträtkünstlerin des Wiener Konzerthauses. Das Programm war voller Überraschungen. Die größte Überraschung aber war die junge Sängerin! Mit ihrem warmen Sopran, der in den Tiefen wie in den Höhen gleichermaßen rein und verführerisch klang, bezauberte Fatma Said sofort das Publikum.

Zum Auftakt gab es von Richard Strauss die Suite „Der Rosenkavalier“, bearbeitet von der Plattform K&K Vienna. Mit ungezähmter Spielfreude überschütteten die Musiker das Publikum mit den bekannten Motiven aus besagter Oper und gaben damit auch das Thema des Abends vor: heitere Melancholie. das Lebensgefühl um 1900. Fatma Said „sang sich ein “ mit Liedern von Brahms (Ophelia Lieder). Mit „Violons dans le soir“ von Camille Saint-Saens verführte sie das Publikum mit ihrem weichen Sopran, der bis ins Mezzo reicht. Mit ihrem romantisch – minimalistisch, fein ziselierenden Stil formte sie aus jedem Lied eine Miniatur-Kostbarkeit. Dies kam besonders stark in dem Lied des ägyptischen Komponisten Sherif Mohie El Din „Against whom?“ zur Geltung. Von Pianissimi steigerte sie sich zu klangvoller Dramatik. Im Lied „Les chemins de l‘amour" von Francis Poulenc erklangen die „chemins de l’amour“ wie hauchzarte Liebesversprechen. Zum Abschluss sang Fatma Said zwei Songs von George Gershwin: „Sommertime“ und „By Strauss“ und zeigte sich von der humorvollen Seite.

Die Musiker der K&K Plattform Vienna spielten mit vollem Steicherklang von Ottorino Respighi die Suite Nr.3, übten sich in einem Tango von Astor Piazzolla: „Invierno porteno“ – wobei man ein wenig das Bandoneon vermisste – und griffen in die volle Dramatik bei den 3 Stücken von Manuel de Falla „Introduccion“, „El sombrero de tres picos“ und „Danza ritual del fuego“.

Als Zugabe sang Fatma Said den bekannten Song „Somewhere over the Rainbow“ von Harold Arlen.

Man darf auf die nächsten Liederabende mit Fatma Said am 11. und 29. Jänner 2024 im Wiener Konzerthaus gespannt sein.

www.konzerthaus.at

Daniel Kehlmann, Lichtspiel. Rowohlt

Warum ausgerechnet ein Roman über G.W.Pabst? Er war ein Gigant der Stummfilmzeit, einer der ganz Großen, an den sich aber heute kaum jemand mehr erinnert – außer Kenner der Stummfilmzeit. Aber wenn Daniel Kehlmann diese Figur ins Zentrum eines 450 Seiten starken Romans stellt, dann hat er gute Gründe. Die zu entdecken ist für den Leser nicht immer einfach.

Die ersten 80 bis 100 Seiten wirken wie ein schnell hingeschriebenes Filmskript: Personen wechseln im raschen Schnitt, kaum erkennbar. Pabst in Hollywood: niemand kümmert sich mehr um den einst Großen Pabst, er ist frustriert und will nur eines: Filme machen, und zwar gute, herausragende. Längst sind seine Erfolgsfilme wie „Die freudlose Gasse“ (mit Greta Garbo und Wener Krauß, 1929 in Deutschland) vergessen. Ein alarmierender Brief seiner Mutter ruft ihn und seine Frau Trude 1939 von Hollywood nach Österreich zurück. Ab diesem Abschnitt beginnt der Roman Fahrt aufzunehmen, man glaubt zu verstehen, was Kehlmann in dieser Figur eines naiven, zum Bleiben gezwungenen „Rückkehrers“ aufzeigen wollte: Österreich hat sich dem Hitlerdeutschland angeschlossen. Der Nazionalsozialismus blüht und gedeiht. Im eigenen Haus (Schloss in der Steiermark) wird die Familie Pabst bespitzelt. Doch er scheint von der politischen Lage unbeeindruckt zu sein – er will nur Filme drehen- Und er lässt sich in als Galionsfigur vor das Hitlersche Propagandasystem spannen. An diesem Punkt bleibt Kehlmann der Figur einiges schuldig: Aus demr Drang, künstlerische Filme zu machen, scheint Pabst blind für die das politische Geschehen um ihn herum zu sein. Die Frage, ob Kunstauftrag oder der Wille, sich künstlerisch zu verwirklichen, die Kompromisse rechtfertigen. die ein unter den Nazis arbeitender Künstler eingehen muss, bleibt unbeantwortet, besser gesagt: unbewertet. Vielleicht stellt Kehlmann die Frage an den Protagonisten überhaupt nicht – aus dem einfachen Grund, keinen moralisierenden Roman schreiben zu wollen. Er überlässt das Urteil darüber dem Leser. Am Ende des Romans ist die Antwort nicht eindeutig klar. So viel Blindheit glaubt man der Hauptfigur – und daher dem Autor – nicht. Dennoch ist der Roman lesenswert, spannend geschrieben, wenn auch durch häufige Wechsel der Erzählperspektiven manchmal ärgerlich modisch.

www.rowohlt.de

Wiener Staatsballett an der Volksoper: „the moon wears a white shirt“ Drei Choreographien

Titelfoto: „Ligeti essays“ Ensemble

Drittes Klavierkonzert von Alfred Schnittke, Choreographie Martin Schläpfer. Musikalische Leitung aller drei Werke: Christoph Altstaedt

©Ashley Taylor. Mila Schmitt und Gabriele Aime

Fast könnte man sagen: Eine typische Schläpferchoreographie. Es sind die vertrauten Bewegungen mit neuer Musik und neuem Kontext: Mila Schmitt tanzt, wenn man so will, eine Frau auf der Suche nach Beziehungen, Begegnungen. Sie ist eine sensible Sucherin, tanzt wie eine Feder durch den Raum, schwerelos. Begegnungen können harmonisch sein, aber auch unerträglich – so steigt sie auf den Rücken ihres Partners, vorsichtig, aber besitzergreifend und stülpt ihm dann einen schwarzen Schleier über. Völlige Vereinnahmung? Alles ist nach vielen Richtungen deutbar: Kampf der Geschlechter, Annäherung, Abstoßung. Wundervoll getanzt von Mila Schmitt und Gabriele Aime und dem Ensemble der Volksoper.

Musik György Ligeti: „ligeti essays“. Choreographie: Karole Armitage. Gesang: Stephanie Maitland, Annelie Sophie Müller, Birgid Steinberger

©Ashley Taylor: ligeti essays. Ballettensemble Volksoper

Temperatur und Temperamentänderung nach der Pause. Karole Armitage ist eine aufmüpfige Choreographin, sie nennt sich auch gerne „Punkballerina“. Ihr Credo: Tanz in allen möglichen Erscheinungsformen. Eleganz ist gestern, Muskel und durchtrainierter Körper sind gefragt. Die Musikauswahl passt zu dieser temeramentvollen Lady: Ligeti vertonte ungarische Lieder, die ziemlich nach Da-Da klingen – der Text ist in deutscher Übersetzung im Programmheft nachzulesen. Lieder mit Pfeifen, Trommen und Schilfgeigen. Eines der Lieder ist nicht übersetzbar, andere beginnen etwa so: Kuli Stock schlägt Kuli geht geht etc. Der Anfang eines dieser Lieder lieferte auch den Titel des Ballettabends: Es tanzt der Mond im weißen Hemd. Stephanie Maitland, Annelie Sophie Müller und Birgit Steinberger sangen die Lieder im ungarischen Original, was noch einmal mehr zum Humor und Witz dieser Choreographie beitrug. Es tanzten mit Verve und Körpereinsatz, Witz und Humor: Tessa Magda,Olivia Poropat, Una Zubovic,Riccardo Franchi, Aleksandar Orlic, Francesco Scandroglio, Felipe Vieira. Schlagzeug und Blasinstrumente diversester Ausformungen kamen voll zum Einsatz. Fazit: Ligeti und Armitage sind eine congeniale Kombination!

„dandelion wine“ – Musik: Concerto für Violine und Orchester von Pietro Locatelli, Choreograpie: Paul Taylor.

©Ashley Taylor: Ballettensemble Volksoper

Mit der Übersetzung des Titels „Löwenzahnwein“ ist das Thema dieser Choreographie schon klar: Es geht um Frühling – daher die Kostüme von Santo Loquasto in Pastellfarben, der Hintergrund im strahlenen Blau. Die Tänzer werden zu Kinder, die spielerisch den Frühling begrüßen: Reigentanz, angedeuteter Cancan, alles frei und unbeschwert. Dazu geigt Vesna Stankovic virtuos auf. Der Gegensatz zur seelenschweren Choreographie Schläpfers ist sicher beabsichtigt.

Das Publikum bedankte sich nach jedem Stück mit begeistertem Applaus bei dem Tanzensemble, dem Dirigenten Christoph Altstaedt, Gesangsolisten und den Solisten des Orchesters. Ein gelungener Abend!

www.wiener-staatsballett.at/volksoper

Charles Lewinsky, Rauch und Schall. Diogenes

Ein literarisches Kleinod! Ein Tortenstück, das man gierig auf einen Sitz verschlingen möchte. Aber man weiß zu genießen und teilt sich die Stücke/Seiten ein. Nach 30, maximal 40 Seiten schlägt man das Buch zu, um am nächsten Tag auch noch in den Genuss dieser intelligenten Lektüre zu kommen. Und wenn man es zu Ende gelesen hat, dann ist man ein wenig traurig. Ein kluger, witziger Begleiter hat sich gerade verabschiedet.

Charles Lewinsky ist ein brillanter Erzähler. Wie ein Sprach-Gaukler schlüpft er in die Sprache der Goethe- und Weimarerzeit hinein, ohne alterzutümeln. Er kennt sich aus mit all den Hochwohlgeborenen und den nur Wohlgeborenen, die mit leeren Worthülsen, Eifersüchtelein und dummen Spielen den Tag verbringen. Lewinsky persifliert Sprache und Atmosphäre des Weimarer Hofes auf perfid-witzige Art. Goethe, der sehr Verehrte, bleibt da nicht ungeschoren. Im Gegenteil, auf ihn richtet Lewinsky sein ironisches Sprachlorgnon.

Der gute, allseits verehrte Goethe hat eine heftige Schreibhemmung. Um die zu beheben, ist er in die Schweiz gereist, um sich von der imposanten Berglandschaft inspirieren zu lassen. Aber leider bekam er von der anstrengenden Reise in den unbequemen Kutschen statt Inspirationen Furunkeln und Hämorrhoiden. So kehrt er mißmutig nach Weimar zurück. Christiane Vulpius, zu dieser Zeit (es muss wohl um 1779 gewesen sein, genaue Daten gibt Lewinsky nicht an, um nicht den Anschein einer Biografie zu erwecken) noch offiziell seine Haushälterin, inoffiziell seine Geliebte, bereitet ihm einen liebevollen Empfang. Sohn August ist etwa sieben Jahre alt.

