Eine Schurkengeschichte. Aus dem argentinischen Spanisch von Erich Hackl

Ich nenne das Buch nicht „Roman“, wie esauf der Rückseite des Covers betitelt wird, sondern fiktive Biografie. „Fiktiv“ deswegen, weil der Erzähler oder die Figur, die die einzelnen Kapiteln zusammengestellt hat, ein vom Autor ersonnener Journalist ist, der sich verpflichtet fühlt, die Fakten über Fritz Mandl zusammenzutragen und aufzuschreiben. Dabei mischt sich Erdachtes mit Wahrem, was den Leser -also mich – des öfteren verwirrt hat.

In jedem Kapitel lässt der Autor eine Person reden, die mit Mandl zu tun hatte. Die Begegnungen gehen kreuz und quer von Europa über Frankreich bis Argentinien, die zeitliche Abfolge vernachlässigend.

Der Jude Fritz Mandl war im 2. Weltkrieg eine schillernde Persönlichkeit und zählte zu den Reichsten des Landes. In seiner Fabrik in Hirtenberg im Süden Wiens wurden Waffen und Muntion erzeugt, die Mandl an alle Länder und Potentaten, die daran interessiert waren, lieferte. Obwohl befreundet mit allen politischen Playern des Zweiten WEltkrieges, insbesonders mit Mussolini und Graf Starhemberg, wurde er von den Nazis enteignet, hatte aber seine Schäfchen schon längst im Ausland ins Trockene gebracht. Über Frankreich emigirierte er nach Buenos Aires, wo er mit Peron eng befreundet war. Den Argentiniern gaukelte er vor, eine eigene Waffenfabrik errichten zu wollen, was er aber nie realisierte.

In seinem Privatleben haben Frauen eine große Rolle gespielt. Zu allgemeiner Bekannheit hat es die Ehe mit Hedy Lamarr gebracht. Sie floh ja bei Nacht und Nebel aus den ehelichen Fesseln nach Amerika, wo sie schnell als Schauspielerin Karriere machte.

Fritz Mandl war eine schillernde Persönlicheit, wusste sein Vis à Vis von seinen kühnen Plänen zu überzeugen, auch wenn sie sich meist in Schall und Rauch auflösten. Aber Mandl wäre nicht der geworden, der er war – ein charmanter Schurke – wenn seine Partner/Gegner nicht alle mitgespielt hätten. Mitgespielt, weil sie sich von Mandl enormen Profit erhofften. Mandl spielte gekonnt und klug auf dem menschlichen Klavier der Gier, der Gier nach Macht und Geld.

Schade nur, dass sich Eduardo Pogoriles nicht zu einer klaren Struktur und einem geordneten Erzählablauf durchringen konnte. So aber kämpft sich der Leser durch Nebel und verwischte Konturen durch, ohne wirklich zu einm klaren Bild zu kommen.

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Jochen Gutsch und Maxim Leo: Frankie. Penguin Verlag

Ich weiß ein Remediumbuch, das mich nach der Lektüre von Edelbauers Flüssigem Land (s. den Beitrag auf meiner Webseite) wieder ins „Equilibrium“ bringt – auf gut Deutsch: Nach der Lektüre von Edelbauers „Flüssigem Land“ brauchte ich ein Buch, das mich die Anstrengung vergessen lässt – und das ist: „Frankie“, die Geschichte eines ziemlich ramponierten Dorfkaters, der am großen Misthaufen unter einer ausrangierten Badewanne sein Leben fristet. Das ändert sich, als er am „verlassenen Haus“ vorbeistreicht. Da werkt zu Frankies Üverraschung ein Mensch drin, „der mit einem Faden spielt, der von der Decke hängt“. Dem Leser wird gleich klar, der Mensch will sich erhängen. Aber es kommt ihm Frankie dazwischen, der „Menschisch besser als Katzisch“ spricht und überhaupt ein überaus Schlauer ist. Wie sich die Freundschaft zwischen dem Menschen, der sich Gold nennt. und Frankie entwickelt, ist einfach klug, witzig und auch ein wenig philosophisch beschrieben. Ein Buch zum Gernhaben!!!

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Als ich den Roman endlich zu Ende gelesen hatte, brauchte ich ein flüssiges Buch, das mich ins literarische „Equilibrium“ wieder zurückstimmt. Equilibrium ist eines der vielen gestelzten Ausdrücke, die die Autorin gerne verwendet. Überhaupt lässt sie den Leser gerne ratlos zurück, ratlos, weil er nicht so recht weiß, was das Buch soll. Anspielungen an literarische Vorbilder gibt es genug, und jeder wird sie leicht orten: Homer, Odyssee: Die Protagonistin Ruth Schwarz irrt in Österreich umher, vom Wecheselgebirge ins Kamptal und zurück. Sie kommt einfach nicht an, wie einst Odysseues. Und als sie endlich ankommt, ist alles nicht so , wie es sein soll. Da beginnen die nächsten Literaturschnitzelvorbilder durchzuschimmern: Eva Menassse, Dunkelblum und Elfriede Jelinek: Rechnitz. Es gibt ein Loch, wo einst im 2. Weltkrieg Zwangsarbeiter/Juden verhineingeworfen wurden. Das Dorf hat ein Schloss – Kafka lässt grüßen! Dort throhnt eine Gräfin, die alles in der Hand hat. Doch sie ist keine echte Gräfin, eigentlich sind alle nicht wirklich, nicht das, was sie vorgeben. Somit haben wir es also auch mit der in der jüngsten Literatur schon ein wenig abgenützten Frage nach der Identität zu tun. Dass alle Bewohner das Loch verschweigen, es nicht wahrnehmen wollen, nach dem Motto, was ich verschweige, das gibt es nicht, ist auch schon ewig den Österreichern nachgesagt worden. Warum eigentlich nur den Östereichern.? „Lustig, witzig, unterhaltsam“ soll das Buch sein – es hat ja auch Preise bekommen, die bekommt niemand von nix – , aber ich möchte gerne wissen, wer bei der Lektüre gelacht oder auch nur geschnmunzelt hat.

Bitte ein „Equilibrium-Buch“!!! Wer kann mir eines empfehlen? Ich glaube, ich habe schon eines gefunden. WElches das ist, verrate ich in meinem nächsten Beitrag.

Anthony McCarten: GOING ZERO. Diogenes Verlag

Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf Allié

McCarten gelang wieder einmal ein Thriller von brennender Aktualität. Er weckt uns Naivlinge aus den süßen Träumen der analogen Welt auf und zeigt uns, was heute digital und sonst noch irgendwie künstlich alles möglich ist. Mit dem Fazit, dass der Leser am Ende erkennen muss: Was sind wir doch alle zusammen für Naivlinge, wenn wir an den Datenschutz glauben. Wenn wir meinen, wir sind auf der sicheren Seite, können nicht ausspioniert werden. Von wegen! Auch wer keinen Computer anrührt, kein Smartphon verwendet, ist für diejenigen, die im Netz die Macht haben, ein zur Gänze durchleuchteter Mensch, Wer denkt: „Ach Gott, die armen Chinesen, die sind ja total kontrolliert“ und meint, er selber sei vor allen Nachstellugen staatlicher und sonstiger Mächte geschützt, der IRRT!!

Cy Baxter, ein in der Welt von Silicon Valley Vertrauter, reich geworden durch digitale Machenschaften, lanziert den Superdeal seines Lebens: Er möchte beweisen, dass seinem Überwachungssystem keiner entkommt, und sei er noch so gefinkelt. Zehn Personen haben sich für den Test gemeldet: Sie sollen für 30 Tage versuchen, unauffindbar zu sein. Gelingt es den Leuten von Cy Baxter, alle zehn innerhalb der Zeit zu orten und zu stellen, dann geht der Deal auf und er kann mit der CIA fusionieren und somit ein unumschränkte Überwachungsimperium errichten. Schnell sind die ersten neun gefasst, bleibt nur noch eine Person: Kaitlyn Day, eine Bibliothekarin. Sie sollte kein Problem darstellen, da sie ganz offensichtlich noch in der analogen Welt lebt. Doch sie lehrt Cy Baxter das Fürchten, entkommt intelligent und flink allen Versuchen, sie zu fassen. Gegen Ende bekommt der Thriller noch eine neue, überraschende Wendung.

Das Buch ist die ersten hundert Seiten ziemlich technisch und langweilt. Wen aber diese technischen Details nicht interessieren, kann leicht darüber hinweglesen und steigt dann voll und ganz so ab Seite 80 ein. Dann wird das Buch niemand mehr weglegen. Die Frage, die Mc Carten in dem Buch stellt, ist aktueller denn je: Wie weit darf die Überwachung des Bürgers unter dem Mäntelchen der Sicherheit gehen? Darf der Staat dem Bürger seine individuelle Freiheit nehmen, immer unter dem Vorwand, diesen vor möglichen Anschlägen zu schützen? Sind wir, Ottonormalverbraucher schon so an das „Sicherheitsdenken“ gewöhnt worden, dass uns unsere individuelle Freiheit nichts mehr wert ist? Solche und ähnliche Fragen stellt der Autor, die Antwort sollte sich der Leser geben.

http://www.diogenes.che

Festspielhaus St. Pölten: Rachid Ouramdane: Corps extrêmes

Choreographie: Rachid Ouramdane. Musik: Jean – Baptiste Julien, Video: Jean Camille Golmard, Licht: Stéphane Graillot, Bühne: Sylvain Giraudeau.

Was für ein freudvoller und spannender Abschluss der Saison! Alles spielte mit: Das Wetter benahm sich gut: Zuerst Sonne und Wonne, das Gewitter wartete, bis die Aufführung begann. Ab 16h hieß es: Gartenfest für alle auf dem Vorplatz des Theaters. Während der unernsten Einführung zum Stück wurde das Publikum zum Tanzen, Pseudoklettern aufgefordert. Und viele machten mit!

So bestgelaunt begab man sich in den Saal, nichtsahnend, welch fulminante Performance einem den Atem rauben wird.

Licht aus im Saal, es öffnet sich ein Gebirgspanorma mit schwindelnden Abgründen. Einer wagt es, über das von einer Bergspitze zur anderen gespannte und schwingende Band (die Fans nennen es „slackline“) zu balancieren. Du gehst mit ihm, schwingst, siehst unter dir die Abgünde – vielleicht tausend Meter tief oder mehr! Dazu erzählt der Artist – sein Name bleibt als einer der vielen in der Gruppe ein Geheimnis – welche Ängste einerseits und welches berauschende Gefühl der Freiheit ihm dieser Sport bereitet. Dazu hat Jean-Baptiste Julien eine dezente Musik komponiert, nicht effekthaschend, sondern passend zur Aktion, die Stille, Konzentration und Horchen auf die Natur verlangt.

Aus den Abgründen entsteht eine Kletterwand, wie man sie kennt. Männer und Frauen in legerer Alltagskleidung wirbeln über die Bühne, die Wände hinauf, die Wände hinunter, bilden Menschentürme, fliegen durch die Luft, werden im richtigen Moment aufgefangen. Alles ist auf die Hundertstelsekunde abgestimmt. Vertrauen, sich fallen lassen dürfen – ist die Botschaft. Eine Künstlerin erzählt, wie sie nach einem verheerenden Sturz, bei dem sie selbst unverletzt blieb, aber den unter ihr stehenden Fänger schwer verletzte, aufhören wollte. Angst schnürte sie ein, Angst jemanden oder sich selbst zu verletzen. Sie hat sie überwunden.

Der Abend schwingt zwischen Realität und Irrealität – als Zuseher verliert man den Boden, fliegt, träumt, schrickt auf, hält den Atem an. Man ist mitten drin, bangt, ob auch die nächste Kür gut gehen wird. Doch die Gruppe selbst scheint angstbefreit, tänzeln zwischen ihren Flügen durch die Luft, scheinen wie Kinder einander im Kreis zu verfolgen – abkühlen, neue Kraft schöpfen für den nächsten waghalsigen Flug in die Kletterwand oder auf die Schulter der Kollegen.

Das Publikum bedankt sich bei dieser tollen Truppe mit lang anhaltendem Applaus, Bravos und vielen spitzen Schreien. Ein toller Abschluss einer gelungenen Saison!!

http://www.festspielhaus.at

Mike Markart: Venezianische Spaziergänge. Edition Keiper

Mike Markart wohnt in Venedig, schreibt und spaziert durch Venedig, macht ungeschönte, interessante Schwarzweiß-Fotos, trinkt gerne eine Ombra oder auch einen guten Wein. Seine „Erzählungen“ sind Impressionen, die er am Weg mitnimmt – also kein „Reiseführer“. Wohl kann man den ein oder anderen Tipp finden, z.B. über die Gondelwerft „Tramontin“ , die am Ponte Sartorio liegt. Oder den „Campo Santa Marherita“, den von der Jugend bevölkerten Platz.

Allerdings: Die Angaben sind wahrscheinlich absichtlich vage gehalten, damit eben nicht allzu viele Touristen den Hinweisen nachgehen. Denn Markart ist ein Eigenbrötler, der sich nicht gerne unter die Menge mischt, wie alle, die noch in Venedig sesshaft sind. Das werden immer weniger. Hoffentlich bleibt der Autor und schreibt weiter über den Zauber der Stadt.