Heimgekehrt zieht sich Goethe Tage um Tage in sein Schreibzimmer zurück, doch die Blätter bleiben leer. Christiane versucht alles – wirklich alles -, um ihn aufzuheitern, aber ohne Wirkung. Als ihn dann noch der Auftrag ereilt, für Herzogin Amaliens Geburtstag eine Weihespiel zu schreiben, beginnt sein Dilemma. Mehr sei hier nicht verraten. – Lesen und Genießen empfehle ich allen, die mit Goethe, Christiane Vulpius und Weimar ein wenig vertraut sind. An wem diese Zeit der klassischen Literatur vorbeigegangen ist, der wird sich schwer tun, die Anspielungen und die dahinter versteckte Ironie vollinhaltlich zu genießen.

www.diogenes.ch

Theater an der Wien im Museumsquartier: Schwanda, der Dudelsackpfeifer

Musik: Jaromir Weinberger, Libretto: Milos Kares, Deutsch von Max Brod. Musikalische Leitung: Peter Popelka. Inszenierung: Tobias Kratzer, Bühne und Kostüm: Rainer Sellmaier, Video: Jonas Dahl und Manuel Braun

Es ist schon ein Kreuz mit den verschiedenen Bearbeitungen des Librettos. Ursprünglich war Schwanda ein Dudelsackpfeifer aus den böhmischen Landen, der den Menschen mit seiner Musik Fröhlichkeit bescherte. Weinberger und Kares verknüpften diese Legende mit der Geschichte vom Räuber Babinsky und brachten die „Volksoper“ 1927 mit Erfolg zur Uraufführung. Das Werk sollte in Zeiten des aufkommenden Nationalismus auf die Werte der Tradition hinweisen. Max Brod übersetzte das Libretto nicht eins zu eins, sondern tilgte alle Anspielungen auf tschechische Tradition und machte aus Schwanda, dessen Frau Dorota und Babinsky eine Dreiecksbeziehung. Die jetzige Inszenierung leiht sich dazu noch Ideen aus Schnitzlers „Traumnovelle“, so dass das ganze Werk nun eine nicht immer gelungene Mischung aus vielen Motiven ist, die zu entschlüsseln das Publikum ohne Hilfe nicht imstande ist. Deshalb auch die lange und sehr ausführliche Einführung vor der Aufführung. Doch sollte Theater, Musik an sich nicht ohne Erklärungen funktionieren? Vielleicht hat man zu viel gewollt…

Es beginnt mit einer langen Ouvertüre, in der noch gar nichts passiert. Die Musik ist heftig und verspricht Dramatik, neue Horizonte. Doch dann öffnet sich der Vorhang und gibt den Blick auf eine stincknormale Wohnung mit breitem Bett frei. Dort arbeiten sich gerade Schwandas Frau Dorota und der böse (Räuber?) Babinsky in heftigen Kopulationen aneinander ab. Dann tritt Schwanda ein—und: wirft den Rivalen nicht hinaus, sondern lädt ihn auf eine Pizza ein. Gut, dass alle drei ganz fantastische Sänger und Schauspieler sind, so übersteht man diese skurrile Szenerie leichter. Da ist allen voran Andrè Schuen – er meistert die schwierige Aufgabe, einen tumben Tor, eine Art Parzival, den nichts berührt, darzustellen. Sein weicher, klangvoller Bariton passt bestens in diese Rollenschattierung, die er das ganze Stück über nicht verlieren wird. (Es ist anzunehmen, dass viele unter den Zuschauern – unter anderem auch ich – seinetwegen gekommen sind.) Pavel Breslik macht als Verführer nicht nur eine elegante Figur, sondern betört auch durch seinen vollen Tenorklang. Den Verführer nimmt man ihm ab, den bösen Räuber gar nicht. Am schwierigsten ist die Rolle der Dorota. Sie soll dem Charme Bablinskys erliegen und zugleich Schwanda ihre Liebe gestehen. Mit ihrem hellen Sopran, der durchaus auch in der Höhe sicher ist, gelingt Vera-Lotte Boecker das mühlos. Obwohl sie die meiste Zeit in einem Art Baby Doll auf der Bühne herumläuft, kann sie in dieser Rolle überzeugen. Dann wirds komisch-tragisch und ganz und gar unlogisch. Nach einer langen Videofahrt durch Wien – vorbei an Liebedienerinnen und Pratersensationen – landet Schwanda bei einer gefühlsmäßig eingefrorenen Lady (Ester Palù) – sie soll wohl an die unbekannte Schöne aus Schnitzlers „Traumnovelle“ erinnern. Ein wenig zu vordergründig und fast ungeschickt verführt sie den armen Schwanda – der eigenltich gar nicht will. Dann wird es ganz wild: Dem armen Schanda droht der Tod mit dem Schwert. Henker ist einer der Mönche in roter Kutte und Maske (Traumnovelle). Dorota stürzt herein, fleht um Schwandas Leben, nützt nichts, aber Babitzky ist der Erlöser. Ein Erlöser in die Hölle, wo geilster Sex angesagt ist – das Video lässt keine Wünsche an Deutlichkeit offen – aber auch da zaubert Babinsky Schwanda heraus. Ende gut? Noch nicht ganz -vorher gesteht Babinsky Dorota im trauten Schlafzimmer seine Liebe. Doch sie entscheidet sich für Schwanda.

Fazit: Flotte Musik, alles drin: Walzer, Volksmusik, schrille Neutönende, gut gespielt von den Wiener Symphonikern und temperamentvoll dirigiert. Etwas chaotische Handlung, aber das ist man ja bei Opern gewöhnt. Tolle Sänger!

www.theater-wien.at

Wiener Staatsoper: György Ligeti: Le Grand Macabre.

Text: Michael Meschke und György Ligeti nach Michel de Ghelderode

Musikalische Leitung Pablo Heras-Casado, Inszenierung und Bühne Jan Lauwers, Kostüme Lot Lemm, Choreographie Paul Blackman und Jan Lawers

Es passte alles zusammen: Direktor Bogdan Roscic hatte sich vertraglich verpflichtet, auch Klassiker des 20. Jahrhunderts zu spielen. Der 100. Geburtstag des Komponisten G. Ligeti war ein geeigneter Anlass, diese Pflicht zu erfüllen.. Mit „Le Grand Macabre“ hätte man keinen besseren Griff machen können. Ebenso wenig mit dem Winningteam Heras-Casado, Jan Lauwers, Lot Lemm und dem Choreographen Blackman gemeinsam mit Lawers. Allesamt erfahrene Theatermacher. Und so kam es, dass eine Oper des 20. Jahrhunderts ein Riesenerfolg wurde. Publikum und Kritiker waren begeistert – ein seltener Fall von Einmütigkeit.

Autohupen eröffnen den Abend und stimmen das Publikum auf Unerhörtes, noch nie Gehörtes und noch nie Gesehenes ein. Mit einem Bühenbild – Ausschnitte aus dem „Breughelland“ -, Tänzern in „Nacktkostümen“ hat man genug zu tun, alles zu erfassen – da wird gehüpft, gevögelt, geschlemmt, was das Zeug hält – alles aufgelöst in choreografische Kleinszenen, die nie auch nur die Spur von Ordinärem haben. Ein Kunststück sondergleichen. Wir sind in einem Schlaraffenland, wo alles erlaubt ist. Die Musik karikiert das Geschehen, nimmt dem Obszönen das Geile und formt es zu einer „Commedia dell`Arte“ um. Unterhaltsam wie die Musik sind die Einzelszenen: Da wird nicht angeklagt, nicht angespielt auf Aktuelles, sondern nur einfach das Leben in allen Facetten genossen – wie der Säufer Piet vom Fass ( sehr überzeugend Gerhard Siegel) verkündet. Wer nicht als Mann spurt – dem droht die Peitsche: Marina Prudenskaya ist eine urkomische Mescalina, fordert von ihrem Gespons Astradamus mehr sexuellen Einsatz – Wolfgang Bankl darf gehörig unter ihr leiden. Überhaupt ist Venus gefragt (toll in der Doppelrolle als Venus und Chef der Gepopo: Sarah Aristidou). Mitten in diesem heftigem Treiben taucht der allen unbekannte Nekrotzar auf – eine gesangliche und darstellerische Sonderleistung von Georg Nigl. Er stellt sich vor als der Tod! Durch den Sturz des Kometen sollen Erde und Menschen vernichtet werden – das hat schon bei Nestroy nicht geklappt, und heute noch weniger: Alle fürchten sich, jammern, aber – kein Tod, kein Komet, denn Nekrotzar hat sich zu Tode gesoffen – „consummatum.est“ – heißt es, als er verendet. Dass die Wiener den Tod durch Gesang und Wein vertreiben, das ist Standard. Was Ligeti daraus macht – ist einfach die Parodie auf die Parodie mal drei!! Eine ganz zwielichtige Rolle spielt der Pseudofürst Go-Go (eindrucksvoll der Countertenor Andrew Watts). Seine Herrschaft steht auf wackligen Papierbeinen, wie seine Krone auch.

Ein Wirrwarrbild, das sich immer wieder auflöst, neu bildet – das Publikum ist vollauf beschäftigt. Langeweile – keine Sekunde. Höchstens ein ganz kleines Bisschen nach dem Tod des Todes. Das wäre ein passender Schluss, doch es geht noch weiter. Denn man will ja zeigen, das man den Tod nicht fürchtet. Das allerdings hat das Publikum schon begiffen. Das altbekannte Wiener Motto leitet den Schluss ein: „Fürchtet den Tod nicht, irgendwann kommt er, doch nicht heut.“ und „Wir haben Durst, also leben wir“ singt Piet vom Fass. Wie zur Bestätigung, dass auch Sex und Erotik nicht vertrocknen, singen die beiden Verliebten Amanda und Amando (Maria Nazarowa und Isabel Signoret) von ihrem Liebesglück. Unter heftigem Geschmuse und einer furiosen musikalischen Feier des Lebens geht ein machtvoller Abend mit hintergründiger Musik und vielen ebensolchen Anspielungen zu Ende. Ein Extraapplaus galt dem Dirigenten Heras-Casado, der mit den Sängern mitatmete, die Musik nie über die Sänger triumphieren ließ.

www.wiener-staatsoper.at

Theater Scala: Ödön von Horvath, Figaro lässt sich scheiden

Regie und Bühne: Rüdiger Hentzschel, Kostüm: Anna Pollack

Horvath schrieb das Stück 1936-37, zu einer Zeit , als es politisch in Deutschland und Österreich drunter und drüber ging und der Nationalsozialismus sich rasch ausbreitete. Der Autor bedient sich des altbekannten Personals von Beaumarchais (Der tolle Tag oder Figaros Hochzeit) und Mozart (Le nozze di Figaro) und lässt Graf Almaviva, die Gräfin, Susanna und Figaro gemeinsam vor der Französischen (?) Revolution ins Ausland fliehen. Wie in einem Lehrstück von Bert Brecht werden die einzelnen Szenen einer Flucht und ihre Folgen im ersten Teil gezeigt: Die von Angst Getriebenen, die bestechlichen Grenzbeamten, das Ankommen und die Hilflosigkeit der Emigranten – dieser Begriff wird deutlich an- und ausgespielt -, die erste Orientierung im unbekanten Neuland. Jede Szene und die einzelnen Personen stellen eine für Flucht und Vertreibung allgemein gültige Aussage dar: Der Graf, der sich nicht mit dem Verlust seiner Stellung abfinden kann, die Gräfin, die aus Angst krank wird. Susanne, die aus Menschlichkeit hilft, Figaro, der sich mit seinem Mundwerk und seiner angeborenen Schlauheit durchschlägt, dabei aber sich von Susanne entfremdet. Sie alle wirken wie Versatzstücke, die mit minimalen Variationen typisch in jeder Geschichte über Flucht und Emigration vorkommen könnten.Um diese Szenen rasch aufeinander folgen zu lassen, entwarf Rüdiger Hentzschel eine kreisrunde Bühnenwand mit beweglichen Segmenten. So konnten Requisiten in Windeseile von den Schauspielern herein- und weggetragen werden. Der Effekt: Das Leben besteht aus Hetzjagd und Angst.

Im zweiten Teil werden die Schicksale individueller, der Gang der Handlung ruhiger und an einem Ort verhaftet: Alle – bis auf die inzwischen verstorbene Gräfin – treffen sich im Schloss des Grafen in ihrer alten Heimat wieder. Dort hat sich die Revolution breit gemacht: Aus dem Schloss wurde ein Kinderheim unter der Leitung des revolutionsgläubigen Pedrillo, ehemaliger Stallknecht des Grafen. Bald jedoch sind fast die alten Ordnungen wieder hergestellt: Figaro entmachtet den übereifrigen Revolutionär, der Graf bleibt Graf aber ohne Macht. Susanne verzeiht ihrem Figaro. Fazit: Die Revolution wurde humanisiert!

Warum dieses Stück selten bis gar nicht aufgeführt wurde, liegt wahrscheinlich an seiner etwas lehrhaften Trockenheit und dem unglaubwürdigen Schluss. Um so mehr gilt es zu bewundern, was der Regisseur Rüdiger Hentzschel und das spielfreudige und engagierte Ensemble daraus machten: Eine Komödie über menschliche Schwächen, Ängste und Machtspiele. Vor allem wurde jeglicher Anschein von „Demokratieerziehung“ vermieden, was die Zuschauer mit dankbarem Applaus quittierten. Wertfreies Theater, flott gespielt. Theater um Theater willen. Wer die Moral der Geschichte unbedingt finden will, der wird fündig, wird aber nicht direkt mit der Nase darauf gestoßen.

Es spielen: Dirk Warme, Monica Anna Cammerlander, Simon Brader, Lisa-Carolin Nemetz, Hendrik Winkler, Katharina Stadtmann, Stanislaus Dick, Ildiko Babos, Bernhardt Jammernegg, Christoph Prückner, Helfried Roll.

Vom 14. -30.11., jeweils Dienstag bis Samstag um 19.45h. Ab 9. Dezember 2023: „Play Strindberg“ (Strindberg-Dürrenmatt)

www.theaterzumfuerchten.at

Yavud Ekinci: Das ferne Dorf meiner Kindheit. Kunstmann Verlag

Aus dem Türkischen von Gerhard Meier

Yavud Ekinci ist ein engagierter türkischer Schriftsteller, der für die Rechte der Kurden vehement eintritt, was natürlich im Erdoganregime nicht unbeobachtet blieb. Zur Zeit lebt er in Deutschland. Sein Roman „Das ferne Dorf meiner Kindheit“ hat einen biografischen Hintergrund. Die Handlung umspannt fast ein Jahrhundert.

Im ersten Teil schildert er aus der Sicht des Kindes Rüstem das Aufwachsen in einem kurdischen Dorf irgendwo in den anatolischen Bergen. Seine kindliche Welt scheint zunächst unbedroht: Murmelspiele, die ersten verliebten Blicke auf ein Mädchen. Doch bald trübt sich die heitere Kindheit ein – drohende Wolken ziehen auf: In der Schule wird bei Prügelstrafe verboten, Kurdisch zu reden. Sein älterer Bruder hat sich einer Widerstandsgruppe angeschlossen und wird von den Soldaten gesucht. Das Haus, in dem Rüstem mit seinen Großeltern und dem Vater wohnt – seine Mutter ist schon lange tot – wird von den Soldaten durchwühlt. Als der geliebte Großvater stirbt und alle Häuser des Dorfes von den Soldaten in Brand gesetzt werden, geht seine Kindheit jäh zu Ende.

Im zweiten Teil ist Rüstem ein junger Mann. Er besucht die kranke Großmutter im Spital in der Stadt. Dabei erzählt sie ihm aus ihrer Vergangenheit: Sie ist Armenierin, die durch Zwangsheirat vor dem Genozid „gerettet“ wurde. Ihren ersten Ehemann, den sie sehr geliebt hatte und mit dem sie nur 6 Monate verheiratet war, fand sie als von den Soldaten übel zugerichteten Leichnam. Nun ist es ihr einziger Wunsch, neben ihm begraben zu werden. Rüstem lädt gemeinsam mit seinem Vater den Sarg mit der Leiche seiner Großmutter auf einen Traktor. Sie fahren los, um sie an dem von ihr gewünschten Ort zu begraben. Doch sie werden von Soldaten aufgehalten, der Sarg wird zertrümmert, die Leiche mit Schüssen durchbohrt. Die beiden verbringen eine grauenvolle Nacht in einer engen Gefängniszelle gemeinsam mit der schon stinkenden und von Maden angefressenen Leiche. Am nächsten Morgen werden sie zwar freigelassen, aber die Leiche darf nicht begraben werden. Der Vater Rüstems sperrt sich mit ihr in seinem Zimmer ein und erhängt sich.

Yavud Ekinzi meinte in einem Interview, Literatur müsse immer politisch sein, grausam und hart. Aber ehrlich: Zu viel der sehr detaillierten Schilderungen diverser Leichen tut dem Roman nicht gut – angeekelt liest man darüber hinweg und ist fast erleichtert, als man am Ende angekommen ist. Die Bereitschaft, über das Schicksal der Kurden und der Armenier mehr zu erfahren, nimmt mit zunehmender Seitenanzahl ab.

www.kunstmann.de

Grafenegg stellt Saisonprogramm 2024 vor

Die Sommersaison in Grafenegg findet 2024 vom 20. Juli bis 8. September statt. Die Neuigkeit: Die Reitschule wird erweitert und 2026 unter dem neuen Namen Rudolf Buchbinder Saal“ eröffnet. Die traurige Nachricht: Yutaka Sado wird heuer zum letzten Mal die Festival-Eröffnung (16. August) dirigieren. Am Programm: George Gershwin und Arnold Schönberg. Er verlässt mit 2024 die Tonkünstler. Ihm folgt Fabien Gabel, der am 23. August das Abendkonzert dirigieren wird. Composer in Residence wird Enno Poppe sein. Er wird am 28. August sein neues Werk „Strom“ dirigieren.

Für Gäste, die Übernachtungsmöglichkeiten suchen, werden neben den schon bestehenden Hotels neu B&B in den umliegenden Kellergassen angeboten.

Das ganze Programm im Detail: www.granegg.com

Niccolò Ammaniti: Ich habe keine Angst. Eisele Verlag

Aus dem Italienischen sehr feinfühlig übersetzt von Ulrich Hartmann

Ammaniti ist Fans der italienischen Literatur längst ein Begriff.“Io non ho paura“ ist eines seiner frühen Bücher, das er wahrscheinlich in den späten 90ern schrieb. 2001 erschien es bei Mondadori und nun also in deutscher Fassung („Ich habe keine Angst“) im Eisele-Verlag.

Ein vier Häuser-Seelendorf , irgendwo im Süden Italiens, es könnte in der Toscana oder Apulien liegen. Aber die von Weizen bedeckten goldgelben Hügel lassen eher Sizilien vermuten. Auch die übergroße Armut, von der Ammaniti immer wieder spricht.

Ammaniti erzählt in der Ichform aus der Sicht des 9-jährigen Michele. Später erfährt man, dass es die Sicht und Erinnerung des Erzählers ist, der sich hin und wieder einschaltet. Was sofort beim ersten Lesen auffällt: Ammaniti schreibt aus der Seele des Kindes. In einer authentischen Sprache erleben wir die Zweifel, Ängste und Gewissensbisse des Buben. Ganz ohne Verkindlichung. Im Gegenteil – die Welt in dem Dorf ist hart. Hart die Erziehungsmethoden – die Mutter versohlt Michele ganz ordentlich, effektiver als ein Mann. Zugleich aber liebt sie ihn und verteidigt ihn mit Tritten und Fausthieben gegen jegliche Angriffe. Den Vater liebt Michele vielleicht noch mehr, wohl weil er nicht allzu oft zu Hause ist. Kehrt er von seinen langen Fahrten mit dem Lastwagen zurück, wird er stürmisch begrüßt, besonders von Maria, der um fünf Jahre jüngeren Schwester.

Obwohl Michele sich oft über sie ärgert, weil sie ihm wie ein Hündchen überall nachfolgt, beschützt er sie dennoch. So beginnt der Roman: Michele sorgt sich um Maria, als sie ihm irgendein Wehwechen vorjammert. Obwohl er weiß, dass sie nur Theater macht, klinkt er sich aus dem Spiel mit seinen Freunden aus, verliert auch den ersten Platz im Radwettfahren. Als Barbara, ebenfalls eine nicht gewollte Mitgespielin, vom Anführer Totenkopf dazu verurteilt wird, ihre Hose runterzulassen und ihre Vagina zu zeigen, macht Michele sich erbötig, an Stelle Barbaras die ausgedachte Strafe auf sich zu nehmen: Er muss auf den Hügel hinauf und in das verfallene Haus hineinklettern, in dem er und keiner von den Freunden noch je waren. Dabei fällt er in ein Erdloch, wo er einen zum Skelett abgemagerten Buben findet. Erschrocken will er fliehen, doch dann merkt er, dass das Skelett lebt, und schon regt sich in ihm sein Mitgefühl. Er verspricht ihm zu helfen.

Warum ich darüber so ausführlich schreibe? Weil schon in den ersten Seiten der Charakter Micheles klar wird: Gerechtigkeitssinn und Mitgefühl für andere sind stark ausgeprägt. Das Ende des spannenden Romans ist spiegelbildich zum Anfang komponiert: Er wird unter hohem Risiko diesen Jungen vor dem Tod retten.

Wunderbar baut Ammaniti die Handlung in die Landschaft und das Wettergeschehen ein. „Alles war mit Korn bedeckt. Die niedrigen Hügel folgten aufeinander wie Wellen eines goldenen Ozeans. Bis zum Horizont nur Korn, Himmel, Grillen, Sonne und Hitze.“ (S 10) Das ist nicht die Sprache des Kindes, sondern die des Erzählers, der sich erinnert. Wie die beiden Sprachebenen fast unmerklich ineinander fließen, das ist große Sprachkunst. Die alles verbrennende Sonne raubt den Erwachsenen den Verstand, die Armut treibt sie in das Verbrechen – die Bewohner des Dorfes werden zu Entführern, um von den Eltern Lösegeld zu erpressen. Als die Sonne alle in die Häuser treibt, legt sich bleierne Stille über das Dorf. Doch ein Gewitter entlädt die Spannung – die Bewohner beschließen den im Loch gefangen gehaltenen Buben zu töten, weil die Aussicht auf Lösegeld gleich null ist.

Anfang der 70er bis in die 90er Jahre wurden in Italien Kinder reicher Eltern, namhafter Politiker gestohlen, um Geld zu erpressen. Diese Verbrechen gingen nicht immer zu Lasten der Brigate Rosse, sondern geschahen oft aus bitterster Armut heraus. Sardinien war damals trauriger Vorreiter in Sachen Entführung. Wohl aus diesen Erinnerungen heraus schrieb Ammaniti diesen Roman.

www.eisele-verlag.de

Theater in der Josefstadt: Frank Wedekind: Lulu

Elmar Goerden ist so etwas wie ein Hausregisseur im Theater in der Josefstadt. Man sah von ihm gute Inszenierungen, wie etwa „Kafka“, „Die Verdammten“ Radetzkymarsch“ oder auch „Die Ziege“. Doch manche gingen völlig daneben wie „Rosmersholm“, „Medea“ oder jüngst erst „Sommergäste“, wo er Joseph Lorenz zu einem stummen, spuckenden Geist degradierte.

Nun also inszenierte er „Lulu“. Im Untertitel steht: IN EINER BEARBEITUNG VON ELMAR GOERDEN. Eine Warnung für viele Theaterliebhaber! Oftmals ist der ursprüngliche Text nur ein Handout des Regisseurs, damit er seine oftmals cruden Ideen umsetzen kann. Was auch hier der Fall ist.

Um diese – die cruden Ideen -zu verstehen, ist es ratsam, eine Stunde vor Beginn in Ruhe das PROGRAMM durchzulesen. Dann ist man den wirren Einschüben nicht ganz so hilflos ausgeliefert. In einem Gespräch mit der Dramaturgin Jacqueline Benedikt äußert sich Goerden über seine Regiearbeit. Zusammegefasst meint er, das Stück könne heute so nicht mehr gespielt werden. Im Gespräch mit den Schauspielern sei ihm dies klar geworden. Und er fand, diese Gespräche seien erhellender als das Stück selbst. Deshalb habe er sie als „zweite Ebene“ in das Stück eingefügt. Den ursprünglichen Text Wedekinds verbannt er diskret in eine Ecke der Bühne, wo er unter Glassturz auf einer Säule wie ein Museumsstück aufgebahrt liegt! Hin und wieder weisen die Schauspieler auf Wedekinds Drama wie auf etwas ganz und gar Nebensächliches hin. Dem Publikum bleibt es überlassen zu entscheiden, was ist Wedekind, was Goerden. Keine leichte Aufgabe. Und im Endeffekt ziemlich langweilig und langwierig (fast 2 Stunden ohne Pause).

DIE BÜHNE (Ulf Stengl) besteht aus graublauene Schlangen, die an eine Arbeit aus einer digitalen Werkstatt erinnern. Wer mit dem Drama Wedekinds nicht vertraut ist, fängt damit nichts an. Die Schlangenlinien sollen wohl eine Anspielung an das Tier, die Schlange sein, als die der Autor im „Prolog zum Erdgeist“ Lulu auftreten lässt. Also Verführung und zugleich auch Verführte, wie ein von den Männern ihr zugedachter Name lautet: Eva.

Gleich zu Beginn tritt ein Schauspieler (Joseph Lorenz) an die Rampe und fordert den Regisseur auf, sich an den Text Wedekinds zu halten. Da könnte man noch an eine Satire auf das Regietheater denken. Aber weit gefehlt: Wedekind wird zum Museumstext degradiert, die Personen kommentieren, spielen – Goerden. Dank der guten Schauspielerriege, die der Nährboden der Josefstadt ist, gelingen einige Szenen recht gut, sind von eigenwilliger Komik.

JOHANNA MAHAFFY ist Lulu ohne großes Verführungspotential, eher eine Widerständlerin. Zerstörerin. Und das mit allen Mitteln – sie manipuliert alle, ist doch immer Opfer. Aber sie berührt nicht. Vielleicht will das weder sie noch der Regisseur.