Die „Veneziaischen Spaziergänge“ lesen sich wie ein Skizzenbuch – man glaubt manche Orte zu erkennen, aber die Linien bleiben verschwommen, nur leicht hingehaucht. Sie versetzen den Leser in eine träumerische Stimmung, wie Venedig im Nebel, so sind die Erzählungen: Über allen liegt ein leichter Schleier des Unscharfen.

http://www.editionkeiper.at

Christine Fischer: Glüscksorte in Dresden. Droste Verlag

Untertitel: Fahr hin & werd glücklich

Genau 80 Tipps mit hübschen Fotos und einem sehr persönlichen Text. Man merkt, die Autorin kennt und liebt ihre Stadt. In der großen Auswahl findet jeder einige Tipps für sich. Mir persönlich gefielen folgende Tipps: 33, Der Kulturpalast. Von außen – Architektur aus der Vorzeit, also nicht sehr ansprechend. Aber innen – tolle Akustik, super Musikprogramm. 27 – Die Brühlsche Terrasse – die findet man zwar in jedem Reiseführer, aber dennoch: Das Café lockt mit herrlicher Aussicht, Kuchen und Kaffee vom Feinsten und vor allem mit einem äußerst freundlichen Personal! 67 – Die Parkeisenbahndurch den „Großen Garten“- ich stieg gleich bei der ersten Station aus, um im zauberhaften Café mit Blick auf den Park den Abend ausklingen zu lassen. Ganz besonders gefiel es mir in der Kunsthofpassage in der Neustadt (Tipp 72) – jung, verrückt und super !!! Ein großes Lob auch den diversen Fotografen!

http://www.droste-verlag.de

Elisabeth-Joe Harriet spielt (ist) Kaiserin Elisabeth von Österreich

Die gereifte Kaiserin kehrt zurück in die Kaiservilla und erzählt in ihrem Refugium, den Stallungen, aus ihrem Leben.

Die Kaiserhymne ertönt und das Publikum steht respektvoll auf. Denn: Auf tritt Elisabeth persönlich, , ganz in Schwarz, wie sie sich nach dem Tod ihres Sohnes kleidete. Sie begrüßt die Gäste: „In den Stallungen habe ich immer meine Gäste empfangen.“ Und weiter: „Ja, ich bin wieder auferstanden, im Elysium war es zu langweilig. Außerdem hat man in den Sisifilmen so viel Blödsinn über mich verzapft, da habe ich mich entschlossen, in einem geliehenen Körper zurückzukehren und einiges richtig zu stellen.“ Und dann gleich der erste Schuss vor den Bug der Monarchie: „Die Monarchie ist wie ein alter Eichenbaum, der kracht schon ordentlich!“ Für ihren Franz hat sie volles Mitleid: „Der arme Pechvogel Franz!“ Ja, hätte er nur mehr auf sie und den Sohn gehört, vielleicht wäre ihm, der Monarchie und dem Volk viel Leid erspart geblieben.

Elf lebensgroße Fotos ihrer Familie und Freun hängen, noch verdeckt mit lila Vorhängen – lila und Veilchen, das gehörte zu Elisabeth! – hinter ihr an der Wand. Im Laufe der Vorstellung wird sie ein Bild nach dem anderen enthüllen und dazu ein paar ziemlich unbekannte Familiengeheimnisse enthüllen: Etwa über ihren „Papi“, den Max, Herzog in Bayern. Dass er ein Lebensgenießer war, da ist hinlänglich bekannt. Wie sehr aber, das eröffnet Sissi ungeniert, ohne zu verleugnen, wie sehr sie trotz allem ihren Papi geliebt hat. Über die Ehe ihrer Eltern ist auch nichst Gutes zu berichten. Die Mimi, wie die 8 Kinder ihre Mutter nannten, war ziemlich unglücklich, ertrug den lockeren Lebenswandel mit äußerer Fassung. Musste bereit sein, wenn der Ehegemahl geruhte, sie zu besuchen. Daraus entsprossen dann die Kinder.

Verlobung mit 15 Jahren! Sissi im O-Ton: „Wenn ich geahnt hätte, was auf mich zukommt, hätte ich nicht geheiratet! Ich bin ja richtig verschachert worden!“ Sie rebelliert gegen das Hofzeremoniell, reist durch die Welt, setzt sich für Ungarn ein…all das ist bekannt. Aber wie Elisabeth -Joe Harriet- alles erzählt,, das ist lebendig und spannend. Sie zitiert aus „ihren “ Tagebüchern, liest aus Gedichten vor, zeigt Elisabeth als eine verletzliche, politisch informierte, sich aber im Hintergrund haltende Kaiserin. Eine Frau, die sich verlieben könnte, aber nicht durfte, eine Frau, die in ihrer Gesellschafterin Ida von Ferenczy eine, vielleicht die einzige Freundin, hatte. Letztendlich eine einsame Frau.

Zum profanen Teil: In der Pause wurde Veilchensekt und ein Vanillegebäck serviert. Am Abend traf man sich im Restaurant K&K im Zentrum von Bad Ischl, um über die Vorstellung zu plaudern. Wie immer, wenn Elisabeth-Joe Harriet einen Figur aus der Vergangenheit lebendig werden lässt, trägt sie diese in die Gegenwart hinein. Dazu gehört auch gemeinssames Genießen!

Infos zu allen Darbietungen von Elisabeth-Joe Harriet:

http://www.elisabeth-joe-harriet.com und http://www.v-a-n.at

Christoph Willibald Gluck, Orphée et Eurydice. Ballett-Oper von John Neumeier.

John Neumeier: Regie, Choreografie, Bühne, Kostüme und Licht. Kazuki Yamada: Musikalische Leitung.

Hamburg Ballett John Neumeier.Bachchor Salzburg unter der Leitung von Benjamin Hartmann

Maxim Mironov: Orphée, Andriana Chuchman: Eurydice, Lucía Martín – Cartón: L´Amour

Es war ein atemberaubender Abend! John Neumeier, der Grandseigneur des Balletts, übertraf sich selbst und schuf ein in der Ballettgeschichte völlig neues Genre: Die Ballett-Oper. Waren seit der Barockzeit Balletteinlagen das Beiwerk zur Oper, so dreht Neumeier die Wertung um: Die Ballettszenen beherrschten die Szene, die Arien waren die gesanglichen Glanzpunkte.

Wenn John Neumeier einen Ballettabend choreographiert, dann wird es immer ein Meisterwerk, weil er alles, alles, wirklich alles selbst kreiert: Bühnenbild, Licht, Kostüme und Tanz. Man spürt und sieht bis ins kleinste Detail seine geniale Handschrift. Nur so kann das so genannte „Gesamtkunstwerk“ entstehen.

Um dem Mythos von „Orpheus und Eurydike“ zu aktualisieren, wird aus Orpheus ein Ballettmeister. Man probt Szenen zu einem Ballett nach dem Gemälde des Malers Arnold Böcklin „Toteninsel“. Eurydike soll die Hauptrolle übernehmen, kommt aber meist zu spät zu den Proben. Orpheus rügt sie heftig, sie verlässt beleidigt den Saal, steigt in ihr Auto und verunfallt tödlich. Soweit die Transformation in die Gegenwart. Was folgt, ist die bekannte Geschichte: Orpheus steigt in die Unterwelt, um Eurydike zurückzuholen, überzeugt die Götter der Unterwelt durch seinen Gesang. Doch sie wird nur wieder lebendig, wenn er sich während des Ganges zur Oberwelt nicht nach ihr umdreht. Das Ende ist bekannt. Eurydike stirbt ein zweites Mal.

Staunend erlebt man, wie Neumeier keine Scheu hat, Totenreich und Elysium in Bild und Tanz darzustellen. Die düstere „Toteninsel“ öffnet sich zu großen Spiegeln, Dämonen tanzen einen animalischen Tanz um Orpheus, er aber schreitet angstlos weiter ins Elysium, wo im Hintergrund Eurydike erscheint. Er will sie so schnell wie möglich in die Oberwelt zurückführen. Immer an die Mahnung denkend, dreht er sich nicht um, sondern treibt Eurydike zur Eile. Sie, ein wenig raunzend, dann fast keifend, schließlich eifersüchtig quengelnd zweifelt an seiner Liebe. Als Orpheus, sie tröstend, sich umdreht, entschwindet sie ihm.

Im letzten Akt ist es die zauberhafte Figur L`Amour, die ihn tröstet und erinnert, dass die Kraft der Liebe Eurydike in Vision und Gedanken zurückkehren lässt und ihn für immer beseelen wird.

Maxim Mironov ist die Idealbesetzung. Seine Stimme umfasst mühelos die Höhen des Tenors und die Tiefen eines Baritons. Seine Arien , besonders die berühmte: „J´ai perdu mon Eurydice“ erhielten langen Applaus. Bezaubernd auch Luzía Martín Carton als L´Amour, zuerst seine Assistentin, dann seine „Psycha-gogin“, seine Seelenbegleiterin durch die Unterwelt, und letzlich seine Retterin aus den Untiefen der Verzweiflung. Die schwierige Rolle der Eurydike meisterte Andriana Chuchman bravourös. Schwierig deshalb, weil sie keine „hehre“ Eurydike darstellen sollte, sondern eher eine an der Liebe Orpheus` immer zweifelnde, leicht zickige Ehefrau. Unbedingtes Lob und viel Applaus galten auch dem hervorragenden Bachchor, der – aus dem Orchestergrabend singend – die Szenen in der Unterwelt und Elysium begleitete. Nicht zu vergessen natürlich, die hervorragenden tänzerischen Leistungen des Hamburger Balletts, allen voran das Paar Edvin Revazov und Anna Laudere, die als Schatten von Orpheus und Eurydike wunderbare Pas de deux tanzten.

Frenetischer Applaus und lange standing ovations für John Neumeier. Das Publikum ehrte ihn für sein Gesamtkunstwerk. Denn ihm gelang, was dem Theater der Gegenwart oftmals abhanden kommt: Ein Theater fernab von Polittheater, „moralischer Erziehungsanstalt“ etc. Frei von „Erziehung“ darf sich das Geschehen entwickeln. Das Publikum taucht ein in die Phantasie Neumeiers, der es von der Oberwelt in die Unterwelt und das Elysium führt, ganz ohne Scheu, das Unsagbare und Unzeigbare sicht- und spürbar zu machen. Der Alltag hört auf zu existieren, die Kunst übernimmt die Rolle, die sie seit jeher hatte: In eine andere Welt zu entführen und die Magie wirken zu lassen.

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Theater in der Josefstadt: Henrik Ibsen: Ein Volksfeind

Bearbeitung von Arthur Miller. Regie: David Bösch, Bühnenbild und Video: Patrick Bannwart, Kostüme und Video: Falko Herold

Ein spannendes Stück, auch nach 140 Jahren mehr denn je aktuell. Vielschichtig, keineswegs geht es geradlinig Moral gegen Unmoral, Held gegen Unhold. Das wäre zu seicht. Ibsen wusste, wie man mit „Heldenthemen“ umgeht – man stellt den Held vor unlösbare Situationen. Ganz nach Freidrich Schiller! So muss sich der Kurarzt Dr. Stockmann entscheiden: Lässt er sich auf Kompromisse ein oder bleibt er dabei, das verheerende Wassergutachten zu veröffentlichen? Da muss ihm bewusst sein, dass die Menge, die Stadtbürger und allen voran der Bürgermeister ihm den Konkurs der Stadt vorwerfen können. Denn wer möchte ein Bad besuchen, dessen Wasser nachgewiesener Maßen vergiftet ist? Wenn das Bad nicht eröffnet wird, dann droht allen Familien der Stadt großes Elend, so der Bürgermeister. Großartig, wie der Regisseur den Schluss ansetzt: Gott sei Dank lässt er nicht, wie Arthur Miller es wollte, einen Minister als deus ex machina auftreten, der Dr. Stockmann völlig rehabilitiert und ihm seinen Heldenschein bescheinigt. Bösch lässt auf dem letzten Video die Eröffnung stattfinden – der Bürgermeister spricht lobende Worte für seinen Bruder, Dr. Stockmann. Aus – Ende! Das Publikum darf nun rätseln…und das ist gut so.

Wieder einmak zeigt sich das Ensemble in Höchstform. Auch in der gefühlten fünfzigsten Vorstellung wird auf Vollgas gespielt. Allen voran Roman Schmelzer als Kurarzt Dr. Stockmann. Ihm glaubt man die unna“chgiebige Haltung. Er ist einer, der sich nicht kaufen lässt. Er bleibt dabei, dass man mit der Lüge nicht weit kommen werde. Spätestens, wenn sich die Krankheitsfälle häufen werden, würde der Schwindel auffliegen. Diesem temperamentvollen Arzt und Familienvater tritt ein ebenso temperamentvoller Bruder, der zugleich Bürgermeister der Stadt ist (intensiv: Günter Franzmeier!, entgegen . Die beiden schenken sich nichts an Zorn, Empörung auf Seiten des Arztes, Hinterlist, politisches Taktieren unter Einsatz alller Mitteln, besonders der Medien, auf der Gegenseite. Die Medien bekommen von der Regie ihr Fett ganz gehörig ab: Da ist der laxe und feige Verleger Aslaksen /André Pohl. Er dreht sein Zeitungsblatt nach dem günstigsten Wind, ist für den Bürgermeister Steigbügelhalter. Interessant ist auch Kathrin (Martina Ebm als Ehefrau des Arztes) – auch sie ist keine „geradllinige Figur“: Obwohl sie voll und ganz zu ihrem Mann steht, verlässt sie ihn mit dem Sohn und dem Kind, das sie erwartet. Ihr ist es wichtiger, die Kinder in Sicherheit zu bringen als unter dem „Heldendruck“, dem sich ihr Mann auslieffert zu leben. Spätestens ab diesem Moment gerät die Überzeugung des Arztes ins Schwanken: Familie oder Heldentum?

Großartig von allen gespielt. Kluge Regie und kluge Videozuspielungen. Gut, dass das Stück auch in der kommenden Saison am Spielplan bleibt!

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Martin Suter, Melody. Diogenes

“ Der kanns halt“, meint die Bibliothekarin, mit der ich gerne einen Plausch über Neuerscheinungen abhalte. Und macht dazu eine Handbewegung, die so zwischen Bewunderung und „wissen wir eh“ wedelt.

Ja, Martin Suter kanns wirklich, auch wenn er immer wieder aus demselben Personentopf schöpft: Da ist ein immens Reicher, alt, aber noch klar im Kopf. Da ist viel Geld, viel Korruption – ach, dazu sagt man eleganter „Einflussnahme“. Da ist ein armer, brotloser Jungjurist und da ist eine schöne, geheimnisvolle Frau. Und eine Superköchin darf nicht fehlen, die die feinsten italienischen Gerichte serviert. Man meint, das kennt man doch schon alles, dann aber doch nicht ganz, denn Suter lässt sich nicht so leicht in die Karten schauen.

Der Plot entwickelt sich wie die russische Puppe: Die Außenpuppe: Der reiche Nationalrat in Ruhestand. Dr. Stotz stellt den jungen Tom Elmer an, der seinen Nachlass ordnen soll. Zweite Puppe: Eine geheimnisvolle Schöne. Sie ist lange schon tot oder verschwunden, war die Braut von Dr. Stotz. Dritte Puppe: Elmer und die Nichte von Dr. Stotz schälen ein Geheimnis nach dem anderen heraus. – Rauskommt: Die vierte und fünfte und sechste Puppe – immer Dr. Stotz, der nicht der ist, als der er in der Gesellschaft gilt. Die Doppelgesichtigkeit, die Doppelperson – ein häufiges Thema in der Literatur, besonders in der Schweiz – Max Frisch, auch Dürrenmatt. Bei Suter ist es die Freude am Vexierspiel, die Freude, den Leser auf Spannung zu halten. Was ihm ja immer wieder gelingt. Und die Freude an der Kritik der superreichen und supersatten Gesellschaft, der Politiker und derer , die sichs richten. Auch in diesem Roman. Mehr sei hier nicht verraten.

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Virginia Hartmann, Tochter des Marschlandes

Aus dem Amerikanischen von Frauke Brodd. Wilhelm Heyne Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe

Ihrem Vater verdankt Loni Mae die Liebe zur Natur. Sie erfährt alles über das Leben der Tiere im Marschland Floridas, insbesonders interessiert sie sich für Vögel, die sie perfekt zu zeichnen lernt. Als ihr Vater eines Tages vom Fischen nicht mehr heimkehrt, heißt es, es wäre ein Unfall gewesen. Nach dem Tod des Vaters beschließt Loni Mae nach Washington D.C. zu ziehen, wo sie eine interessante Stelle im Smithsonian Institut bekommt. Sie ist dort glücklich, zeichnet Vögel und hat Freundinnen. Doch eines Tages ruft sie ihr Bruder dringend nach Hause zurück, da die Mutter im Altersheim liegt und unter schwerer Demenz leidet. Er hat das Elternhaus verkauft, um damit das Heim für die Mutter zu finanzieren. Was für Loni Mae als Kurzaufenthalt beginnt, dehnt sich in die Länge. Immer mehr beunruhigt sie der Gedanke, dass der Tod des Vatters kein Unfall war, sondern Mord. Und sie macht sich auf die Suche nach Beweisen.

Klingt, wie ein guter Krimi. Aber eigentlich erwartete sich der Leser etwas anderes – anglelockt durch den Titel, der an den tollen Roman von Delia Owens, Der Gesang der Flusskrebse erinnert. Doch leider hält der Titel nicht, was er verspricht. Viele Seiten kämpft sich der Leser durch Banalitäten, wie Umzugskartons, Streitigkeiten mit Bruder und Schwägerin, Grillparty – und irgendwann legt er das Buch weg.

http://www.heyne.de

Robert Seethaler: Das Café ohne Namen. Claassen bei Ullstein Buchverlage

Im bis zum letzten Platz ausverkauften Theater in der Josefstadt las Robert Seethaler aus seinem neuen Roman „Das Café ohne Namen“. Die Moderatorin Katja Gasser führte humorvoll durch den Abend. Gleich zu Beginn korrigierte Robert Seethaler sie, als sie von „Figuren“ des Romans sprach: „Es sind Menschen aus Fleisch und Blut, über die ich schreibe. Figuren sind mir zu abstrakt.“ Wie wahr ist es, wenn Seethaler diesen Ausdruck für die Menschen, die im Café, rund um den Karmelitermarkt und Prater leben, ablehnt. Denn immer schon – in all seinen Romanen – zeichnet Seethaler Menschen aus Fleisch und Blut. Sie leiden, leben, überleben, lassen sich nicht unterkriegen. Da ist immer jemand, der zuhört, ein Ort, wo man reden, vielleicht auch nur vor sich hin brabbeln kann, ein Bier oder mehr trinken kann, Als Robert Simon – die Namensähnlichkeit mit dem Autor mag kein Zufall sein – 1966 das kleine Café am Karmelitermarkt eröffnet, ist es zu Beginn nicht mehr als eine Wärmestube. Doch bald entwickelt es sich zum Zentrum für alle, die am Markt arbeiten, die rundum wohnen, die Einsamen, die Redebedürftigen. Frauen, die Anschluss suchen, Frauen, die sich zum „Leutausrichten“ regelmäßig treffen. Tausend kleine Bilder entwirft der Autor zu einem Kaleidoskop der Zeit, die ein Aufbruch war und doch für viele kein Weiterkommen bot. „Ich werde beim Schreiben ständig von einer Bilderflut überschüttet“, sagt Seethaler. Ihm sei es wichtig, „die Menschen in seinem Roman mit einer Würde auszustatten“. Die umhüllt jeden einzelnen, auch den hoffnungslosen Preisboxer vom Heumarkt oder die leicht verrückte Frau, die eines Tages auftaucht, trinkt, Unsinn redet, dann plötzlich nicht mehr da ist. Schauplatz ist die Leopoldstadt – und Gott sei Dank lässt Robert Seethaler das Thema Juden und Nazi unberührt. Denn ihm geht es nicht um das sattsam schon abgehandelte Thema der Vergangenheitsaufarbeitung, sondern darum, zu zeigen, welche Kraft und Überlebenswille in den Menschen stecken, auch wenn sie fast schon am Boden liegen und meinen, das Leben endet gleich. Es ist ein Buch voller Zärtlichkeit, Menschlichkeit und Hoffnungswille.

http://www.josefstadt.org und http://www.ullstein.de

Elmar Goerdens Umarbeitung des Stückes von Maxim Gorkij „Sommergäste“

Regie: Elmar Goerden, Bühne: Silvia Merlo, Ulf Stengl, Kostüme: Lydia Kirchleitner

Wo Goerden draufsteht, da ist Klamauk – einige sagen: intellektueller Klamauk – drinnen. In seiner Bearbeitung der „Sommergäste“ hat er sich als „maître de plaisir“ ausgezeichnet. Das Premierenpublikum gröhlte vor Begeisterung – so liest man in einigen Kritiken. In der Aufführung am 25. April blieb die Hälfte des Parketts nach der Pause leer.

Aber jetzt ernstlich: Es ist ja wirklich lustig, wenn man fast das ganze Josefstadtensemble in Badehosen, Bikini oder Ganzkörperbadeanzug herumhopsen sieht, wenn sie in Mordlust oder Sexlust übereinander herfallen. Da wird gekreischt, gestritten, geflucht, gekichert, gefickt, geküsst – ganz pikant mti rotem Tischtennisball, den man sich gegenseitig in die Mundhöhle schiebt. Einige Tanzeinlagen sind gar nicht so schlecht, da schrammt Goerden knapp am Musical vorbei. Ja, und Sinn hat das natürlich auch. Denn schließlich hat Gorki sich dabei was gedacht: Es zeigt, wie selbstverliebt und verkommen die gehobene Mittelschicht war (gemeint 1904 und heute) und ist, sozusagen ein Totentanz auf Klamaukniveau. Das versteht ja jeder. A propos verstehen: In dem ganzen Gekreische und Durcheinander versteht man ja nicht allzu viel, aber wenn die Menschen auf der Bühne dann in den Hintergrund hineinreden oder sich gegenseitig irgendetwas zuflüstern, versteht man gar nichts. Muss man vielleicht auch nicht, oder?

Goerden kann aus dem Vollen schöpfen – das Ensemble macht alles mit, sogar bravourös. Michael Dangl genießt sichtlich seine Rolle als fieser Ehemann und noch fieserer Rechtsanwalt. Seine Frau Warwara (Alexandra Krismer) leidet geheimnisvoll und in Schönheit vor sich hin, woran erfährt man nicht. Köstlich ist Michaela Klamminger als düstere Gothic-Schreiberin. Ihre Parodie auf die Sentimentlyrik hätte sogar Ernst Jandl gefallen. Claudius Stolzmann als Wlas muss sich wie ein Kindergartenkind aufführen und sich dauernd verkleiden – warum, weiß man nicht so genau. Vielleicht, um mehr oder überhaupt Aufmerksamkeit zu bekommen. Silvia Meisterle gibt eine hysterische Funzen ab, ihr Mänadentanz ist eindrucksvoll. Susa Meyer als überforderte Mutter vierer „Gfraster“ streitet mit ihrem Ehemann auf Biegen und Brechen, um gleich danach einen lautstarken Orgasmus zu zelebrieren. Martina Stilp ist die lästige Besserwisserin, die allen Gästen mir ihren Mahnungen und Zurechtweisungen auf die Nerven geht, vor der eignen Tochter (pardon, seit kruzem Sohn) kapituliert. Das ist alles sehr zeitgeistig, manchmal witzig oder mäßig lustig.

Aber – was ist Gordon bei der Rolle Joseph Lorenz´eingefallen? Einen so hervorragenden Schauspieler zum stummen Geist zu degradieren? Er muss immer wieder pudelnass auf der Bühne „erscheinen“, nähert sich spuckend und erbrechend den Sommergästen und verschwindet. Soll das der Leibeigene, der Tod oder die personifiezierte Mahnung an die verlotterte Gesellschaft sein? Dass Lorenz auch diese Rolle mit Eleganz und Bravour meistert, ist eine Sache. Dass aber ein so exzellenter Darsteller solch eine Rolle spielen muss(?), ist Verschwendung von Talent. Das soll auch einmal deutlich gesagt sein!

Freundlicher Applaus mit dem üblichen Standardgekreisch.

http://www.josefstadt.org

Schuberttheater: Die Gesichter der Hedy Lamarr

Buch, Regie und Puppenbau: Kai Anne Schuhmacher

Spiel: Soffi Schweighofer und Markus-Peter Gössler

„Mein Gesicht ist mein Unglück. Mein Gesicht ist meine Maske, die ich nicht abnehmen kann“, sagt die alte Hedy Lamarr. Und doch nimmt ihr das Alter alles ab: Reichtum, Gesicht, Einsicht.

Die Regisseurin erzählt das Leben einer Frau mit vielen Facetten – Gesichtern. Da gibt es die schüchterne Hedy Kiesler, die vor ihrem reichen, aber tyrannischen Ehemann Fritz Mandl nach Amerika ausbüchst, dort das zweite Gesicht sich aufsetzt: das der berühmten Filmdiva, die noch weitere 5 Ehemänner verbraucht,, die eine eigene Filmfirma gründet und damit bankrott geht. Dann das Gesicht der genialen Erfinderin. Und schließlich das Gesicht der alternden, arbeitslosen Kleptomanin, die vor Gericht steht.

Berührend und ideenreich, besonders die Überlappung der (echten) Filmszenen mit der lebendigen Lamarr – in genialer Ähnlichkeit von Soffi Schweighofer gespielt – und immer wieder die alte, verzweifelte Hedy. Etwas überhaps wird leider das Leben durchlaufen, muss Markus Gössler sich in Windeseile in die diversen Ehemänner verwandeln. Da hätte man nachschärfen müssen, oder einiges weglassen.

http://www.schubertheater.at

Das Muth: „Hemingways Liebeshöllen“

Sona Mac Donald und Johannes Krisch: Rezitation, Philipp Jagschitz: Klavier

Eigentlich ist der Titel der Veranstaltung irreführend. Denn Angelika Hager, die für Text und Dramaturgie verantwortlich zeichnet, konzentrierte sich mehr auf die Frauen Hemingways und deren „Höllenqualen“. Johannes Krisch als Hemingway ist mehr oder weniger Stichwortgeber, hin und wieder seufzt er, resigniert und raisonniert darüber, wie ihn doch die Frauen und die Liebe quälen – all das sehr gekonnt! Aber leiden – leiden, das müssen die Frauen, und das führt Sona Mac Donald recht deutlich mit Text und Lied – begleitet von Philipp Jagschitz – dem Publikum vor Augen.