JOSEPH LORENZ überzeugt als Dr. Schön – ein Eiskalter, der glaubt, die Fäden in der Hand zu haben. Aber er glaubt eben nur. Als Chevalier Casti-Piani gibt er dieser schillernden Figur Facetten.

MICHAEL KÖNIG ist vielseitig gefordert – als spießbürgerlicher Ehemann Dr. Goll, als schmieriger Schigolch und als angeberischer Rodrigo. Seine komödiantische Ader lockert das Stück angenehm auf.

MARTIN NIEDERMAIR muss sich mit den unangenehmsten Rollen herumschlagen: Als verliebter Maler Schwarz, großartig als Alwa Schön und belanglos als Dr. Hilti.

Großartig SUSA MEYER als Gräfin Geschwitz. Diese Rolle kann leicht peinlich werden. Sie entgeht dieser Gefahr und spielt die in Lulu verliebte Lesbierin trocken, ganz ohne Pathos.

Dank des großartigen Schauspielerensembles war der Abend erträglich. Freundlicher Applaus und unfreundliche Kommentare nach dem – von allen ersehnten – Ende.

www.josefstadt.org

Serena Dandini, Die Frau in Hitlers Badewanne

Aus dem Italienischen von Franziska Kristen. btb

Was für eine vertane Chance! Eine interessante Frau mit einem aufregenden Leben hätte eine tolle Biografie oder einen ebensolchen Roman verdient. Aber das Buch ist weder noch. Durch Zeitsprünge und langweilige Anhäufungen von Namen, von denen bis auf Man Ray, Picasso, Breton und Max Ernst die anderen ziemlich unbekannt sind, verliert das Buch an Spannung. Außerdem spricht mitten im Text die Autorin über ihre Gefühle, wenn sie die Fotos ihrer Protagonistin ansieht. Was völlig deplaziert wirkt und ebenfalls den Lesefluss stört. Wenn sie die Protagonistin immer mit dem Attribut „die schönste Frau der Welt“ oder Ähnlichem versieht, so wirkt das aufgesetzt und ein wenig einfältig. Warum gibt es kein einziges Foto von Lee Miller? Eine Biografie über eine Fotografin ohne Fotos!?

Lee Miller ist die Frau in Hitllers Badewanne. Auf dem Cover ist eine Frau zu sehen, die in einer Badewanne sitzt und sich dabei selbst fotografiert. Sie ist auf ihrer Fotorecherche durch die Gräuel des Nachkriegsdeutschland und der Konzentrationslager am Ende in der Wohnung Hitlers gelandet und fragt sich entsetzt und verstört, wie so ein Monster so bieder wohnen konnte. Wie um den Mythos Hitler zu zerstören, lässt sie sich in seiner Badewanne nackt fotografieren.

Der Roman/ die Biografie beginnt mit dieser Szene. Dann springt die Autorin in die Kindheit Lees zurück. Elizabeth „Lee“ Miller wurde 1907 in Poughkeepsie , USA geboren. Früh schon lernte sie für ihren Vater als Fotomodell zu posieren. Sehr jung wurde sie zu einem best bezahlten Fotomodell der Vogue. Sie genießt das Party- und flirrende Liebesleben, wechselt ihre Liebhaber, langweilt sich rasch, beschließt die Seite zu wechseln: Sie reist nach Paris und wird zunächst Assistentin, dann Partnerin und Liebhaberin von Man Rey. Von ihm lernt sie die Kunst der Fotografie. Wechselt Liebhaber ohne mit der Wimper zu zucken, heiratet einen reichen Ägypter, bei dem sie sich auch sehr bald langweilt. Wieder in Paris bewegt sie sich im Surrealistenkreis um Breton und fotografiert die Künstlerszene. Im 2. Weltkrieg ist sie eine der wenigen weiblichen Kriegsberichterstatterinnen. Man gewinnt mehr und mehr den Eindruck, dass Lee Miller ihr Leben verbrennt. Aus Langeweile. Die jedoch schlagartig nach den entsetzlichen Eindrücken in Dachau in tiefe Depressionen umschlägt. Ihre letzten Lebensjahre verbringt sie in England, heiratet Roland Penrose, bekommt einen Sohn. All dies lässt sie aber im Inneren kalt. „Der Schritt von der atemberaubenden, schönen Muse zur armen, alten Irre ist nicht allzugroß“ konstatiert die Autorin (S255) Lee Miller -Penrose stirbt 1977 an Krebs. Verhärmt und in tiefer Depression.

www.penguin.de/btb-Verlag

Daniel Gascón, Der Hipster von der traurigen Gestalt.

Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Verlag Antje Kunstmann

Enrique ist ein politischer Naivling. In Madrid zieht er gegen alle und alles, politisch links oder rechts los. Aber irgendwann hat er von all dem Gerede die Nase voll und zieht aufs Land, ins Dorf Canada in der Provinz Teruel. Er will, weil er brav das Buch von Molino, Das leere Spanien studiert hat, das Dorf wieder beleben. Der Hahn kräht, Kirchenglocken,Traktor und Motorpflug sind für ihn Musik der ländlichen Idylle. Seine Tante, die ihn wegen seiner für sie meist unverständlichen Rhetorik bewundert, melkt für das verwöhnte Stadtbubi, der natürlich kein Fleisch isst, täglich das Schaf. Denn Enrique trinkt nur Schafsmilch. Er fühlt sich rundum wohl und beschließt bald, den hinterwäldlerischen Bewohnern auf die Sprünge in die moderne Welt zu helfen. So gründet er unter anderem einen Workshop zur neuen Männlichkeit, zu dem allerdings alle Männer fernbleiben. Nur seine Tante und deren Freundin sind anwesend. Ein glatter Erfolg für Enrique! Ohne dass er es merkt, hebeln die Dorfbewohner ohne Bosheit , einfach, weil es sich so ergibt, all seine Bemühungen aus. Ja, mehr noch, er wird bald einer von Ihnen. Die Rettung des leeren Spaniens wird auf später verschoben. Als er dann noch zum Bürgermeister gewählt wird, ändert er zwar nichts im Dorf, seine hochfliegenden Pläne formuliert er weiterhin in der absurden Sprache der verdrehten Welt. Dennoch geht im Dorf was weiter, – ein Filmcrew meldet sich an. Bald geht es drunter und drüber und man weiß als Leser nicht mehr so recht, wer außer Enrique noch Don Quijote ist. Es scheint, dass der Don-Quijotismus per se erfolgreich ist.

Ein Schelmenroman, in dem alle Ideen unserer Gegenwart, wie Nachhaltigkeit, Klimawandel, Feminismus und vieles mehr, mit viel Humor und geistreicher Ironie ad absurdum geführt werden.

www.kunstmann.de

Konzerthaus: Cleveland Orchestra, Simon Keenlyside, Franz Welser-Möst: Gustav Mahler, Lieder und 7. Symphonie

Sechs ausgewählte Lieder, Bearbeitung für Bariton und Orchester von Luciano Berio, interpretiert von Simon Keenlyside

Gustav Mahler wurde in dieser Woche hoch gefeiert: Die Tonkünstler spielten unter Yudaka Sado im Festspielhaus St. Pölten und im Musikverein die 6. Symphonie (s. den Beitrag dazu auf dieser Webseite).

Und nun also Gustav Mahler im Konzerthaus. Im ersten Teil faszinierte Simon Keenlyside als Liedinterpret. Die von Luciano Berio bearbeitete Fassung der 7 ausgewählten Lieder ist keine Neuinterpretation, sondern eine stärkere Betonung der expressionistischen Elemente . Für den Sänger keine leichte Aufgabe. Simon Keenlyside ist bekannt, dass er Lied oder Arie mit exzellenter Wortdeutichkeit und völlig akzentfrei singt, dabei spiegelt sich der Sinn des Liedes in seiner Körpersprache, Gestik und Mimik ebenso wider wie in seinem Gesang. Die 7 ausgewählten Lieder stammen aus der von Achim von Arnim und Clemens Brentano zusammengestellten Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“, von denen Mahler 24 vertonte. Sieben interpretierte Keenlyside an diesem Abend. Leicht und spielerisch brachte er die ersten beiden Lieder „Frühlingsmorgen“ und „Ablösung vom Sommer“ vor, die Tragik des Soldatenlebens in „Revelge“ lag dem Bariton besonders gut. Doch auch die feine, zarte Romantik im „Urlicht“, in dem bekannte Melodien, die für Mahler so markant sind, zitiert werden. Begeistern konnte er auch in den letzten beiden Liedern „Rheinlegendchen“ und „Hans und Grete“, die er mit dem für das Volkslied typischen Humor vorbrachte. Welser-Möst leitete das Cleveland Orchestra mit feiner Zurückhaltung. Für die ausgezeichnete Interpretation gab es ausführlichen Beifall.

Gustav Mahler, 7. Symphonie

Nach der Pause war es vorbei mit Zurückhaltung. Der volle Einsatz vom Orchester und Dirigenten war verlangt. Und Welser-Möst schonte weder sich noch das Orchester. Ähnlich wie in der 6. Symphonie komponierte Mahler die Untergangsstimmung dieser Zeit, nur legte er die Themen noch collagenhafter an. Die zu entwirren und zu einem klanglichen Ganzen zusammenzuführen, war die grandiose Misterleistung des Dirigenten und des Orchesters. Wie schon in der 6. verwendete Mahler auch in der 7. Herdenglocken, dazu noch Mandoline und Gitarre. Die Vielfalt der Themen zu strukturieren und in präziser Form zu spielen, die Steigerung und Spannung bis zum furiosen und nihilistischen Ende durchzuhalten, gelang Orchester und Dirigenten bis zum tosenden und tobenden Schluss.

Der Schlussapplaus brach orkanartig los und endete in standing ovations.

Anzumerken ist noch: Welser-Möst, der ja krankheitshalber alle Operntermine absagte, versprach alle Termine im Zyklus „Welser-Möst im Konzerthaus“ einzuhalten.

www.konzerthaus.at

Festspielhaus St. Pölten: Gustav Mahler, Symphonie Nr.6. Judaka Sado dirigiert die Tonkünstler.

Wenn Judaka Sado die Tonkünstler dirigiert, dann weiß man am Ende, Mahler noch nie so aufregend gehört zu haben.

Gustav Mahler gab der 6. Symphonie den Beinamen „Tragische“. Er komponierte sie im Sommer 1903/04, als die tragischen Ereignisse seines Lebens noch in der Ferne lagen. Es war wohl eine Art prophetische Ahnung, die allgemein herrschende Untergangsstimmung dürfte er gespürt haben. Als er 1906 die Uraufführung dirigierte, war das Publikum begeistert, die Kritiker weniger. Sie fassten ihr Urteil mit der Frage zusammen: Wozu der Lärm? (Zitat Ute van der Sanden, die vor Beginn die Einführung hielt)

Judaka Sado ist ein Dirigent, der aus dem „Lärm“ wundervolle Strukturen entstehen lässt. Gebannt hört man ihm zu, bewundert seinen körperlichen Totaleinsatz. Er ziseliert die Strukturen, lenkt die 112 Musiker mit Feingespür durch diese gewaltige Komposition. Anders als so manch selbstverliebter Dirigent, stellt er sich ganz in den Dienst des Komponisten, erarbeitet die musikalische Architektur dieses Monumentalwerkes klar heraus.

Im ersten Satz ertönt die von Mahler so gern eingesetzte Marschmusik, begleitet von einem schwungvollen Seitenthema und dem Klang der Herdenglocken, die für Mahler „Symbol für extremste Weltferne, Entrücktheit und Nähe zu Gott“ (Programmheft) sind. Sado führt die Musiker markig und draufgängerisch durch diesen 1. Satz bis zum pompösen Schluss. Spannung pur. Langeweile kommt keine Sekunde auf, schon gar nicht im nachfolgenden Scherzo. Hier arbeitet Sado die ironische Komponente deutlich heraus: betulich, „altväterisch“ – so Mahlers Angabe. Man darf schmunzeln. Überirdisch fein dirigiert er die Musiker durch das Andante. Man versinkt in der Romantik und möchte daraus nicht aufwachen. (Die Schwärmerei sei entschuldigt, aber so war es!). Im Finale glaubt man sich in die Filmmusik eines Thrillers versetzt: Das Unheil schleicht sich an, droht immer heftiger. Zwei Hammerschläge (ein riesiger Holzhammer wird auf eine Holzkiste gedonnert, genau nach Anweisung des Komponisten) verkünden das Unausweichliche, die Zerstörung triumphiert mit einem letzten Hammerschlag. Auch wenn aus der Ferne die Glocken erklingen – die Hoffnung hat keine Chance.