Es beginnt mit der Liebe zwischen Martha Gellhorn und Hemingway. Die beiden vorigen Ehefrauen Hadley Richardson und Pauline Pfeiffer sind Geschichte. Martha Gellhorn tritt auf und bald schon wieder ab. Sie muss die (platonische ?) Liebesgeschichte zwischen Ernest und Adriana Ivancich verkraften, die Reise- und Jagdlust ihres Ehemannes, der sie oft alleine zu Hause sitzen lässt. Scheidung, neue Ehe mit Mary Welsh. Am Ende dann die große – wirklich platonische Liebe? – mit Marlene Dietrich. Und Hemingways Selbstmord. Das alles erzählt, erlebt, ersingt Sona Mac Donald mit Bravour. Der Abend endet berührend mit dem Lied Marlenes: „Sag mir, wo die Blumen sind“ – eine deutliche Anklage der Männer, die Kampf, Krieg und Vernichtung über die Wellt bringen.

Viel Beifall!

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off Theater: „Heute Abend: LOLA BLAU“

Es trinkt, spielt und singt: Tamara Stern. Regie: Ernst Kurt Weigel, Klavier: Marcelo Cardosa Gama, Kontrabass: Mathias Krispin Bucher.

Georg Kreisler schrieb dieses „Einfraumusical“ über die imaginierte Sängerin Lola Blau 1971, als er, aus den USA zurückgekehrt, ziemlich negative Erfahrungen in Österreich machen musste. Lolas Schicksal ähnelt seinem und dem vieler Juden, die 1938 aus Österreich emigrierten.

Tamara Stern als Lola ist hinreißend und intensiv. 1938 ist Lola gerade dabei, sich in Wien eine Karriere aufzubauen, als ihr Freund sie telefonisch auffordert, dringend das Land zu verlassen. Ein Treffpunkt in der Schweiz wird ausgemacht, doch er kommt nicht. Lola reist allein mit dem Schiff in die USA. Auf dem Schiff verdient sie ein wenig Geld mit Tingeltangelauftritten. In den Staaten gelingt ihr tatsächlich eine spektakuläre Karriere, allerdings führen die Stufen oft über Betten, wo ungeliebte Liebhaber den Dank einfordern. Doch – Optimistin – wie sie ist, kann sie alle Verwundungen und Enttäuschungen „wegsingen“. Ihre Lieder sind erotisch – das gefällt den Männern -, witzig, ironisch – das gefällt allen. Manchmal, wenn die Sehnsucht nach ihrem Freund und der Heimat zu groß ist, dann singt sie ganz für sich ein jüdisches Lied. Als sie nach dem Krieg nach Wien zurückkehrt, muss sie feststellen: Es hat sich nichts geändert. Vernadern, verachten, hassen, zuschlagen – alles wie gehabt.

Tamara Stern ist eine Lola Blau, die man sofort ins Herz schließt: zuerst mädchenhaft kindisch, kokett mit Publikum, dem roten Kleidchen und den beiden Musikern spielend (Pianist Marcelo Cardoso Gama und Cellist Matthias Krispin Bucher spielen nicht nur tolle Musik, sondern tragen auch ihr Schärflein zur Komik bei!!), dann wieder schlägt die Stimmung um: Sie wird nachdenklich, traurig, selten wirklich niedergeschlagen. Dazu ist Lolas Überlebenswille zu groß. Wenn sie lacht, dann aus ganzem Herzen. Sie scheut auch nicht Klamauk, wenn sie etwa ganz „patschert“ auf dem Klavierdeckel herumkriecht in der kindlichen Hoffnung, erotisch zu wirken. .

Tamara Stern lässt das Publikum glauben, es sei ihr eigener Lebensweg, den sie darstellt. Intensiv kann sie über die Männerwelt lästern, auch die Theaterdirektoren bekommen ihr Fett ab. Wenn sie am Ende erfährt, dass ihr Freund auf offener Straße in Wien nach Kriegsende niedergeschlagen und als Jude beschimpft wurde, stimmt sie ihr „Herzenslied“ auf Jüdisch an, und das mit einer Intensität, die aufwühlt. Man trauert mit ihr.

Weitere Vorstellungen am 20. Mai und 9. Juni 2023. Eine Abend, den man nicht versäumen sollte!

Infos und Karten unter:http://www.off-theater.at , karten@off-theater.at oder 0676/ 360 62 06

Fritz Raddatz: Nizza -mon amour. Arche Verlag

Eine Liebeserklärng an die spröde Schöne des Mittelmeers

…untertitelt der Autor sein Büchlein. Fritz Raddatz (1931-2015) war stellvertretender Leiter des Rohwolt Verlages und Feuilletonchef der ZEIT, schrieb Essays und Romane. Sein Stil und Sicht auf die Stadt Nizza erinneren an Joseph Roth: Feine Beobachtungen, Lob gepaart mit harscher Kritik. Etwa über diverse Architektursünden – wie das Hotel Negresco oder das Museum für moderne Kunst. Seine kritischen Bemerkungen sind ebenso treffend wie die Lobeshymnen. Mit diesem Buch in der Tasche spaziert man mit „kritischem Verstand und Auge“ des Autors bestens ausgerüstet durch die Stadt. Durch seine sehr persönlichen Bemerkungen unterscheidet sich dieses Buch über Nizza wohltuend von den Reiseführern.

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David Hewson, Garten der Engel. Folio Verlag

Aus dem Englischen von Birgit Salzmann

David Hewson ist Italien-, besonders aber Venedigkenner, wo er seit dreißig Jahren lebt. Das Thema „Juden in Venedig unter Mussolinis Herrschaft“ lag lange brach, bis es dieses Jahr gleich durch zwei Autoren aufgegriffen wurde: Edith Schreiber-Wicke schreibt über eine jüdische Sängerin, die vor den Nazis nach Venedig flüchtet, dort aber verschleppt wird – siehe die Besprechung unter „Büchertipps“ – Ihr Schicksal bleibt ungewiss. David Hewsons Buch greift viel tiefer in die Untiefen des Jahres 1943, als die Deutschen in Venedig wie Berserker gegen Juden – egal ob alt oder Baby – vorgingen.

Anlass für David Hewson, dieses Buch zu schreiben, war die Geschichte des Professor Giuseppe Jona. Er war Vorsteher der jüdischen Gemeinde Venedigs und weigerte sich, den Nazis eine Liste aller in Venedig lebenden Juden zu übergeben. Giuseppe Jona beging am 17. September 1943 Selbstmord. Er wurde das Vorbild für den Arzt Diamante in der Geschichte. Die übrigen Figuren sind fiktiv, aber dem tatsächlichen Geschehen des Jahres 1943 angepasst, wie der Autor im Nachwort schreibt.

Die Geschichte spielt auf zwei Zeitebenen: 1943 und in der Gegenwart, wodurch sich auch zwei ineineander verwobene Erzählstränge ergeben. Im Wesentlichen geht es aber um die Monate September 1943 und später. Der knapp 16-jährige Paolo lebt in Venedig in einem verfallenen Haus mit einigen Webstühlen, hat wenig Kontakt mit der Umwelt, bis eines Tages ein Geschwisterpaar mit vorgehaltenem Messer Einlass begehrt. Es sind von den Nazis gesuchte Partisanen. Der bis dahin von Politik und Weltgeschehen unbeleckte Junge wird nun mit der grausamen Realität konfrontiert: Wie Nazis auf alle Juden und alle, die sich aufmucken, Jagd machen. Menschen werden gefoltert und öffentlich hingerichtet. Der jüdische Arzt Diamante erstellt zwar die Liste der Juden, verbrennt sie jedoch und begeht Selbstmord. In einem infernalischen Akt fangen die Nazischergen alle Personen, die irgendwie nur verdächtig sind, unter anderem den Priester, und erschießen sie.

Es ist ein notwendiges Buch, das schon lange darauf gewartet hatte, geschrieben zu werden. Was Hewson von anderen „Krimiautoren“, unter die er gerne gereiht wird, unterscheidet, ist die differenzierte Sicht auf die Personen: Mitläufer aus Angst, Widerständler aus Wut, solche, die sich freiwillig zu Schergen machen, solche, die mitmachen und dabei versuchen, ihr Fell zu retten, wenn das Naziregime vorbei sein wird. Solche, wie Paolo, der völlig unschuldig in diese infernalische Hetze hineingerät. Solche, wie die Partisanin, deren ungebremste und unreflektierte Wut ihr selbst und Unschuldigen zum Verhängnis wird.

Ein wichtiger Roman, spannend und mit Detailkenntnissen versehen, der unbedingt gelesen werden muss!

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Sophie Heinrich und Paul Rivinius: In Almas Musiksalon, verlegt ins „Muth“

Foto „das Muth“: Helmut Karl Lackner

Die Idee, einen Salon, besser DEN Salon à la Berta Zuckerkandl ins Heute zu transportieren, hatte Sophie Heinrich, Konzertmeisterin bei den Wiener Symphonikern, schon vor einiger Zeit gehabt. Nach ausgiebigem Studium der Literatur über „das Teufelsweib Alma Mahler“ hatte sie Musik von Alma, ihrem Lehrer Alexander Zemlinsky, ihrem Ehemann Gustav Mahler für den Salonabend im Muth zusammengestellt.

Sophie Heinrich spielte auf einer Stradivari. Ihr Begleiter auf einem Bösendorfer Flügel war Paul Rivinius. Neben dem Klavier deuteten ein Lehnsessel und eine alte Stehlampe die Atmosphäre eines Salons um 1900 an. Dort saß Sophie Heinrich und las Zitate aus Almas Tagebuch und Beobachtungen von Zeitgenossen vor. Nach dieser kurzen Introduktion griff sie zum Instrument und verwandelte sich in eine wahre Teufelsgeigerin. Paul Rivinius war ein behutsamer Lenker durch die manchmal recht furiose Salonmusik.

Den Auftakt machte die Serenade in A-Dur von Alexander Zemlinsky, der Alma in Kompositionslehre unterrichtete. Zwischen den beiden soll es ja ein inniges Techtelmechtel gegeben haben. Die Musik ist teils zärtlich-einschläfernd, teils hart und energisch, wie er sich in Gegenwart der Schönen gefühlt haben mag. Dann kam Alma selbst zu Wort – eher zur „Note“. Bevor sie Gustav Mahler heiratete, komponierte sie selbst eifrig. Die beiden Liebeslieder „Bei dir ist es traut“ und „Waldseligkeit“ klingen innig, zärtlich. War die Adresse, an die sie gerichtet waren, noch Zemlinsky oder schon Mahler? Eher Zemlinsky, denn Mahler hatte ihr ja strikt verboten zu komponieren: „Du sollst so werden, wie ich dich brauche!“ schreibt er seiner Braut. Sie soll – so erzählt Sophie Heinrich – eine Nacht lang in ihrem Zimmer ratlos auf und abgewandert sein, unschlüssig, ob sie so einen Tyrannen heiraten will. – Sie wollte! Denn Ruhm und Genialität eines Mannes zogen sie ihr ganzes Leben hindurch an. Und sie scheint sich an dieses Verbot gehalten zu haben. Es wurden außer diesen beiden Liedern aus der Brautzeit keine späteren Kompositionen gefunden. Jedenfall dankt ihr Mahler mit einem innigen Liebeslied und mit dem zu Herzen gehenden Adagietto aus der 5. Symphonie – einfühlsam und virtuos von Sophie Heinrich gespielt, Die Bearbeitung für Violine und Klavier stammt von Robert Wittinger.

Danach vergönnten die beiden Interpreten dem Publikum eine Pause und mit der Sonate von Richard Strauss Erholung von so viel Liebesgeflüster. Diese erfrischende Salonmusik schrieb Strauss mit 23 Jahren und da wußte er bereits, wo es lang gehen soll. Alle Charakteristika seiner Musik waren schon aufbereitet – spannend zu hören!!

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Wiener Konzerthaus – Zwei Abende, die Musik und Dichtung verbinden.

31. Mai 2023, 12.30h: Markus Meyer liest E.T.A. Hoffmann: Seltsame Leiden eines Theaterdirektors. Am Klavier: Adele Liculescu spielt Diverses von Robert Schumann

14. Juni 2023, 19.30h:“Liebe und Verlust“, Udo Samel liest Gedichte und Texte von Goethe. Am Klavier Julius Drake mit Liedern von Schubert bis Beethoven. Tenor: Christoph Prégardien.

Margret Greiner: MÄDA & MÄDA. Gustav Klimt, die Wiener Werkstätte und die Familie Primavesi

Verlag Kremayr & Scheriau

Sie hat es wieder getan! Margret Greiner hat sich in ihrem neuen Buch wieder auf die Zeit rund um den Maler Gustav Klimt konzentriert. Vorausgegangen sind schon mehrere Bücher über die „Frauen um Gustav Klimt“ :Emilie Flöge, Stonborough-Wittgenstein, Beer-Monti). Nun also galten ihre Recherchen der Familie Primavesi, vor allem Eugenia Primavesi, genannt Mädä, und ihrer Familie, darunter die Tochter Eugenia Gertrude Franziska, ebenfalls Mädä genannt.

Es beginnt recht unterhaltsam: Die gerade einmal 15jährige Eugenia Butschek will Schauspielerin werden. Entsetzen bei der Mutter, Skepsis beim Vater. Wenn sich das Mädchen was vornimmt, dann führt sie es durch. Diese Eigenschaft wird ihr bis ins hohe Alter auch als Eugenia Primavesi erhalten bleiben. Das junge Ding macht Blitzkarriere in Olmütz, wird von dem reichen Unternehmersohn Otto Primavesi verehrt und ziemlich rasch geheiratet. Die Familie Primavesi besitzt eine Zuckerfabrik und ist reich, sehr reich. Eugenia kann nach Lust und Laune Häuser, Villen „bestellen“ und einrichten. Dabei wird sie nicht nur von ihrem Ehemann mit Geld und Verständnis tatkräftig unterstützt, sondern auch von dem Allroundkünstler Anton Hanak und dem Architekt Joseph Hoffmann. Sie setzt sich für deren „Kind“, die Wiener Werkstätte“. ein Gemeinsam mit ihrem Ehemann unterstützt sie diese Kunstrichtung, auch finanziell. Ihr Häuser in Wien und Winkelsdorf werden natürlich nach den strengen Regeln der Wiener Werkstätte eingerichtet und bald zum Zentrum und Zufluchtsort für Gustav Klimt, der auch die beiden Mädä malt (Umschlagbild), den Architekten Joseph Hoffmann und viele andere. Man feiert herrliche Feste bis in die Zeit des Ersten Weltkrieges hinein. Eugenias Engagement für die Wiener Werkstätte gibt Margrit Greiner Gelegenheit, sehr detailreich diese Kunstrichtung zu schildern. Manchmal etwas zu ausführlich.

Aus verschiedenen Gründen – vor allem aber, weil Eugenia Primavesi als künstlerische Leiterin der Werkstätte sich weigert, eine billige und besser verkäufliche Produktion zu akzeptieren, muss ihr Ehemann , der für die Finanzen zuständig ist, den Konkurs anmelden. Die Ehe wird geschieden, die vier Kinder leben mit der Mutter, werden sich noch in der Nazizeit in alle Welt verstreuen. Tochter Mädä geht nach Kanada, wo sie ein Heim für sozial benachteiligte Kinder gründet und sehr erfolgreich führt. Beide Mädas sterben hochbetagt.

Margret Greiner ist eine versierte Romanbiografie Verfasserin und betreibt vorab intensive Recherchearbeiten, die sie geschickt und oft sehr amüsant in den Text einbaut. Genaue Beobachtung, Menschenkenntnis, gepaart mir Humor und sanfter Ironie sind ihre Stärken. Das Buch ist „lehreich“, ohne belehrend zu wirken.

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Grafenegg – Schlossklänge: Mendelssohn-Bartholdy, Paulus Oratorium

Tonkünstler Orchester Niederösterreich, Dirigent: Fabien Gabel, Arnold Schönberg Chor: Leitung Erwin Ortner

Nikola Hillebrand: Sopran, Johanna Krokovay: Alt, André Schuen: Bariton, Werner Güra: Tenor

Mit dem Oratorium „Paulus“ (Uraufführung 1836 in Düsseldorf) wurde Mendelssohn-Bartholdy schlagartig in ganz Europa bekannt. Er wurde als Originalgenie gefeiert, einer der die Romantik mit der Klassik versöhnte und neu aufstellte. Oratorien wurden vor ihm zahlreich komponiert, alle mit dem Ziel, die Reformation zu stoppen. Nun also kommt ein Komponist mit jüdischem Hintergrund und protestantischem Glauben und versöhnt die Gegensätze!

Der Schönbergchor beginnt mit Macht einen Triumphgesang zu Ehren Gottes, dann setzen die Solistimmen ein:

Mit klarem Sopran, herrlich in der Höhe, sicher in der Mittellage singt Nikola Hillebrand von Stephanus. Dann setzt der Tenor (Werner Güra) etwas verhalten fort mit der Geschichte der Juden, die Moses‘ Gesetze missachteten. Erster Höhepunkt ist die hochdramatische Forderung, formuliert vom Chor: Steinigt ihn (Stepahnaus). Kühl, fast wie ein Chronist, bestätigt der Tenor (Werner Güra)) die Tat. Spätestens mit diesen Szenen versetzt der Komponist die Zuhörer in Hochspannung, untermalt von dem Orchester, das Fabien Gabel stilsicher dirigiert. Opernhaft geht es weiter: Saulus erfährt an sich die Erleuchtung und wird zu Paulus. Großartig setzt da André Schuen mit seinem volltönendem Bariton, der bis in die Tiefen des Basses reicht, ein – er ist ein demütig-kraftvoller Paulus, ein Erneuerer, der die Worte des Herrn über die Grenzen verbreiten wird. Seine Arie „Ihr Männer, was macht ihr da?“ ist Mahnung, Aufforderung, die Gräben zwischen allen Menschen zuzuschütten! Kaum eine passendere Botschaft an all die kriegswahnsinnigen Machtgierigen hätte zu Zeiten wie diesen musikalisch erklingen können!

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Theater in der Josefstadt: Leopoldstadt

Text: Tom Stoppard, Deutsch von Daniel Kehlmann, Regie: Janusz Kica, Bühnenbild und Kostüme: Karin Fritz

Tom Stoppard schrieb eine Art „Theaterdoku“ über das Schicksal zweier jüdischer Familien, vier Generationen umspannend, beginnend in den Jahren 1870, endend in den späten 1950er Jahren. Zu Beginn wird groß gefeiert, fast alle Mitglieder sehen optimistisch in die Zukunft. Besonders Hermann Merz, Chef der gutgehenden Textilfabrik Merz, hat allen Grund zur Freude und Optimismus: Die Geschäfte gehen gut, ob Jude oder Nichtjude spielt gesellschaftlich und wirtschaftlich keine Rolle. Wien ist eine aufstrebende Metropole der Kunst und Wissenschaft, Freud, Klimt, Mahler sind Namen, die man wie selbstverständlich bemüht. Ein Klimtporträt hängt im Salon. Aber Hermann Merz und die Seinen sehen die drohenden Zeichen am Horizont nicht aufkommen. Herbert Föttinger spielt diesen selbsticheren Pater familias und erfolgreichen Chef der Firma mit Autorität und Charme. Nur einer in der Gesellschaft ahnt oder weiß, dass Juden in der Welt kein sicherer Platz gegönnt ist: Ludwig Jakobowitz (Ulrich Reinthaller) ist der Realist in der Gruppe, dem aber niemand wirklich zuhört.

Der Vorhang fällt, und wenn er aufgeht, sind Jahre vergangen. Die Familie ist deutlich dezimiert und lebt zusammengepfercht in einem Raum. Als ein „Zivilist“ (Joseph Lorenz) eintritt, ist das Schicksal der Familie besiegelt: Hart, ohne Mitgefühl, gefährlich leise registriert der Beamte der neuen Partei die Namen der Anwesenden, gibt ihnen eine Viertelstunde Zeit, um einen kleinen Koffer zu packen. Danach werden sie in verschiedene Lager abtransportiert – eine der eindrucksvollsten Szenen dieses Abends

Wieder viele Jahre später: Österreich in den 1950er Jahren. In der kahlen ehemaligen Wohnung der Familie treffen sich die letzten drei Überlebenden aus der Familie. Alle anderen sind in Konzentrationslagern umgekommen oder haben Selbstmord begangen.

Der Vorhang fällt, und das Publikum zögert eine gespürte WEile mit dem Applaus. Jeder fragt sich wohl: kann man, darf man nach diesem bedrückennden Ende applaudieren. Natürlich gibt es Applaus! – Für die beeindruckende Leistung des ganzen Ensembles.

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Als Kind eines genialen Vaters aufzuwachsen, ist meist eher Last als Lust und Freude. Nur wenige haben es geschafft, über den Schatten des großen Vaters zu springen und eine eigene Karriere aufzubauen, wie etwa die vier Söhne Bachs.

August hatte das Pech, dass er als sensibles Kind nicht die Kraft hatte, sich dem Vater zu widersetzen. Er hätte sicher ohne die Einmischung seines Vaters ein ruhiges, vielleicht auch glückliches Leben geführt. Der Biograf Stephan Oswald zeichnet auf Grund vieler Quellen ein ganz neues Bild von August: Ein Kind, ein junger Mann mit eigenen Interessen und Lebenswünschen. Doch der Vater bestimmt jeden Schritt, der Sohn hat da nichts zu vermelden. Er muss Jus studieren, was er gehorsamst tut. Er wird ein tüchtiger Beamter. Er muss eine Ehe mit einer reichen Adeligen eingehen, die ihn und sie überhaupt nicht glücklich macht. Er trinkt, wird aber kein Alkoholiker, wie allgemein immer angenommen wird. Er stirbt in Rom nicht an der Alkoholsucht, sondern an einer Gehirnblutung.

Stephan Oswald zeigt minutiös und sehr überzeugend auf, wie eine kalte Vaterhand das Leben eines Kindes ruinieren kann. Der große Dichterfürst und einflussreiche Politiker in Weimar benützte seinen Sohn für seine Dienste und Zwecke. Mit dieser Biographie wird das Bild des Sohnes zurechtgerückt. Stephan Oswald gelingt eine längst fällige Korrektur und ein ganz anderer Blick, als man bisher gewohnt ist, auf August von Goethe.

Was der Titel klar macht: Der Einfluss von Christiane Vulpius bleibt unbesprochen. Sie war ihm, soweit bekannt, eine liebevolle und verständige Mutter und versuchte die Kälte des Vaters auszugleichen.

Eine Biografie, die nicht nur für Germanisten und Historiker lesenswert ist.

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Tonkünstler: Puccini/Mendelssohn/Nielsen – Festspielhaus St. Pölten

Dirigent: Vincenzo Militarì. Violine: Benny Tseng

Giacomo Puccini: Preludio sinfonico

Puccini war zu Beginn seiner Komponistenkarriere ein begeisterter Anhänger Richard Wagners., wie man aus diesem kurzen Musikstück deutlich heraushören konnte. Weich, schwärmerisch hört es sich an, nichts noch von „Tosca“ oder „La Bohème“. Als Jugendwerk dafür um so interessanter, weil man sich wundert, wie schnell sich Puccini von Wagner verabschiedet und in seinen Opern eine ihm ganz eigene Tonsprache gefunden hat. Der junge italienische Dirigent Vincenzo Militarì hebt den schwärmerischen Tonus des Preludiums elegant hervor, lässt das Publikum so richtig „romantisch“ träumen. Um dann umso schärfer, in fast aggressivem Ton das nächste Stück zu dirigieren:

Felix Mendelssohn Bartholdy: Konzert für Violine und Orchester e-Moll op.64

Militarì muss sich wohl an die virtuose Rasanz seines Solisten, des Geigers Benny Tseng, anpassen. Tseng stammt aus Taiwan und achtet wie viele Solisten aus dem asiatischen Raum in erster Linie auf klares, virtuoses Spiel. Schnelligkeit ist kein Bonus, sondern Voraussetzung. Ebenso Virtuosität. Dass dabei in manchen Passagen der Schmelz, die Weichheit, wofür das Konzert ja bekannt ist, ein wenig zu kurz kommt, nimmt Tseng in Kauf. Gleich zu Beginn brilliert er mit dem Hauptthema und verleitet Orchester und Dirigent zu einem fast atemlosen Spiel. Im Andante des 2. Satzes lässt er sich dann doch auf die fließende Melodie der Kantilenen ein und kommt zu einer gewissen Ruhe, um im 3. Satz, im Allegro molto vivace, dann vollends mit seinen griffsicheren Fingern zu brillieren.

Carl Nielsen: Symphonie Nr.2 op.16 – „Die vier Temperamente“

Der in Dänemark 1865 geborene Carl Nielsen ist trotz seiner Erfolge zu Lebzeiten bei uns weniger bekannt. Um so spannender ist seine Komposition „Die vier Temperamente“ – inspiriert von der Typenlehre des Hippokrates. Militari und das Orchester waren sich einig: keine Übertreibungen, sondern klare Aussagen: Im ersten Satz „Allegro collerico“ hört man bestens das cholerische Temperament: leise brodelt die Melodie, um sich dann in Grimmigkeit zu steigern, ohne überlaut zu werden – das wäre zu sehr Klischee. In dem dem Phlegmatiker gewidmeten Satz weiß Nielsen gekonnt den Humor einzusetzen: Man hört förmlich die Frage des Phlegmatikers: Soll ich, soll ich nicht? Eher nicht. Die Töne ruckeln und zuckeln, zögern, ein Stück vor, zwei zurück. Das „Andante malincolico“ klingt ganz nach Mahler, obwohl, so heißt es in der Literatur, Nielsen sich nicht viel aus seinem berühmten Zeitgenossen machte. Militarì führt das Orchester mit feiner Behutsamkeit, lässt das Publikum in genüsslicher Traurigkeit schwelgen. Wenig überraschend sprudelt der Sanguiniker über vor Geschäftigkeit, Aber dann- ein zarter, fein komponierter Schluss, der alle vier Temperament tröstlich einschließt.