Als sich Yutako Sado vor dem begeisterten Publikum verbeugt, sieht man in seinem Gesicht die Spüren der Anspannung und Erschöpfung. Er schenkt sich und seinen Musikern nichts, verlangt das Äußerste. Das macht diesen Dirigenten zu einem der besten Mahlerinterpreten.

www.festspielhaus.at

Erika Schellenberger: Alles behalten für immer – Ruth Rilke. Verlag Ebersbach & Simon

Der Titel ist ein Zitat aus Rilkes neunter Elegie

Erika Schellenberg hat viel recherchiert, um Ruth Rilke, die Tochter des hochverehrten Dichters Rilke, zu Ehren kommen zu lassen. Sie hat es auch verdient. Denn bisher stand Ruth Rilke immer im übergroßen Schatten ihres Vaters. Wenige wussten überhaupt, dass Rilke eine Tochter hatte.

Rilke heiratete 1901 die Bildhauerin Clara Westhoff, die er im Jahre im Künstlerdorf Worpswede kennengelernt hatte. Ruth wurde im Dezember 1901 geboren. Aber schon bald verließ Rilke Ehefrau und Tochter, weil es ihn in der Welt herumtrieb. Der Kontakt zu seiner Familie blieb jedoch aufrecht. Immer wieder besuchte er Clara und Ruth, die nur wenige, aber ihr sehr kostbare Erinnerungen an ihren Vater hatte.

Das Archiv zu bewahren und zu ordnen wird Ruths Lebensaufgabe. Außerdem betreibt sie die Herausgabe der Rilkewerke in dem renommieren Inselverlag. Sie heiratet nach dem Tod ihres ersten Mannes Willy Fritzsche, der ihr bei der Renovierung des ehemaligen Atelierhauses ihrer Mutter hilft. Ruth wird sich bis zu ihrem Tod 1972 mit dem Nachlass ihres Vaters beschäftigen.

Dass die Autorin fleißig recherchiert hat, steht außer Zweifel. Leider erschweren Zeitsprünge den Lesefluss. Eine „klassische“ Biografie, die sich an den Lebensablauf hält, wäre erhellender gewesen!

www.ebersbach-simon.de

Volksoper Wien: Anatevka (Fiddler on the Roof)

Musik: Joseph Stein, Musik: Jerry Bock, Gesangstexte: Sheldon Hornick. Nach der Geschichte von Sholem Alejchem

Gute Musik und ein gescheites Buch sind alterslos. Dieses Musical ist seit der Uraufführung von 1964 in New York um kein Bisschen gealtert. Im Gegenteil – heute mehr denn je aktuell.

Unter der musikalischen Leitung von Freddie Tapner spielte das Bühnenorchester der Wiener Staatsoper mit so viel Freude und Verve, dass man Mühe hatte, nicht vom Sessel aufzuspringen und mitzutanzen! Dazu ein Bühnenbild (Mathias Fischer-Dieskau), das das Publikum direkt in ein altes Dorf irgendwo in den Tiefen Russlands hineinversetzt: Häuser, die eher klapprigen Hütten gleichen, ein Straßendorf, das bis in den Horizont verläuft, wo sich ein wolkenverhangener Himmel öffnet. Manchmal scheint ein tröstliches Morgenrot das Dorf zu erhellen, manchmal ist dieses Rot ein Flammenzeichen der Gefahr. Die sensible Lichtregie von Frank Sobotta versetzt Menschen und Häuser in eine mystische, archaische Zeit, verstärkt wird dieser Eindruck durch das Geigenspiel des „Fiddler auf dem Dach“, Lukas Kusztrich. Wie ein Hüter des Dorfes spielt er auf den Dächern stehend, manchmal tröstlich, dann wieder Geheimnisvolles ankündigend.

Die Menschen in diesem Dorf Anatevka führen ein ärmliches, aber nicht unglückliches Leben. Die Tradition wird hoch gehalten, man feiert den Shabbat – diese Szene ist tief berührend -, fragt in schwierigen Situationen den Rabbi, der jedoch auch keine Lösung bereit hat. So wendet sich Tevje, der Milchmann, direkt an Gott mit seinen Fragen und Problemen. Dominique Horwitz ist ein Tevje, wie man sich ihn nicht besser vorstellen könnte: In seinem Gesicht, Stimme und Gestik zeichnet sich die Mühe des Lebens ab. Als drei seiner Töchter sich ihren Bräutigam ohne die Heiratsvermittlerin (großartig Martina Dorak) und ohne ihn um Erlaubnis zu fragen aussuchen und sich still und heimlich verloben, bricht für ihn im ersten Moment die Welt zusammen. Doch dann kommen seine Erwägungen – humorvoll: Einerseits, andrerseits – und letztlich versöhnt er sich mit diesen aufmüpfigen Töchtern und deren Verlobten. Jüdischer Humor glänzt immer wieder auf – zum Beispiel in der Traumszene: Tevje muss seiner Frau Golde – ganz ausgezeichnet von Regula Rosin gespielt und gesungen – klar machen, dass seine älteste Tochter Zeitel (stimmlich und darstellerisch gut: Anita Götz) nicht den reichen Fleischer (Marco di Sapia), sondern den armen Schneider Mottl (Oliver Liebl) heiraten wird.

Alle Darsteller, bis in die kleinsten Nebenrollen, sind stimmlich und darstellerisch gut besetzt. Nicht unerwähnt dürfen die Leistungen der Tänzer des Wiener Staatsballetts bleiben: Der Kasatschok und der Flaschentanz sind Glanzleistungen.

Dass das Musical heute mehr denn je aktuell ist, macht der Schluss deutlich: Ein Erlass des Zaren zwingt die Bewohner, binnen kurzer Zeit Haus und Heimat zu verlassen: „Heimat verlassen tut weh, sehr weh“ singt Tevje. „Ja, wir ziehen weg von hier, Gewalt vertreibt die einen, Gleichgültigkeit die anderen.“ Wer denkt da nicht an die jüngsten Ereignisse?

Und wieder einmal zeigt sich, dass eine kluge Regie, die ohne Schnick Schnack und modische Attitüden auskommt, erfolgreich ist. Das Publikum dankte dem Ensemble und dem Dirigenten mit viel Applaus und Bravorufen!

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Niccolò Ammaniti: Intimleben. Eiseleverlag

Aus dem Italienischen von Verena von Koskull

Zunächst einmal ein Kompliment an die Übersetzerin. Denn leicht zu übersetzen ist die „verfickte Intelligenzia- und Bourgoissprache“ nicht, die der Autor seinen Protagonisten zuschreibt. Da wird ordinärster „schicker“ Jargon angewendet, und an so manchen Stellen kommt auch die versierte Übersetzerin an ihre Grenzen. Denn Ammaniti beschreibt ausführlich das sexuelle Intimleben – es geht um zwei Pornofilme – und von dem ausgehend beleuchtet er das seelische Intimleben der Protagonistin. Klug und scharfsinnig, spannend geschrieben!

Maria Cristina gilt als die schönste Frau der Welt. Auf den Titel könnte sie gerne verzichten, wäre sie nicht Gattin und mediales Aushängeschild des italienschen Ministerpräsidenten. Als diese wird ihr Leben von ihrer medialen Wirkung bestimmt, und jeder Schritt und jedes Wort sorgfältig von einem Spindoctor geplant. Nun soll sie, was sie noch nie getan hat, ein Fernsehinterview geben – man hofft, dass dadurch die sinkenden UMfragewerte ihres Mannes steigen. Widerwillig nimmt sie an, und hat fortan nur mehr Angst davor. Unversehens begegnet sie einem Jugendfreund. Lebemann Nicola Sarti ist reich, besitzt mehrere Hotels. Sie hatten Jahre keinen Kontakt. Nun schickt er ihr Bilder aus dem Segelturn, den Nicola, Cristina und ihr Bruder gemeinsam in ihrer Jugend unternommen hatten. Dabei drehten Nicola und Cristina aus jugendlichem Übermut ein Pornovideo. Als er ihr dieses ebenfalls sendet, hat sie Angst, er könnte sie erpressen. Und es sieht auch alles danach aus. Mehr sei hier nicht verraten!

Ammaniti ist einer der erfolgreichsten Autoren Italiens. In diesem Roman entlarvt er das Leben der Reichen und Mächtigen, das von Intrigen und den Medien bestimmt ist. Wer sich diesem Imperialismus untwerwirft, verliert seine Seele, sein Intimleben. Durch die bewusst eingesetzte rohe Sprache charakterisiert er diese Gesellschaftsschicht sehr deutlich.

www.eisele-verlag.de

Susanne Wiborg, Der glückliche Horizont.

Untertitel: Was uns Landschaft bedeutet

Verlag Antje Kunstmann

In dem klugen Vorwort schreibt Susanne Wiborg: „Über Jahrhunderte blieb diese Verbindung (zwischen Mensch und Landschaft) eng und gut dokumentiert, erst mit dem Kulturbruch des Ersten Weltkrieges riss die Kontinuität ab. Plötzlich kamen Landschaft und Natur zugunsten des Urbanen aus der Mode.“ (S 8)

Erst der Tourismus, jetzt der Overtourismus, und die Gefährdung der Natur und Landschaft durch Umweltverschmutzung und Klimawandel rücken die Landschaft wieder in den Fokus der schreibenden Zunft. Man sieht die Gefährdung: die Landschaft dient als Verdienstvehikel – Berge werden mit Aufstiegshilfen zu Massenzielen, Wälder durch Bikes zu Rennstrecken etc..

Doch Susanne Wiborg ist zuversichtlich: Noch hat „die Landschaft ihre Seele nicht verloren“. In den literarischen Texten sucht sie nach Beweisen ihrer Zuversicht, zitiert Zuckmayers und vieler anderer Autoren Begeisterung für die Berge. Insgesamt ist das Buch ein umfassendes Zitatenwerk über alles, was Landschaft ausmacht: Berge, Fluss, Meer, Wiese, Wald, Heide.

Das Quellenverzeichnis am Ende ist ausführlich und hilfreich für alle, die nach brauchbaren Zitaten zum Thema Landschaft suchen.

www.kunstmann.de

Akademietheater: Serge nach dem Roman von Yasmina Reza

Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Bühnenfassung: Liliy Sykes und Andreas Karlaganis

Regie: Lily Sykes, Bühne: Marton Agh, Kostüme: Jelena Miletic

Wann wird es endlich wieder so, wie es unter Karin Bergmann war? Als noch Joachim Mayerhoff, Christiane von Poelnitz, Petra Morzé und viele andere spielten, die wir alle sehr vermissen. Als noch nicht jede Aufführung unter „Vernuschelung“ der Sprache litt, und noch nicht jede Aufführung unter ein moralisches Diktat gestellt wurde.

Die Folgen all dieser Absenzen erlebt man, wenn man zehn Minuten vor der Vorstellung den Zuschauerraum betritt – fast leer. Erst langsam füllt er sich mit Besuchern, die so schlau waren und ein Last Minute Ticket kauften – denn damit können sie sich die Sitzplätze ausssuchen. So füllten sich dann doch die vorderen Reihen.

Yasmina Reza hat mit „Kunst“ oder „Der Gott des Gemetzels“ hinlänglich bewiesen, dass sie eine tolle Dramatikerin ist, Gesellschaftskritik gekonnt in Satire festmachen kann. Dass sie „Serge“ als Roman schrieb, wird wohl seine Gründe haben. Jedenfalls: Die dramatisierte Fassung vergeigt das Hauptthema durch unnötige Gags. Und die schlampige Aussprache der Schauspieler, die entweder flüstern, schreien oder nuscheln, macht das Verstehen auch nicht einfacher. Worum es Reza in dem Roman ging, kann man im Programm nachlesen, in dem das Interview, das Iris Radisch für DIE ZEIT am 22. Jänner 2022 geführt hat, abgedruckt ist: Reza auf die Frage, ob es um das Verschwiegene in dieser Familie geht, das ans Tageslicht kommen sollte: „Kein bisschen. Solcherlei Themen, die Aufdeckung des Verborgenen, des Verdrängten, interessieren mich absolut nicht“. Und zur „Auschwitzkeule“, wie Martin Walser das aufoktruierte Gedenken nennt: “ Das ist eine Art und Weise, guten Geewissens die Geschichte zu glätten…Gedänkstätten werden errichtet, all das dient der Beruhigung… Ich halte es für eine gefährliche Illusion zu meinen, das Gedenken würde bessere Menschen hervorbringen.“

Was sieht man an diesem Abend? – Eine jüdische Familie trifft sich beim Begräbnis der Mutter. Drei Geschwister (Jean-Michael Maertens, Serge Roland Koch, Nana Alexandra Henkel) streiten, ob man quasi im Gedenken an das jüdische Erbe Auschwitz besuchen soll. Der Besuch wird zum Disaster und endet im totalen Chaos und Streit.