Ein zufriedenes Publikum dankt mit viel Applaus.

http://www.festspielhaus.at

Aus dem Italienischen von Katharina Schmidt und Barbara Neeb

Edna, eine 89jährige Frau, verlässt ihr Heim und macht sich mit ihrem Papagei Emil auf, um in Ravensburg, das viele Kilometer weit im Norden liegt, ihren Freund Jakob aus der Kindheit zu suchen. Der Weg ist lang und beschwerlich, eigentlich unmöglich für Edna zu bewältigen. Sie ist viele Tage unterwegs, wird bestohlen, reist dennoch ohne Geld weiter, findet immer wieder freundliche Menschen, wie Hippies, Esoteriker, Motorradfahrer, die ihre weiterhelfen. Mit Emil in der Transportkiste wird sie da und dort fotografiert, wird berühmt. Als sie in Ravensburg ankommt, ist ihr Freund am Vortag verstorben. Aber ihr Lebenswille bleibt ungebrochen.

In abwechselnden Kapiteln erzählt die Autorin von der unwahrscheinlichen Wanderung Ednas und alternierend dazu von ihrer Kindheit als Schwabenkind. So nannte man all die vielen Kinder, deren Eltern aus Not sie zu reichen Bauern in den Norden zum Arbeiten und Geldverdienen schickten. Viele überlebten diesen „Sklavendienst“ nicht und starben. Jakob und Edna arbeiteten auf demselben Hof. Mit Emil im Tragkorb wollten sie gemeinsam von diesem Schreckensort, den Knechten und dem Großbauer fliehen. Edna gelingt es, doch sie lässt in ihrer Angst Jakob im Stich. Der wird gefangen genommen, kann aber alles überstehen und später eine Familie gründen. Edna und Jakob – eine Kinderfreundschaft in harten Zeiten – ein gutes Thema, aber leider zu langatmig und streckenweise unglaubwürdig. Immerhin – das Thema der „Schwabenkinder“, die Fronarbeit auf fremden Bauernhöfen leisten mussten, wird ziemlich eindringlich geschildert.

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Stefano Bernardin: Hamlet.

Theater 82er Haus, Gablitz

Nein, es ist kein Irrtum. Stefano Bernardin hat sich seinen Hamlet „zurechtgespielt“ – heißt: Er ist Hamle. Ja, schon, Shakespeare darf auch ein wenig über den Bühnenrand ins Publikum schauen, gerade einmal in einem Sonett oder in manchen „gscheiten“ Sätzen, verdreht und Kopf zerbrechend, wie sie eben sind bei Shakespeare. Die Sätze. Stefano Bernardin hat keine Hemmungen, keine Scheu vor dem „größten Dichter aller Zeiten“, er spielt einen frechen, jungen Hamlet, wie er ihn sieht. Auf die anderen Figuren, die er alle ebenfalls verkörpert, wirft er seinen ganz eigenen „Hamletblick“: So wird aus dem Brudermörder Claudius ein Säufer, der sich bei Bier und bayrischen Klängen im Herrscherstuhl räkelt. Aus der Ehefrau Gertrude wird eine mit dem Fächer wachelnde Tussi. Ja, das alles ist Bernardin, von einer Halbsekunde in die andere wechselt er Minenspiel, Haltung und Stimme. Dauwischen spielt er bravourös Schlagzeug, Gitarre, Trommel und wenn es sein muss, auch Flöte.

Gekonnt entblößt er die Charaktere von Rosenkranz und Güldenstern, macht sie zu kriecherischen Dummköpfen. Auch Polonius bekommt als Schleimer sein Fett weg.Kriechen, korrumpieren, verraten – das alles schimmert sehr bekannt bis in die aktuelle Gegenwart herauf. Ophelia taucht nicht auf, als hätte Hamlet vor dieser zarten Mädchenliebe zu viel Achtung. Sie ins Kloster zu schicken fällt ihm schwer. Und als er von ihrem Selbstmord erfährt, schluckt er ordentlich. Der Schluss ist wieder typisch Bernardin/Hamlet: Ein Stich von einem unsichtbaren Laertes – und weg ist Hamlet.

Viel Applaus im vollbesetzten Haus! Ein sympathisches Theater, das mit interessanten Aufführungen von sich reden macht.

http://www.theater82erhaus.at

„Ein Sommernachtstraum“ – Shakespeare und Mendelssohn Bartholdy

Zyklus Literatur im Konzerthaus

Klavierduo: Sivan Silver und Gil Garburg.

Lesung: Oberon: Michael Maertens, Titania: Marie-Luise Stockinger, Puck: Daniel Keberle

Vorspiel: Leise, leise führt uns Mendelssohn Bartholdy in die Welt der Feen ein. Dann beginnt die Musik zu schwirren, es quirlt, hörbar schlägt Puck seine Kapriolen. Dabei wird sicher niemand einschlafen, auch nicht Titania, denn die hat nichts anderes vor, als Oberon zu drohen und sich über ihn zu ärgern- ein klassischer Ehestreit. Der bleibt gelassen – typisch Maertens: ihn kann nichts aus der Ruhe bringen. Pfiffig, witzig greift Puck, alias Keberle, in das Geschehen ein: er knurrt, juchzt, lacht, ist ein Wesen zwischen Tier und Kobold. Jedenfalls amüsiert er Oberon, vor allem aber das Publikum. Dann spielt das Klavierduo das von der Titania geforderte Schlaflied – und Marie Luise Stockinger fällt mit dem Kopf auf den Tisch. So kann Oberon ruhig seinen Zaubertraum über Titania senden, in dem sie sich bekanntlich in einen Esel verliebt. Die Traumhandlung wird nur verkürzt erzählt und durch die Musik vermittelt.

Nach der Pause wird Titania geweckt, Puck amüsiert sich köstlich (und das Publikum mit Puck mit) über diese „Liebesaffäre zwischen Titania und Esel. Oberon verkündet – ganz imperialer Zauberoberherr – das Ende des Traumes und die Versöhnung mit Titania. Mit dem berühmten Hochzeitsmarsch, der für das Paar Theseus und Hippolyta erklingt, endet der Sommernachtstraum.

Besser hätte man das Datum für diese Aufführung wählen können: Der Frühling brach mit voller Schönheit über Wien herein. Im Konzerthaus spielte man eine laue Sommernacht – gekonnt von dem Duo Silver-Garburg am Klavier in den Saal gezaubert. Die Musik spielte an diesem Abend eine tragende Handlungsrolle – viele Teile des Dramas hat Mendelssohn Bartholdy durchkomponiert, der Text „füllt“ die Lücken, die die Musik lässt, geschmeidig aus. Ein gelungener Abend, ironisch- heiter , wie es zum Frühlingsbeginn passt.

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Theater Scala: RAIN MAN von Dan Gordon, basierend auf dem gleichnamigen MGM- Spielfilm

Inszenierung: Felix Metzner, Bühne und Videos: Marcus Ganser

Charlie Babbitt ist ein Getriebener, seine Firma ist von der Insolvenz bedroht. Da erfährt er, dass sein ungeliebter Vater gestorben ist, und er hofft auf ein fettes Erbe. Daraus wird nichts – alles erbt sein Bruder Raymond. Charlie wußte erstens nicht, daß er einen Bruder hat und schon gar nicht, dass der in einer Klinik für Autisten lebt. Er „entführt“ ihn und hofft durch Erpressung wenigstens die Hälfte des Erbes zu bekommen. Zu Beginn dieser Entführung geht ihm dieser Bruder schwer auf die Nerven, doch mit der Zeit lernt er ihn näher kennen, erkennt am Schluss, dass er ihn nicht mehr als Geldquelle, sieht, sondern als Bruder, zu dem er eine liebevolle Beziehung aufgebaut hat.

Marcus Ganser hat auf der kleinen Guckkastenbühne ein Maximum an Atmosphäre herausgeholt: Den Hintergrund bilden Videos, die sich zur jeweiligen Situation passend ändern: Einmal begleiten Zahlen, dann Computereingeweide oder Andeutungen einer amerikanische Stadtsilhouette das Bühnengeschehen.. Auf einer Drehbühne werden nur die nötigsten Requisiten, wie Sessel, Bank, Bett herein- und ebenso rasch hinausgedreht. Dadurch bleibt das Geschehen im Fluss, fast wie im Film.

Großartige Schauspieler lassen den Film vergessen! Philipp Stix als Charlie Babbitt dreht sich vor Verzweiflung und Aussichtslosigkeit um die eigene Axe, vergeigt sogar die Beziehung zu seiner Freundin Susan (feinfühlig Selina Ströbele). Ohne Übertreibung, ganz unmerklich ändert Charlie den Rhythmus seines Charakters, lernt seinen Bruder kennen und dabei auch sich selbst. Großartig ist Leopold Selinger als autistischer Bruder Raymond! Er hält die für Autisten so typischen Bewegungen, den starren Blick und die zögerlichen Schritte, die immer gleichen Handhaltungen das ganze Stück durch. Man ist irgendwie erleichtert, als er am Ende des Stückes als Leopold Selinger den tosenden Applaus mit feinem Lächeln entgegennimmt und man festsellt, was für ein „fescher Mann“ er eigentlich ist. Auch alle Nebenrollen sind perfekt besetzt: Sibylle Kos als Lucy, Bedienung und Barfrau, Ildiko Babos als Nutte, Rechtsanwältin und Psychiaterin, Hendrik Winkler als Polizist, Pfleger und Sachverständiger und Christoph Prückner als Dr. Bruner.

Die Mischung aus Komik, verhaltener,leicht melacholischer Tragik zieht durch das ganze Stück. Berührend sind die Szenen, in denen Charlie seinen Bruder tanzen lehrt und dieser dann scheu mit Susan tanzt, von Schritt zu Schritt mehr menschliche Nähe zulässt. Heiter-komisch Szenen, in denen Raymond all die Abstürze diverser Airlines aufzählt oder sich auch als waghalsiger Chauffeur des kostbaren alten Autos erweist. Es gab viel zu lachen und vieles, das tief berührt!

Langen und herzlichen Applauf für das ganze Team.

Noch zu sehen bis 6. April 2023

Theater zum Fürchten (TzF), Theater Scala, Wiedner Hauptstraße 108, 1060 Wien, 01/5442070, tzf@gmx.net

http://www.theaterzumfuerchten.at

Theater Akzent: Tim Fischer: Ich bin die Leander-Zarah auf Probe

Buch: Ulrich Heissig und Tim Fischer

Musikalische Begleitung: Oliver Potratz: Kontrabass, Matthias Weibrich: Piano, Bernd Oezsevin: Schlagzeug, Hauke Reuhen: Vibraphon

Tim Fischer, der bekannte Chansonnier und Schauspieler, widmet sich erneut der Legende „Zarah“. Wenn er im Titel ankündigt „Ich bin Zarah“, dann meint er es auch. Er wirft keinen Blick von außen auf die wegen ihrer Nazivergangenheit nicht unumstrittene Diva, sondern vertritt sie, ist sie. In diesem Sinne verteidigt er sie. Die Einstellung Zarah Leanders zu ihrer Teilnahme an Ufafilmen, ihren Auftritte bei Goebbels und vor Hitler war je eher naiv, entschuldigend. Daher lässt Tim Fischer sie sagen: „Ich war eine politische Idiotin!“, was soviel heißt, damit sei alles entschuldigt und erklärt. Für Zarah sicher, für die Nachwelt nicht immer.

Im eleganten Abendkleid mit stilsicherem Ausschnitt tritt Zarah zur Probe 1938 an. Von Hamburg aus soll die Tournee durch Deutschland gehen, sie wird ein Riesenerfolg und ihr Comeback ist gemacht! Diese Probe lässt Tim Fischer das Publikum miterleben, betört es mit bekannten Liedern wie „Kann denn Liebe Sünde sein“, „Ich steh im Regen..“ oder „Ich weiß, es wird noch ein Wunder geschehen“. Tim Fischer erreicht mit seiner tiefen Stimme, dem breiten Timbre und dem rollenden R fast den Zauber Zarahs. Aber nur fast. Was fehlt, ist die Weichheit, die damals die Zuhörer in das Lied hineinzog. Bei näherem Nachdenken über dieses „Manko“, kommt man darauf, dass es passt, weil Tim Fischer ein kluges Konzept verfolgt: Er singt von Liebe, die Text scheinen weich, aber dahinter lässt er eine neue Seite aufglimmen: Zarahs Humor, Ironie, Schlagfertigkeit und Witz – Waffen, mit denen sie sich selbt gegen alle Vorwürfe verteidigt. Etwa, dass sie einige Male bei Goebbels eingeladen war und ihn schlagfertig abwehren konnte. Dass sie eben eine gefeierte Diva war, weil sie von der Liebe sang, eine Liebe, die in Kriegszeiten schlechte Karten hatte. Sie sinniert über die brave deutsche Frau, die gerade erfährt, dass ihr Mann in „Tapferkeit vor dem Feind“ sein Leben für das Vaterland gelassen hat. Wie wird sie sich und ihre zahlreichen Kinder durchbringen? Wenn Tim Fischer singt: Ich stehe im Regen, dann ist es auch die Frau, die auf die Rückkehr ihres Mannes wartet, der vielleicht schon gefallen ist. Die Liebe bekommt bei Tim Fischer immer eine Konnotation mit der damaligen schweren Zeit, eine doppelte Message, die über den banal scheinenden Text hinaus auch heißt: Denkt an die Liebe, die so sehr in Zeiten wie diesen fehlt. Vielleicht ist das auch einer der Gründe, warum das Publikum ihn als Zarah Leander frenetisch feierte.