Am Ende der Aufführung wurde ich von einer Besucherin gefragt, ob ich verstanden hätte, worum es in dem Stück ging. Meine Antwort: Nein.

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Wiener Staatsoper: Ballett „Don Quixote“

Choreographie und Inszenierung: Rudolf Nurejew nach Marius Petipa.

Musikalische Leitung: Robert Reimer. Musik: Ludwig Minkus in der Bearbeitung von John Lanchbery

Foto: Liudmila Konovalova und Davide Dato als Kitri und Basil

Ein Abend der höchsten Perfektion. Man spürt und sieht immer noch Nurejews kritischen Blick und seine hohen Anforderungen an das gesamte Ensemble.

Was zu entdecken ist: Nurejew hatte einen ausgeprägten Sinn für Humor, den er gekonnt in Gesten und Figuren umzusetzen wusste und der vor allem sich in den Figuren Don Quixotes und Sancho Pansas manifestiert. Schon im Prolog in Don Quixotes Haus erfährt man: Dieser Don Quixote ist ein Träumer, der an der Realität vorbeilebt, aber dabei recht gut lebt. Er ruht in sich und seinen Träumen, auch wenn er von allen herumgestoßen und belächelt wird. Zsolt Török ist ein liebenswerter alter Don Quixote, der sich nach Jugend und Schönheit sehnt. Grandios die Traumszene, in der die Königin der Dryaden ihn iin ihr Reich einführt. Da schwebt Olga Esina, eingehüllt in weiße Schleier, wie ein überirdisches Wesen über die Bühne. Am Rande steht der Ritter und mit einer kleinen Geste drückt er seine Sehnsucht aus. Schon allein diese kaum fünf Minuten lange Szene ist es wert, das Ballett anzusehen. Die Dryaden und Kitri (Liudmila Konovalova) in der Figur der Dulcinea umtanzen ihn, ihm bleibt nur, seine Hände nach dem Unerreichbaren, seinem Ideal, auszustrecken. Er ist es, der das Ewiggleiche der perfekt getanzten Figuren und Sprünge lebendig werden lässt. Sein drolliger Begleiter ist Sancho Pansa, hervorragend getanzt von Francois- Eloi Lavignac.

Die Haupthandlung wird allerdings nicht von Don Quixote getragen, sondern von dem Liebespaar Kitri (Liudmila Konovalova)und Basil (Davide Dato). Vor allem Davide Dato muss das schwere, fast unerreichbare Erbe von Nurejew stemmen. Denn er wird an der Sprungkraft und Ausstrahlung dieses Tanzgenies gemessen. Er macht seine Sache gut, perfekt. Gemeinsam mit Liudmila Konovalova meistert er all die Sprünge und Figuren, für die Nurejew berühmt war, glänzt im Solo und im Pas de deux. Beide gehen an die Grenze der Leistungsfähigkeit, strahlend in ihrer Perfektion. Und das ist genau die Crux dieses Abends: Perfektion kann sich abnützen, wird als gegeben vorausgesetzt, Kommt da nicht das gewisse Quentchen an Faszination hinzu, wird es schnell langweilig. So sieht man leicht gelangweilt bei den einzelnen Gruppentänzen, Paartänzen und Soli zu – alles gut einstudiert, allein der Spannungsbogen hängt bald durch. Wäre da nicht die Musik von Minkus – perfekt von Robert Reimer dirigiert. Er betont den Humor und die Ironie, die in dieser Musik stecken- und zaubert so manches Lächeln im Publikum hervor.

Begeisterter und verdienter Applaus für das ganze Ensemble, Blumen für Konovalova und Dato!

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Volksoper Wien: Richard Strauss, Salome

Inszenierung: Luc Bondy, für die Salzburger Festspiele 1992. Neu inszeniert von seiner Witwe Marie-Louise Bischofberger-Bondy

Was für ein Abend! Endlich ein Opernabend, wie man ihn schon lange nicht mehr erlebte. Nach den vergeigten Inszenierungen der Salzburger Festspiele 2023 , wie die „Hochzeit des Figaro“ unter der fürchterlichen Hand von Kusej oder der „Falstaff“ unter der noch schrecklicheren Regie von Christoph Marthaler, durfte das opernaffine Publikum endlich wieder aufatmen und eine Operninszenierung genießen – ja „genießen“, bei der alles stimmte: Das Orchester, geführt von der kundigen Hand Omer Meir Wellbers, die Sänger und Sängerinnen auf höchstem Stimm- und Spielniveau.

Bondys Inszenierung ist feinsinnig, humorvoll ohne respektlos zu sein. Er schreibt durchaus seine eigene Interpretation dem Werk ein, verliert dabei nie den Blick auf das Wesentliche. Für ihn ist Salome das verwöhnte Girl einer reichen Familie, sie ist all des unsinnigen Geschwätzes und der unerträglichen Festgelage überdrüssig. So schleicht sie sich von der Tafel weg und hört den verstörenden Gesang eines Mannes aus der Tiefe eines Brunnens. Er singt von einem Gott, der da kommen wird. Der Gott interessiert sie wenig, der Mann, der da singt, umso mehr. Und so befiehlt sie, ihn aus seinem Brunnengefängnis frei zu lassen. Von dem Moment an erwacht in dem gelangweilten Mädchen die Sexualität, die Gier nach Körperlichkeit. Je mehr sich Jochanaan von ihr abwendet, desto mehr ist Salome fasziniert. Was? – ihr soll etwas verwehrt werden, was sie begehrt. – das gibt es nicht! Und so beginnt eine der spannendsten Szenen des Abends: Astrid Kessler singt und bezirzt den Mann mit allen Tricks eines jungen Mädchens, das gewöhnt ist zu bekommen, was sie begehrt – einen Kuss. Tommi Hakala stimmlich und körperlich ein eindrucksvolles Mannsbild, wendet sich angewidert ab – aber, und da merkt man die subtile Personenführung Bondys – doch nicht so ganz angewidert, wie er als Gottesmann sein sollte. Das Spiel zwischen den beiden wird dringlich, erotisch, musikalisch von Omer Weir Wellber mit Fingerspitzengefühl und punktgenau dirigiert -, bis es fast zur Annäherung kommt. Die Spannung ist spürbar zwischen den beiden, doch dann löst sich Jochanaan aus dem erotischen Bann und kehrt zurück ins sein Verlies.

Weil Bondy allen orientalischen Schnickschnack wegließ, kommt keine Langeweile auf – dafür sorgt die urkomische Figur des Herodes – von Wolfgang Ablinger Sperrhacke köstlich persifliert. Sein leichter S-Fehler macht ihn fast zu einer commedia dell´arte Figur. Er glaubt nicht wirklich an seine Macht, fürchtet sich recht naiv vor dem Propheten, den er da eingesperrt hat. Sein Motto: Sicher ist sicher, besser ihn am Leben zu lassen, man weiß je nie, wozu er gut ist. Ein wenig tölpelhaft befiehlt er Frau und Tochter, merkt nicht, dass er ins Leere rennt mit seinem befehlerischen Gehabe. Das ist große Schauspiel- und Regiekunst: Eine Figur aus dem gewohnten Rollenschema zu heben, ohne sie ins Gegenteil zu verkehren. (Martin Kusej sollte sich da einiges von dem Regiegenie Bondy abschauen, aber er war ja nicht anwesend. Wohl aber Hinterhäuser, auch ihm möge dieser Abend eine Lehre sein!). Das Spiel zwischen Salome und Herodes gipfelt zunächst einmal in dem berühmten Tanz. Auch hier regiert die humorvolle Hand Bondys: Astrid Kessler legt eine Persiflage zwischen Ärobic, Streetdance und Schleiergewachel hin – für Herodes gut genug, um sich daran aufzugeilen. Danach verhandeln die beiden um den ihr zugestandenen Preis, der da ist: Der Kopf des Jochanaan. Den will Herodes ihr nicht liefern – wie gesagt, den Propheten braucht er vielleicht noch in der Zukunft, und zwar lebendig. So setzen sich die beiden an einen Schreibtisch, gerade als wären sie in einem Salon von Zuckerkandel oder Mahler-Werfel. Er bietet ihr Schmusck, sie verlangt den Kopf, er steigert sein Anbot, sie will den Kopf. Das ist durchaus komisch, wie sich der Handel da abspielt. Klar, Salome gewinnt. Man bringt ihr den Kopf in blutige Tücher gehüllt. Und da zeigt sich wieder einmal mehr die Regiepranke Luc Bondys und die Genialität des Komponisten Richard Strauss: Langsam, ganz langsam dämmert Salome, dass sie nicht wusste und nie wissen wird, was Liebe ist: „Liebe schmeckt öde nach Gewalt“, erkennt sie. Die Gewalt manifestiert sich in ihr – das dumme Girl ist nicht mehr, zurück bleibt eine junge Frau mit liebeleeren Händen und Lippen. In diese starke, berührende Szene schreit Herodes, plötzlich angewidert und machtbewusst, was er bis dahin nie war: „Tötet dieses Monster“.

Das Publikum dankte mit begeistertem Applaus den Sängern für die außergewöhnlichen Leistungen, allen voran Astrid Kessler für die lebendige und starke Interpretation der Salome, dem Dirigenten Omar Meir Wellber und dem Orchester der Volksoper Wien und dem Team rund um Marie-Louise Bischofberger-Bondy (Erich Wonder für die interessante, schlichte Bühne, Susanne Raschig für die dezent-zeitlosen Kostüme) und posthum natürlich Luc Bondy für eine Inszenierung ohne abgetroschene, allzu überdeutliche Anspielungen auf gesellschaftliche Um-Auf- oder Zusammenbrüche.

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Sommerausklang mit Joseph Lorenz- Friedrich Torberg: Schüler Gerber. Kultursommer Semmering

„Der Spätsommermorgen war lau..“ So begann Joseph Lorenz und entführte das Publikum in ein mortales Roadmovie durch das qualvolle Schülerleben von Kurt Gerber. Die Luft war nicht lau, eher schwül. Wie vor einem Gewitter. Aber der Himmel blieb klar.

Wer sich fragte, warum Joseph Lorenz ausgerechnet diesen Roman von Torberg für eine Lesung wählte, der bekam schon in den ersten Minuten die Antwort darauf: Das war keine „Lesung“ im üblichen Sinn. Jospeh Lorenz hatte den Text bearbeitet und daraus ein Kammerspiel gestaltet. Ein Ein-Mann-Stück, in dem er alle Rollen spielte. Hochdramatisch, unsympatisch in Ton und Geste Gott Kuper, der Lehrer, der sich auf das Früchtchen Kurt Gerber freut, weil er siegessicher weiß: „Dich kriege ich klein“. Er will ihn ruinieren, ihn tranchieren. Lorenz ist Gott Kupfer mit all den unsympathischen Zügen: Gott mit unbeschränkter Haftung, Zyniker von Teufels Gnaden. Mit höhnisch verzogenen Mundwinkeln bereitet Kupfer sein Opfer auf das Ende vor. Doch bevor er sein Opfer in den Krallen hat, inszeniert Lorenz kleine Einzelszenen als Kabinettstückerln. So etwa, wenn der Superschüler Benda mit stoischer Ruhe mitten im Matheunterricht begehrt, aufs Wasserklosett gehen zu dürfen und den verdutzten Kupfer aufklärt, dass man sterben kann, wenn man den Harn zu lange zurückdrängt. Komisch und skurril auch die Szene bei Professor Ruprecht, bei dem Kurt Gerber Nachhilfestunden nimmt. Da entdeckt er mit Staunen und Verzücken, dass Professoren auch nur Normalos sind. Sie essen ein Schinkenbrot – diese triviale Erkenntnis lässt Kurt Gerber kichern und das Publikum lachen.