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Internationales Figurenfestival 2023 im Schuberttheater

Das internationale Figurenfestival ist im Schuberttheater ein fixer Termin, dieses Jahr von 14.-19. März 2023. Zu sehen ist: „
Der Wald, von dem wir träumen, ein Stück von Christoph Bochdansky. Es führt in psyhodelische Welten. Eine Reporterin taucht für ein Interview mit einem Waldbewohner in die Traumwelt ein. (s. Titelfoto)

The Quacksalver von Sofie Krog Teater aus Dänemark. Es erinnert an die Dulcamarageschichte aus der Oper „Elisir d’amore“: Ein Quacksalver verkauft seinen Wundertrank. Geeignet für Kinder ab 10J.

Secret Garden von Tilda Eulenspiel, VR-Circus. Minicircus für jeweils einen Gast

Weitere interessante Eigenproduktionen des Theaters, die man gesehen haben muss:

Die Gesichter der Hedy Lamarr, F. Zawrel-erbbioogisch und sozioligisch minderwertig, Die Welt ist ein Würstelstand (s. auch den Beitrag auf dieser Webseite)

Spiielplan, Termin und Kartenbestellungen:http://www.schuberttheater.at

FESTSPIELHAUS ST.PÖLTEN: TONKÜNSTLER-ORCHESTER: RACHMANINOW/MAHLER

Sergej Rachmaninow: Konzert für Klavier und Orchester Nr.3 d-Moll op 30. Klavier: Kyohei Sorita, Dirigent Yutaka Sado

1917 aus Russland in die USA emigriert, fühlte sich Rachmaninow nie wirklich in der neuen Heimat „beheimatet“. Sein Herz und seine Wurzeln blieben russisch. Und seine Musik ebenso. Die Amerikaner sahen in ihm mehr den Tastenvirtuosen als den Komponisten. 1910 wurde das Konzert erstmals in New York aufgeführt und es dirigierte kein Geringerer als Gustav Mahler.

Dieses Klavierkonzert verlangt vom Pianisten all sein Können: Technisch sehr schwierig und thematisch ein WEchselbad der Gefühle – eine muikalische Beschreibung des Komponisten, wie er sich in dem neuen Land fühlte. Kyohei Sorita ist ein technisch perfekter Pianist, sein Spiel ist makellos, seine Läufe beeindruckend. Sein Anschlag hart, exakt, was durch den Steinway noch verstärkt wurde. Und so beeindruckt Sorita mehr durch sein Virtuosentum als durch seine Interpretation. Zwar tönt die Musik eines Zerrissenen laut, heftig und schnell, aber es fehlt ein wenig der Gegenpart: die Zärtlichkeit, die tiefen Gefühle, die Rachmaninow durchaus in das Werk komponierte. Dirigent Yutaka Sado führte das Orchester behutsam und zurückhaltend, ließ die Streicher die Musik wie einen feinen Teppich unter das Klavier legen.

Gustav Mahler: Symphonie Nr. 1 D-Dur inklusive Blumine. Dirigent der Tonkünstler: Yutaka Sado

Nur kurze Zeit nach den wuchtigen Symphonien eines Bruckners und Brahms schrieb Gustav Mahler seine erste Symphonie, in der er alle strenge Logik eines Symphonikers über Bord wirft. 1884 begann er daran zu arbeiten, schrieb immer wieder Neues hinzu – wie die „Blumine“ (eine musikalische Ehrung der Göttin Flora), ließ manches weg. 1889 wurde das Werk in Budapest uraufgeführt. Der damals sehr gefürchtete Kritiker Edward Hanslik schrieb über diese Symphonie: „Das ist keine Musik!“

Gustav Mahler über diese Symphonie: „Sie muss sein wie die Welt, sie muss alles umfassen, auch die weniger schönen Dinge.“ Das gilt wohl für alle Werke Mahlers.

Yutaka Sado schenkte dem Publikum einen Abend, der tief im Gedächtnis bleiben wird. Selten – besser noch nie – hat man diese Symphonie so voller Zartheit, Wildheit, Romantik, Ironie und Versponnenheit gehört. Behutsam beginnen die Streicher, zart, als öffneten sich die Wolken und ein Sonnenstrahl beleuchtet die Erde. Man spürt, wie sehr Orchester und Drigent miteinander verwachsen sind. Sado dirigiert nicht, er schwingt sich in die Melodien ein und mimmt das Orchester mit auf die innere Reise Mahlers. Heiter ist die Luft ringsum, leise erklingt das Lied „Ging heut morgen übers Feld“, ein Thema kollidiert mit dem nächsten, um sich zu einem siegreichen Ende zu arrangieren. In der „Blumine“ lassen Dirigent und Orchester eine Blüte nach der anderen aufblühen. Frühling ist es! Unmittelbar darauf platzt die Energie eines Dorftanzes auf, dann ein Trauermarsch, der in die Träume über einen Lindenbaum hinüberfließt. Um im nächsten Satz das Unwetter über die Welt ziehen zu lassen, Hornisten und Trommler triumphieren, ohne alles zu übertönen. Mit feinem Fingerspitzengefühl lässt der Dirigent die Motive aufsteigen, gibt ihnen Zeit, ohne sie zu zerdehnen. Dem fulminanten Schluss, den die meisten Dirigenten derartig heftig überdrehen, dass nachher die Ohren schmerzen, gibt er den nötigen Wirkungsraum und Stärke, ohne das Tongebilde im puren Lärm und Getöse versinken zu lassen. Auch das für Mahler so typische triumphale Ende bleibt geformt und ausgefeilt.

Das Publikum dankte mit langem Applaus, standing ovation, das Orchester spendete seinem Dirigenten anerkennendem Beifall mit Geigenbogen und Füßen.

Es war eine Sternstunde der Musik!

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P.S.: Ein Kompliment an Dr. Alexander Moore, der ein interessante Einführung zu den beiden Werken hielt. Und einmal mehr sei das Programm lobend erwähnt. Die Informationen sind für Laien und Profis gleichermaßen interessant.

Wer ein Buch von Steinfest in die Hand nimmt, weiß, auf welch Bocksprünge an Ideen, Figurenbeschreibung, Wechsel im Stil und Zeiten -kurz auf ein Maximum an Erzählkapriolen – er sich einlässt.

In diesem Roman übertrifft er sich selbst, liefert dem Leser Reales. scheinbar echte Wirklichkeiten, mit schier Unmöglichkeiten. Schon allein eine Buchhandlung irgendwo auf einem Berg im oberösterreichischen Salzkammergut auf 1.700 Meter Höhe ist eine echte „Schnapsidee“, Die Besitzerin Katharina braucht auch, um in der Wintereinsamkeit überleben zu können, jeden Abend ihren Cognac. Sie ist keineswegs eine Trauersuse, im Gegenteil, packt an, wo es notwendig ist. So zum Beispiel, wenn sie auf ihren einsamen Winterskitouren einen fast erfrorenen Mann findet. Den schleppt sie gegen seinen Willen kurzerhand in ihre Buchhandlung, taut ihn auf und befiehlt ihm zu leben. Was der eigentlich gar nicht wollte, er wollte sterben. Weiß aber nicht, warum. Im Laufe der Erzählung wird ihm bewußt, wer er ist und daß er große Schuld auf sich geladen hat. Er fuhr sturzbetrunken auf der eisigen Straße, der Wagen überschlug sich und seine mitfahrende Tochter war tot. Er hat überlebt, sich irgendwie halb bewußtlos auf den Berg geschlichen, um zu sterben. Katharina nennt ihn Robert, befiehlt ihm zu kochen. Nebenbei entpuppt sich er sich als genialer Schneebildhauer. Er formt die Bergspitze, die sich irgendwie wie ein betrunkener Berg zu verändern scheint. Ein weiterer Pflegefall stellt sich ein und wird von Katharina gesund gepflegt: Die Bergdohle Sharp. Sie wird am Schluss die in einer Höhle Eingeschlossenen durch ihre Rufe und Hinweise retten. Wie im Märchen müssen es ja immer drei Personen sein – in diesem Fall gesellt sich noch die Schnee- und Lawinenforscherin Linda zu den beiden und bleibt. Platz ist genug in der Bücherbude. Im nahen Schutzhaus sind genug Vorräte. Das Leben wird gemütlich. Doch nicht so bei Steinfest! Das Bücherhaus rutscht bei einem Schneesturm in eine darunterliegende Höhle. Katharina und Linda sind eingesperrt. Sharp und Robert, nun heißt er Max, retten die beiden.

Als unnötige, eher als manieristisch-modische Kapriole entpuppt sich der Roman im Roman über einen Priester, der vor mehr als 100 Jahren mit einer Fotografin den Berg bestieg und unter Lebensgefahr das Gipfelkreuz angebracht hat.

Ein heitere Roman? Schon, aber nicht nur. Denn es geht um Schuld, wie man damit fertig werden kann. Sowohl Robert-Max als auch Katharina haben ein Menschenleben auf dem Gewissen.

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Festspielhaus St. Pölten: Akram Khan und das English National Ballet: Giselle

Choreographie und Regie: Akram Khan. Komposition und Sounddesign: Vincenzo Lamagna. Orchestrierung: Gavin Sutherland. Visual Design und Kostüme: Tim Yip. Licht: Mark Henderson

Akram Khans Neuinterpretation des Ballettklassikers führt in die Welt der Leih- und Wanderarbeiterinnen und Arbeiter einer aufgelassenen Textilfabrik. Wir erfahren aus dem Programm, dass Akram Khan hier auf seine Wurzeln in Bangladesh zurückgreift. Doch diese Information ist nicht zwingend notwendig, da Khan sein Werk durchaus auch global verstanden wissen will. Gekündigte, Ausgebeutete, Hoffnungslose der ganzen Welt sind gemeint. Ihnen gegenüber stehen die Reichen, Mächtigen, die Fabriksbesitzer und die Träger der Luxusroben, die in diesen Fabriken gefertigt wurden.

Es ist eine kalte, harte Welt. Eine wuchtige Mauer schließt die Frauen und Männer ein und zugleich aus. Sie tanzen ihr Leben, ihre Verzweiflung. Unter ihnen Giselle, eine starke, selbstbewusste Frau, die sich nicht der Armut und den Gegebenheiten unterwerfen will. Albrecht hat sich aus der Welt der Reichen verabschiedet und tanzt mit den Ausgestoßenen, verliebt sich in Giselle. Doch durch die Intrige Hilarions, der selbst ein Auge auf Giselle geworfen hat, wird Albrecht als Reicher enttarnt. Und fast devot lässt er sich von seiner Verlobten Bathilde in „seine“ Welt zurückführen. Giselle verfällt in einen Wahn, wird von den Arbeitern umringt, bis sie leblos zu Boden sinkt. Im zweiten Teil lebt Giselle als Halbwesen unter den Wilis. Das sind Frauen, die in ihrem Leben von einem Mann getötet wurden und nun auf ihre Weise Rache nehmen. Als Hilarion an das Grab Giselles tritt, töten sie ihn. Albrecht und Giselle dürfen noch einmal ihre Liebe leben, bevor Giselle endgültig in das Reich der Wilis verschwindet. Er bleibt allein als Ausgestoßener zurück.

Akram Khan verwandelt diese Geschichte in ein mächtiges Bild- und Klangerlebnis. Wuchtig senkt und hebt sich die Mauer, dumpfe Sirenen, ähnlich großer Frachtschiffe, künden von der Macht der Reichen. Die Tänze der Ausgestoßenen erinnern stark an den indischen Tanz Khattak: stampfend, drehend wie Derwische, die Hände zu nicht vorhandenen Göttern erhebend – so schaffen sich die Menschen ihren Freiraum. Machtvolle Bilder tun sich auf, wenn sich die Mauer hebt und die starren Figuren der „Reichen“ erscheinen. Velázquez „Las Meninas“ – die unbeweglichen Mädchen in ihren weitausladenden Roben – scheinen Patinnen für dieses Tableau gewesen zu sein.

Im zweiten Teil wird Khans Choreographie sehr klassisch: Die Wilisfrauen und Giselle tanzen fast alles auf Spitze – eine ungeheure Leistung! In ihren zarten, schlammgrünen Gewändern erinnern sie an Moos, das in feinen Strängen im Wind schaukelt. Doch sie sind keineswegs zart. Machtvoll schwingen sie ihre Stäbe, töten Hilarion und wollen zunächst auch Albrecht ins Reich der Toten schicken. Doch Giselle vergibt ihm, und beide dürfen noch einmal Momente der tiefen Liebe erleben. Dieser Pas de deux – unterlegt von zarter Musik der Streicher – ist eine Verbeugung Khans an das klassische Ballett!