Joseph Lorenz ist der Schüler Gerber, intelligent, sensibel, verliebt, leidet unter dem Leiden seines Vaters, ist verzweifelt bis zurm Irrsinn. Ein Irrsinn, der ihn überfällt, das Fenster öffnen lässt und ihn in die Tiefe lockt. Der Tod ist gnadenlos, der Erzähler erstarrt, das Publikum atemlos. Am Ende braucht Jospeh Lorenz eine gute Minute, um aus diesem Todesschock in die reale Welt zurückzukehren. Auch das Publikum ist wie erstarrt, bevor es dann in frenetischen Applaus ausbricht.

Und wir, die wir einmal mehr eine Probe der großartigen Schauspielleistung bekommen haben, verstehen nicht, warum man den Namen Joseph Lorenz vergeblich im Spielplan der Josefstadt sucht. Aber wir haben einen Trost: Wo Joseph Lorenz auftritt, da geschieht Theater, da ist Dramatik. Er braucht keine „Bühne“, er schafft sich sein eignes Theater, und da genügen ein Sessel und ein Tisch. Aus der „Lesung“ wird das „Ein-Mann- Theater“, ein Kammerspiel!

Hier noch einige Hinweise, wo Jospeh Lorenz zu erleben sein wird:

Musiktage Mondsee, 1. September: Edgar Allan Poe

Theater Akzent, 22. September : Schüler Gerber und 29. November : Werfel, Verdi

Bösendorfer Festival in den Kasematten, Wiener Neustadt: 5. Dezember: Thomas Bernhard, Der Untergeher

Weitere Informationen zum Kultursommer Semmering: www.kultursommer-semmering.at

Benedict Wells, Becks letzter Sommer. Diogenes

„Es sind Gespräche, die das Leben als lieblosen Unfug enttarnen“, schreibt Benedict Wells mitten im Roman. Aber eher sind es die Aktionen, die der Mensch/der Protagonist und die weiteren Figuren in diesem Roman setzen und das „Leben als lieblosen Unfug“ entlarven. Alles hängt von den Momenten ab, die unvorhersehbar sind. Aus solchen drechselt der Autor seinen Roman, der nicht sein erster, wie es allgemein heißt, sondern sein zweiter ist.

Benedict Wells spielt in diesem Roman das Mozart-Salieri Thema durch: Der genialisch Begabte gegen Mittelmaß. Eine Spannungsbogen, der bis zum Schluss den Plot trägt. Dazu kommt Wells großes Thema, das er in den späteren Romanen („Vom Ende der Einsamkeit“) mit großer Virtuosität durchspielt: die Liebe. oder hier eher: die Unfähigkeit zu lieben.

Beck ist um die 40, widerwillig Musik- und Deutschlehrer an einem Gymnasium. Er hat die Nase voll von seinem Job, aber er hat keine Alternative. Früher spielte er in einer Band, mittelmäßig, mit mäßigem Erfolg. Das Mittelmaß verfolgt ihn, lässt ihn mit dem Leben unzufrieden werden. Der Schüler Rauli Kantas aus Litauen hat musikalisches Genie im Übermaß. Beck träumt davon, ihn zu managen und groß herauszubringen. Doch auch dieser Traum platzt – Beck wird aus dem Vertrag ausgeschlossen.

Angereichert ist dieser „Antientwicklungsroman“ – denn Beck ist am Ende der, der er immer war: ein mittelmäßiger Musiker, nur mit dem Unterschied, dass er resignierend einsieht: den großen, genialischen Einfall wird er nie haben – angereichert also mit Texten aus der Rock- und Popmusik, besonders von Bob Dylan. Sein bester Freund Charlie, ein Schwarzer mit Macken und durchgeknallten Visionen, will unbedingt seine Mutter in Istanbul besuchen. Dass er unter der Karosserie Drogenpäckchen versteckt hält, die er in die Türkei schmuggeln soll, erfährt Beck erst während der Fahrt, an der auch Rauli teilnimmt. Weil Charlie das Geld für die Drogen im Alleingang kassieren will, wird ihm von den Drogengangstern ein Finger abgehackt. Nach Kurzaufenthalt in Istanbul geht die Reise zurück, Charlie stürzt mit dem Flugzeug ab, Rauli startet seine große Karriere, wird drogenabhängig und ziemlich unglücklich. Beck kündigt in der Schule, siedelt in ein kleines Dorf in Süditalien und findet dort ein wenig Frieden. Bis ihn Rauli, nun gefeierter Star, Weiber- und Gitarreheld, besucht. Beiden wird bewusst, dass das Leben nur „ein sinnloser Unfug“ ist. Rauli haut bei Nacht und Nebel mit Becks Lieblingskatze ab und hinterlässt als Geschenk seinen größten, unveröffentlichten Hit. Was Beck damit machen wird, bleibt offen.

Mag schon sein, dass Benedict Wells zu viele Motive auf einmal hineinpackte: Drogen, Musikkarriere, Freundschaft, Verlustängste und dazu noch zwischendrin eine Autorenfigur, die Beck nach seiner Vergangenheit ausfragt. Alles ein bisserl zu viel, dennoch aber ein spannender Roman.

www.diogenes.ch

Grafenegg, 25. August 2023: Mahler Chamber Orchestra, Daniil Trifonov, Daniel Harding.

Es war einer dieser Sommernächte, die Menschen mit heiterem Sinn erfüllt. Im Park von Grafenegg lagerten sie und picknickten oder lasen und lachten und redeten…Die Stimmung war erwartungsvoll. Über dem machtvollen Wolkenturm stieg die zarte Silhouette des Mondes auf. Grillen zirpten und hin und wieder hörte man einen Vogel im Schlaf zwitschern.

© Silvia Matras

„Nein, Sie müssen keine Angst vor der Musik eines Komponisten haben, der noch lebt“, meint Ursula Magnes in ihrer humorvollen Einleitung. Der noch lebende Komponist ist George Benjamin (geb. 1960), und schrieb mit „Concerto for Orchestra“ (2019-2020) ein „elegantes Divenkleid für Orchester“ – so wieder Ursula Magnes. Nun, das Divenkleid wirkte ein wenig ramponiert, so als hätte die Trägerin eine Nacht lang wild durchgetanzt. Jedenfalls führte Daniel Harding das Mahler Chamber Orchestra mit sicherer Hand durch das Klanggewirr. Manchmal aggressiv, dann doch auch ein wenig romantisch, hin und wieder glaubte man Vögel zwitschern zu hören – insgesamt eine Musik, die aufweckt und durchaus gut hörbar war. Ursula Magnes hatte nicht zu viel versprcochen.

Danach folgte das mit Spannung erwartete „Konzert für Klavier und Orchester a-Moll op.54 (1841-45) von Robert Schumann, am Klavier der Starpianist Daniil Trifonov. Ihm eilt der Ruf voraus, ein „Wahnsinniger “ am Klavier zu sein. An diesem Abend wirkte er gezähmt, in sich gekehrt. Innig, zärtlich klangen die flinken Triller im „Allegro affettuoso“ und ebenso feinsinnig erklang das „Andantino grazioso“. Selbst im „Allegro vivace“ ließ der Pianist immer spüren, dass Schumann in diesem Konzert die Liebe zu seiner Frau Clara in Noten gefaßt hatte. Daniel Harding lenkte mit kundiger Hand durch das ausgeklügelte Zusammenspiel zwischen Klavier und Orchester. Ein Abend, der ganz zu dieser Sommerstimmung passte. Obwohl es leicht zu regnen begann, spielte Trifonov als Zugabe Bach.

Nach der Pause ging das Konzert im Auditorium mit der Symphonie Nr.3 F-Dur op. 90 von Johannes Brahms weiter. Brahms schrieb dieses Werk mit 50 Jahren (1883), und man sagt, es sei die Essenz seiner Werke. Die Uraufführung im Wiener Musiverein war ein Triumph. Clara Schumann schrieb in einem Brief an Brahms: „Jeder Satz ist ein Juwel.“ Dirigent und Orchester in Höchstform entführten das Publikum in eine jubelnde Natur, ließen einen Waldzauberteppich erklingen, dass am Ende viele meinten, diese Symphonie noch sie so herzergreifend gehört zu haben. Langer Applaus und standing ovations belohnten Dirigent und Orchester für die großartige Leistung.

www.grafenegg.com

„Wir haben es nicht gut gemacht“ -Ingeborg Bachmann -Max Frisch. Salzburger Festspiele 2023

Mit: Lina Beckmann und Charly Hübner. Textfassung: Bettina Hering

Zwei Tische mit nötigem Abstand. Keine Videos, manchmal war die Stimme der Callas zu hören. Sonst : Nur die Briefe der beiden Schriftsteller, die miteinander nicht leben konnten, aber ohne einander auch nicht. Bettina Hering traf eine kluge Auswahl aus der Unzahl der Briefe von 1958 bis 1963. Was schon bald auffiel: Hering kam es nicht darauf an, die Liebe der beiden zu skandalisieren, auch nicht zu dem Mythos zu machen, wie sie bald in den Medien und auch in der Literaturberichterstattung wurde. Klug wählte sie Briefe aus, die beiden gerecht wurden – also nicht Max Frisch als „Mörder“ und Bachmann nicht als Exaltierte porträtierten. Das Publikum (im ausverkauften Landestheater) erlebte und fühlte mit, wie zwei Menschen um eine Liebe kämpften, die nicht gelingen konnte. Weil sie beide übersensibel auf Veränderungen im Gegenüber hellhörig waren, weil sie beide Schriftsteller waren und Schreiben eine einsame Angelegenheit ist. Der Kampf war auf beiden Seiten gleich mühevoll. Frisch war eher der Abwägende, der nach Gründen suchte, wie die Liebe doch Bestand haben könnte, sie – eher die Verzweifelte, die in der Liebe nicht heimisch werden konnte, weil sie um ihre Selbstbestimmung fürchtete. Sie war es auch, die die Heirat ablehnte. Sie war es, die von ihm die Briefe zurückverlangte, sie war es, die immer wieder selbstzerstörend fragte, verneinte, zögerte, verzweifelte. Sie war es auch, die 1963 die endgültige Trennung verlangte.

Er veröffentlichte 1964 den Roman „Mein Name sei Gantenbein“. Sie glaubte sich in der Figur Lila wiederzuerkennen und war tief verletzt. Aber das ist eine andere Geschichte, die an diesem Abend nicht aufgerollt wurde.

Das Publikum dankte mit langem, begeistertem Applaus für einen Abend, der so angenehm aus dem Rahmen der diesjährigen Festspiele fiel – durch seine Wahrhaftigkeit, Textbezogenheit, Schlichtheit – durch das Fehlen eitler Regieeinfälle. Es bräuchte mehr solche uneitlen Abende, um den Festspielen wieder Glanz zu verleihen.

Die Briefstellen wurden entnommen aus: Ingeborg Bachmann-Max Frisch „Wir haben es nicht gut gemacht“. Der Briefwechsel. Hg von Hans Höller, Renate Langer, Thomas Strässle, Barbara Wiedemann. Piper Verlag/ Suhrkamp Verlag 2022

http://www.salzburgfestival.at

Anne Rabe: Die Möglichkeit von Glück. Klett-Cotta

Stine ist gerade drei Jahre alt, als die Mauer fällt. Sie fühlt sich als Kind der DDR, ihre Familie allerdings schweigt über diese Zeit. So kramt die heranwachsende Stine in Fotoalben, Zetteln, Notizbüchern und in ihren eigenen ERinnerungen, um mehr über die Vergangenheit und die Verstrickungen ihrer Familie im System zu erfahren. Was die Autorin da an Protagonisten auffahren lässt, kennt man eigentlich schon hinlänglich aus diversen Familien-bzw Geschichtsromanen aus der DDR-Zeit: Der über alles geliebte Großvater – eine in diesem Literaturgenre sehr beliebte und oft verwendete Person -, der fest überzeugt ist vom System und dem DDR-Staat. Die strenge, finstere Großmutter , die auf den Fotos einst ein lustiges, fesches Mädl war, das herzlich lachen konnte. Wie ist sie zu der alten Vergrämten, Versteinerten geworden? Die Mutter haut die Kinder, sie haben Angst vor ihr. Das ist gut so,denn sie sollen vor allem eins lernen: gehorchen. Als Stine eigene Kinder hat, sind Schläge ganz und gar verboten! Dann sind da so seltsame Erinnerungen an Nazis, zuerst verdeckt, dann offen, an Kindereziehungslager, an Stasiakten – kurz, das ganze DDR-Programm. Das Lesen wird durch nicht deutlich gemachte Zeitensprünge, erschwert. Aber in Summe ist das Buch für alle, die von der DDRvergangenheit nicht genug lesen können, empfehlenswert.

http://www.klett-cotta.de

Sibylle Grimbert, der letzte seiner art. Eisele Verlag

Aus dem Französischen von Sabine Schwenk

Sibylle Grimbert lässt den Leser hautnah miterleben, wie es sich anspürt, wenn eine Species ausstirbt. Wenn wir in den Medien vom Artensterben lesen oder hören, sind wir kurz betroffen, aber gleich darauf wenden wir uns dem Alltag zu. Anders im Roman Grimberts: Wir wissen, „es“, dieses Tier ist „der Letzte seiner Art“ und es wird nach ihm keinen Riesenalk mehr geben. Indem die Autorin dieses Aussterben eines seltenen und einmaligen Tieres einen ebenso seltenen, viele würden sagen: seltsamen Menschen erleben lässt, beteiligt sie uns „direkt am Geschehen“. Keine Doku, aber auch keine „Betroffenheitsliteratur“. Sondern:

Es geht um den Riesenalk. – „Nie gehört“, sagen viele. Ja klar, denn er und seine Artgenossen sind Mitte des 19. Jahrhunderts ausgestorben. Erschlagen von Menschen, die alles von dem Vogel verkauften, Federn, Schnabel, Fleisch. Der circa 85cm große Vogel hatte zwar Flügel, konnte aber nicht fliegen. Dafür gut schwimmen. Dennoch war er auch für Eisbären und Orca eine leichte Beute.

1835 landet der französische Zoologe Gus mit einer Fischfangflotte auf einer kleinen Insel vor Island und wird Zeuge, wie systematisch alle Riesenalks, die dort friedlich lebten, von den Matrosen erschlagen werden. Ein Riesenalk verfängt sich im Netz und Gus rettet ihn. Er beschließt ihn zu behalten, um ihn zu studieren und ihn, wenn er von seinen Wunden und dem Schock geheilt sein wird, nach Lille ins zoologische Museum zu schicken. Doch mit der Zeit wird der Vogel ihm vertraut, er gibt ihm den Namen Prosp. Immer wieder zeichnet er ihn, sein schönes Gefieder, seinen Riesenschnabel. Aus dem verschreckten Vogel wird bald ein Wesen, das zu Gus Vertrauen fasst. Die Jahre vergehen, Gus heiratet und wird Vater zweier Kinder. Prosp wird zum Familienmitglied. Doch immer nagt an Gus die Frage, ob es für Prosp nicht doch noch ein Leben unter Seinesgleichen geben könnte. Alles Suchen und Fragen ist vergeblich – Prosp ist und bleibt der Letzte seiner Art. Gus wird immer mehr zum Eigenbrötler, zieht von Frau und Familie weg in die einsamste Ecke Nordislands, baut eine Hütte und lebt nur mit und für Prosp. Wieder vergehen Jahre, Gus wird alt und krank. Eines Tages verlässt Prosp ihn, taucht ein in die Wellen des Meeres und kehrt nicht mehr zurück. Gus sendet ihm einen Abschiedgruß nach. Später besteigt er ein Schiff, das ihn zu seiner Familie zurückbringt.

Die Autorin betont, dass die Geschichte von der Freundschaft zwischen einem Menschen und einem Riesenalk erfunden ist, basierend auf vielen Fakten der Forschung. Faszinierend werden wir Zeugen, wie sich Mensch und Tier einander annähern, gegenseitig Gewohnheiten übernehmen, bis so etwas wie Freundschaft entsteht. Umso intensiver trifft uns dann der Abschied, das Wissen, er ist der Letzte seiner Art. Ohne das Tier zu vermenschlichen, beschreibt Sibylle Grimbert sein Wesen, seine Vorlieben, seine Gefühle, die Zutraulichkeit, die Verletzlichkeit. Am Ende ist nicht irgendein Vogel ausgestorben, sondern ein Tier namens Prosp mit all seinen Eigenschaften, die wir kennenlernen und lieben durften.

Für diesen Roman wurde Sibylle Grimbert mit dem Prix Goncourt des animaux ausgezeichnet.

http://www.eisele-verlag.de

Schnitzler, Spiel im Morgengrauen. Spielort: Semmering. Erzähler und Spielleiter: Joseph Lorenz

Aus dem regenverhangenen Wien ging es hinauf auf den sonnigen Semmering, zum Panhans. Joseph Lorenz führte das Publikum durch die Erzählung von einem, der aus Spielsucht und Scham den Tod wählt, als wäre es ein Stück Theater: Spannung, Dramatik pur!

Otto Bogner, der aus Not in die Firmenkassa gegriffen hat und den Betrag – tausend Gulden – nicht rechtzeitig zurückzahlen kann, bittet seinen ehemaligen Kameraden, den Leutnant Willi Kassda, um Hilfe. Das Geld muss am nächsten Morgen in der Kassa sein. Schnitzler schildert nun mit tiefem Verständnis um menschliche Untiefen, wie jeder durch seine eigene Hölle geht: Bogner, weil er das Geld nicht rechtzeitig zurückzahlen kann. Willi, weil er am Spieltisch die Kontrolle verlor und aus Gier die schon gewonnenen 9.000 Gulden verspielt. Und letztlich erlebt der selbstbewusste Frauenheld eine weitere Hölle: die Erniedrigung durch eine Frau. Was bleibt als Lösung ist der Selbstmord, aus Angst vor der Schmach, aus dem Regiment ausgestoßen zu werden.

Es ist immer wieder ein Erlebnis, zu hören und zu spüren, wie Jospeh Lorenz die Charaktere herausarbeitet, die Dramatik der Szenen durch Tempo steigert, die Hoffnungslosigkeit des Leutnants nachvollziehbar macht, wenn dieser erkennen muss, dass es für ihn keinen anderen Ausweg als den selbstgewählten Tod gibt. Fein ziseliert Lorenz auch die Nebenfiguren: den Onkel, der helfen möchte, aber nicht kann, den Burschen des Leutnants, der hellsichtig durch eine barmherzige Lüge den Ruf des Toten schützt und dem Onkel eine bittere Erkenntnis spart. Und letztlich die einzige Frauenfigur in dem Spiel: Leopoldine Labus. Einst eine Rosenverkäuferin, die sich in den jungen Leutnant verliebt hat, mit ihm eine zärtliche Nacht verbringt. Doch er – immun für Feinheiten der Liebe – bezahlt sie für diese Nacht. Dafür rächt sie sich. Ohne Erbarmen! Ja, auch Frauen können das, und Schnitzler hat dafür viel Verständnis. Lorenz ebenso. Seine Leopoldine lässt er in allen Versionen der erotischen Nemesis auftreten. Es ist alles ein Spiel! Ein Spiel mit tödlichem Ausgang.

Weitere Vorstellungen im Panhans am Semmering – unter http://www.kultursommer-semmering.at

European Union Youth Orchestra zu Gast in Grafenegg am 29. Juli 2023

Es war ein Fest in den unterschiedlichsten Musikrichtungen. Im „Prélude“ 18h spielten junge Geigenvirtuosen sechs Miniaturen von Pauline Viardot (1821 -1910), einer der berühmtesten französichen Opernsängerinnen und Komponistinnen ihrer Zeit. Berührend die „Romance“, gespielt von Emilie Chigion, und die „Berceuse“, gespielt von Marta Dettlaff . Darauf folgte als Kontrastprogramm „Strange Ritual“ von Philippe Manoury, aktueller Composer in Residence. Es war ein Ausflug ins geordnete Chaos, spannend zu hören und anzuschauen. Besonders die Künstlerin an den 12 Gongs, die ein fein abgestimmtes Klangduett mit der führenden Violine spielte. Zur Erholung dann das wunderbar zarte Stück „Introduction et Allegro“ von Maurice Ravel. An der Harfe: Clara Gatti Comini, sehr einfühlsam.

Langsam senkte sich die Dämmerung über den Wolkenturm. Der Mond stieg auf – er blähte sich fast zum Vollmond auf. Und es begann einer dieser (wetterbedingt selten gewordenen) Abenden im Wolkenturm mit dem European Youth Orchestra, Julia Fischer und Sir Antonio Papano. Sie entführten uns in die Klangwelt Beethovens, ins Konzert für Violine und Orchester, D-Dur, Opus 61. Bewundernswert, wie stilsicher Julia Fischer ihren Part beherrschte, die Übergänge von festem, entschlossenem Tempo zu äußester Zarheit und Innigkeit. Papano „gehorchte“ ihr vollkommen, legte nur einen zarten, orchestralen Klangteppich unter ihr Spiel. Im „Larghetto“ ließ Papano viel Raum für Stille, die Geige klingt, als würde sie eine ferne Geliebte rufen. Dann ohne Pause das furiose Solo im Rondo. Lange Stille, dann brach begeisterter Applaus los. Als Zugabe spielt Julia Fischer „Caprice“ von Niccolò Paganini.

Julia Fischer,, Buchbinder gratuliert., das Orchester (Ausschnitt) ©Silvia Matras

Nach der Pause ertönte der markante Ruf „Ecce homo“ aus „Also sprach Zarathustra“ von Richard Strauss. Doch irgendwie verloren sich die Exaktheit und Schärfe in einem etwas allzu ineinander verwobenen Klangteppich. Dafür gab es als Zugabe die Ouvertüre zu Verdis „Macht des Schhicksals“, und die riss die Zuhörer von den Sesseln! Vor Spielfreude sprühte das junge Ensemble, als es nach dem Ende noch ein Ende hinzufügte: Zu ausgelassener Klezmermusik tanzten sie, umarmten einander und versprühten überschäumende Freude. Unwillkürlich erinnerte man sich an die legendären Konzerte von „El Sistema“.

Langer Applaus als Dank für dieses besondere Fest!!

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Kultursommer am Semmering: Andrea Eckert präsentiert Georg Kreisler

Begleitet von den Wladigeroff Brothers und Otmar Klein, der mit Rat und viel Information den Abend mitgestaltete.

Endlich wieder Andrea Eckert, die viele vermissen! Und endlich wieder Georg Kreisler in einer stimmigen, künstlerisch hoch qualifizierten Darbietung. Wer Andrea Eckert kennt, der weiß, dass sie die höchsten Anforderunen an sich stellt und das Publikum die höchsten Erwartungen erfüllt sieht. Man denkt an ihre „Callas“ oder „Rosa“ – jüngst noch im Nestroyhoftheater/Hamakom zu sehen.

Im edlen Smoking, die Haare hoch gesteckt, verkörpert sie eine Diseuse aus dem vorigen Jahrhundert, aus der Zeit, als Juden Wien verlassen mussten, wenn sie es noch konnten. Ohne Larmoyanz erzählt Andrea Eckert von Kreisler, der mit 17 Jahren gemeinsam mit seiner Familie in die USA emigrierte. In Wien war der Tod zu Hause – „Der Tod, des muas a Weana sein..“ singt Kreisler/ Eckert – genau mit dem nötigen Mix aus Wiener Schmalz und Hinterfotzigkeit! Drüben war es nicht leicht – und Kreisler fragt: „Meinen Sie, es ist leicht? – Man muss nur wissen, man hat niemals ein Zuhause“. Diese bewußt gemachte Heimatlosigkeit lässt den jungen Kreisler einfacher die Schwierigkeiten „drüben“ und dann wieder „herüben“ überstehen. Er geht nach New York, aber keiner will seine traurigen Lieder hören. Also stellt er um auf Humor, abgrundtiefen Humor, der tief aus der jüdischen Seele kommt. Und er hat Erfolg. Natürlich dürfen jetzt nicht die bekannten Zungenbrecherlieder fehlen, …“Der Putz war da, der Kohn war da…“ und sie diskutieren. Da glänzt Andrea Eckert mit ihrer hinreißenden, humorvollen Darbietung.

Nach dem Krieg kehrt Georg Kreisler nach Österreich zurück – aber er ist nicht willkommen und er riecht denselben Mief wie vor dem Krieg. Berührend in den Liedern „Verlassen“ und „Mein kleines Mädele“. Doch weil der Abend nicht traurig enden soll, entlässt Andrea Eckert uns mit dem Hit „Mein Mann will mich verlassen – Gott sei Dank!“

Für den mitreißenden Abend gab es ganz, ganz herzlichen Applaus!

http://www.andrea-eckert.com http://www.kultursommer-semmering.at