Ein Abend, der das Publikum zu frenetischem Applaus hinriss. Zunächst für die Leistung des gesamten Balletts, im Speziellen natürlich für Fernanda Oliveira als Giselle, Altor Arrieta als Albrecht und Erik Woolhouse als Hilarion.

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Next Liberty zu Gast im Theater Akzent: Don Quijote

Untertitel: Von Rittern, Eseln und anderen traurigen Gestalten – nach dem Buch von Bernhard Studler

Ein Abend nicht nur für Kinder und Jugendliche. Auch Erwachsene fanden großes Vergnügen an dieser Aufführung. „Next Liberty“ ist eine exzellente Grazer Theatergruppe, die auf hohem Niveau auch schwierige Inhalte großartig für Menschen jeglichen Alters, vorwiegend für Jugendliche, umsetzt – zum Beispiel „Faust 1“ in der Inszenierung von Nikolaus Habjan. Und nun Don Quijote!

Es war ein Abend der Sonderklasse. Gesteckt voll mit Jugendlichen von 5 bis zu 16, 17 Jahren und ebenso vielen Erwachsenen. Ein Abend voller Wunder – wie es sich für den „Ritter der traurigen Gestalt“ gehört! Obwohl der Inhalt nicht ganz leicht für Kinder ist, horchten alle gebannt zu. Und alle, auch Erwachsene, hatten ihren Spaß. Denn Daniel Doujenis brachte eine witzige, geistreiche und hintergründige Inszenierung zustande! Die sieben Schauspieler des „Next Lieberty“ spielten alle Rollen und lieferten auch die Musik (Reinhold Kogler) und die witzig -ironische Geräuschkulisse dazu. Martin Brachvogel war als Don Quijote wie aus dem Roman entstiegen, Helmut Pucher als Sancho Pansa witzig, schlau, aber nicht durchtrieben. Lisa Rothhardt, Christoph Steiner, Simone Laski, Martin Niederbrunner und Ivonne Klamant spielten mehrere Rollen und lieferten die Musik und Begleitgeräusche. Fest steht: Ein exzellentes Ensemble, mit Witz und Spielfreude!!

Doch nun zum Stück: Es öffnet sich ein sandgelbes Halbrund, das von einer Rampe eingefasst wird (Ausstattung: Vibeke Andersen). Dahinter erscheinen wechselnde Bilder von der Mancha, der Gegend, wo dieser Roman/ Stück angesiedelt ist (Video Roland Renner).Von diesen Bildern geht eine große Faszination aus: Abendstimmungen, Nachthimmel, die zerzauste und mit Windrädern bespickte Natur erinnern daran, dass diese Region Spaniens zu den ärmsten des Landes gehört. Entvölkert, entleert und die wenigen Bewohner, die geblieben sind – ohne Hoffnung, arme Bauern, Hirten, ein Wirt ohne Gäste. Studers Buch beginnt in der Gegenwart und zeigt die Menschen, wie sie heute leben. Mitten unter ihnen der Träumer, der sich von der Gegenwart abgeschottet hat und nur mehr in der mittelalterlichen Welt der Ritterromane lebt. Eines Tages beschließt er Don Quijote, Ritter von der traurigen Gestalt, zu werden. Seinen Nachbarn, den Bauern Sancho Pansa, nimmt er als willigen Knappen mit. Nun beginnt die Reise in die „Abgümde der eigenen Seele“ – er bekämpft Unrecht und überwindet Angst. Ein Abenteuer nach dem anderen wird bestanden – pantomimisch und von ironisch-witzigen Musik- und Lautgeräuschen begleitet, wie etwa der Klang der Hufe, die Kämpfe…alles so heiter und doch tiefgründig gebracht, dass der Zuseher seinen Spaß hat, aber ohne dass die Figur des Don Quijote als Volltrottel bloßgestellt wird. Im Gegenteil, seine Träume, Visionen machen ihn sympathisch, stoßen auf Verständnis – letzten Endes wird er zur Werbegestalt. Das ist der große Dreh, den der Autor Bernhard Studlar dem Stück gibt. Anders als im Werk von Cervantes, erscheint zu Lebzeiten des Don Quijote ein Buch über seine wundersamen Abenteuer und er wird als Werbeträger bestens vermarktet. (Tatsächlich werden heute von verschiedenen Veranstaltern Reisen in die „Mancha des Don Quijote“ veranstaltet.) Selbst die Hörsäle sind voll, und der Neffe Don Quijotes bekommt einen Lehrauftrag. Über Zuhörermangel kann er sich wahrlich nicht beklagen. Während alle nun ringsum von Don Quijotes Taten und Visionen profitieren, legt der Held sich hin zum Schlafen und stirbt.

Leider war das die letzte Vorstellung! Aber hier sei einmal mehr vermerkt, dass die Aufführungen des „Next Liberty“ immer von hoher Qualität sind. Und es ist eine sehr dankenswerte Initiative des Theaters Akzent, solch hochwertige Inszenierungen für Jugendliche (und -wie man feststellen kann, durchaus auch für Erwachsene) von überall her aus Österreich und anderen Ländern einzuladen.

Eine ganz andere Sicht auf Don Quijote wird das Landestheater Niederösterreich ab dem 17. März 2023 bringen. Man darf gespannt sein! Zur Lage der Region La Mancha – siehe auch meine Buchbesprecung von Sergio di Molino; Leeres Spanien.

http://www.akzent.at und http://www.nextliberty.buehnen-graz.com und http://www.landestheater.net

Volksoper Wien: Wiener Staatsballett: promethean fire. Vier Stücke.

PROMETHEAN FIRE

Musik: Johann Sebastian Bach in der Orchestrierung von Leopold Stokowsksi. Choreographie: Paul Taylor. Bühne und Kostüme: Santo Loquasto. Licht: Jennifer Tipton. Dirigent: Jean-Michael Lavoie.

Ein Auftakt, der wie Feuer in die Seele fährt! Aufregend, explosiv, faszinierend! Vor dem schwarzen Bühnenhintergrund bewegen sich die Tänzer wie Flammen, die auflodern oder in sich zusammenfallen zur Musik von Bach – in einer rhythmisch mitreißenden Bearbeitung von Leopold Stokowski und mit Verve von Jean- Michael Lavoie dirigiert. Schwarze Spitze bedeckt Beine und den halben Oberkörper. Im leicht rötlich gefärbten Licht werden Arme, Kopf und Oberkörper zu Feuerzungen, die ineinander verschmelzen und sich wieder lösen, sich vereinzeln. Es ist kein bedohliches Feuer, sondern eines, das die Menschen zusammenführt. In den ungewöhnlichen Hebefiguren meint man, den Triumph des Menschen über die Dumpfheit, das Ungeformte zu erkennen. Einen Triumph, den Fiona Mc Gee und Eno Peci in einem hinreißenden Pas de deux verkörpern, unterstützt von dem Kreis eines in der Musik und Tanz aufgehenden Ensembles.

Prometheus hat Zeus das Feuer gestohlen und es zu den Menschen gebracht, um sie aus der Trostlosigeit ins Licht zu leiten. Paul Taylor entwarf die Choreographie ein Jahr nach 9/11. Als er gefragt wurde, welche Antwort er auf diese Katastrophe hat, soll er geantwortet haben: Tanz, Tanz und wieder Tanz. „Ich mache Tänze, weil ich an die Kraft des zeitgenössischen Tanzes glaube….und weil es mich von der Bewältigung der realen Welt befreit“ (Zitiert aus dem Programmheft). So der Choreograph über sein Werk.

Alle Fotos: Ashley Taylor

lontano

Musik: György Ligeti, Choreographie: Martin Schläpfer, Bühne und Kostüme: Keso Dekker

Ein Stück zum Ausrasten. Die Emotionen runterfahren. Zwei Frauen, vier Männer suchen nach Figuren, bilden Statuen, die sich auflösen. Frauen werden zu Ikonen erhoben. Man staunt über die Präzision der spiegelgleichen Bewegungen. Ligetis Musik ist zart, lässt Freiraum zum Träumen, dann wieder kippt die Atmosphäre zu einem spannenden Kampf. Immer zeigen die Frauen Stärke! Gut so!

ramifications

Musik: György Ligeti, Choreographie: Martin Schläpfer. Bühne und Kostüm: Thomas Ziegler

Sonia Dvorak tanzt ein atemberaubendes Solo – nur sie allein auf der Bühne, etwa 15 – 20 Minuten lang, fast alles auf der Spitze! Eine unglaubliche Leistung! Bisher sah man die Tänzerin hauptsächlich in komischen Rollen. In diesem Stück nun zeigt sie alle Facetten ihres Könnens! Mal kokettiert sie mit Spitzmündchen, reißt die Augen verwundert auf, dann wieder sucht sie nach einer idealen Form des Tanzes, verwirft, beginnt neu, verästelt die Bewegungen zu abstrakten Figuren, betont deutlich die Härte der Schritte, man hört, wie die Spitze ihrer Schuhe auf dem Boden klopft. Fasziniert sieht man einer Tänzerin zu, die je nach Laune einmal buchstäblich ihre Muskeln spielen lässt, dann wieder verträumt sich in der Musik verliert. Zusammenfassend: Großartig!

beaux

Musik für Cembalo von Bohuslav Martinù. Choreographie: Mark Morris. Bühne und Kostüm: Isaac Mizrahi

Vor einem Tableau aus hellen Frühlingsfarben tanzen 12 Männer. OHNE FRAUEN. Sie scheinen sich auf einem Platz im Dorf, im Park, in einem Winkel der Stadt, auf einer Wiese regelmäßig zu treffen, um im Tanz „Dampf abzulassen“. Ganz ähnlich den Jugendlichen, die sich zum Wettstreit im Breakdance irgendwo abseits von Zuschauern treffen. Ihnen geht es nicht um Demostration vor Besuchern, Touristen – sie genügen sich selbst als Zuschauer. Einer zeigt seine neuen Figuren vor, prahlt ein bisschen, die anderen sitzen davor, gucken aufmerksam zu. Mangels Frauen proben sie Hebefiguren von Mann zu Mann – erotisch und kämpferisch zugleich. Es wird Abend, sie tanzen, es wird Nacht und wieder ein Morgen. Sie tanzen. Weil sie das erfüllt, sie sich als Männer fühlen, obwohl einige noch Grünschnäbel sind. Une Pièce von heiterer Leichtigkeit.

Viel Applaus nach jedem Stück, am Schluss großer Extraapplaus für das Orchester und den Dirigenten.

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Sergio del Molino, Leeres Spanien. Wagenbach Verlag

Aus dem Spanischen von Peter Kultzen

Sergio del Molino arbeitete als Journalist für die spanische Zeitung „Heraldo di Aragon“. und war viele Jahre im „leeren Spanien“ unterwegs. Besonders im Ebrobecken, in der Meseta und in der Mancha sind die Dörfer leer, entvölkert. Die Abwanderung der ländlichen Bevölkerung in die Städte -vor allem in den Umraum von Madrid – hatte zur Folge, dass 84 % der Bevölkerung heute in den Städten lebt und nur 15% im leeren Spanien. Wenn die Jungen keine Arbeit im ländlichen Raum fanden, wanderten sie in die Städte .- ein Phänomen, das nicht nur in Spanien virulent ist. Als Spanien 1986 der EU beitrat, die ländliche Bevölkerung aber keine Förderungen bekamen, kam es zu bürgerkriegsartigen Bewegungen und man begann sich in Politik und Wissenschaft mit dem Problem zu beschäftigen. Auch dieses Buch – so vermerkt der Autor in der Einleitung – hat an der Bewusstwerdung der Probleme einen großen Beitrag geleistet.

Unter dem Francoregime hatte man nur Verachtung für die ländliche Bevölkerung, konstatiert del Molino. Im „leeren Spanien“ wurden Atomkraftwerke geplant und umweltschädliche Uranminen errichtet. Im Umraum von Madrid entstanden Elendsviertel.

Ein ausführliches Kapitel widmet der Autor dem „Mythos der leeren Landschaft“, gefördert durch das plötzliche Interesse der Städter, die sich ähnlich wie einst Don Quijote auf die Suche nach einer Idylle aufmachten. Eine Suche, die sich nicht realisieren ließ. Noch heute belustigen sich die wenigen Bewohner der Mancha über die Reisenden, die „auf den Spuren Don Quijotes“ durch das leere Land ziehen. Das Verlorensein in einer scheinbar endlosen Weite fasziniert Romantiker, ändert aber nichts an der Lage der Bevölkerung.

Seit Erscheinen dieses Buches 2016 hat sich – so der Autor im Vorwort – doch einiges bewegt. Der Autor hat keine Problemlösungen parat, aber indem er aufzeigt, welche soziale und wirtschaftlichen Folgen die entleerten Landschaften haben, wird zumindest über Lösungsmöglichkeiten nachgedacht.

http://www.wagenbach..de