Festspielhaus St. Pölten: Akram Khan und das English National Ballet: Giselle

Choreographie und Regie: Akram Khan. Komposition und Sounddesign: Vincenzo Lamagna. Orchestrierung: Gavin Sutherland. Visual Design und Kostüme: Tim Yip. Licht: Mark Henderson

Akram Khans Neuinterpretation des Ballettklassikers führt in die Welt der Leih- und Wanderarbeiterinnen und Arbeiter einer aufgelassenen Textilfabrik. Wir erfahren aus dem Programm, dass Akram Khan hier auf seine Wurzeln in Bangladesh zurückgreift. Doch diese Information ist nicht zwingend notwendig, da Khan sein Werk durchaus auch global verstanden wissen will. Gekündigte, Ausgebeutete, Hoffnungslose der ganzen Welt sind gemeint. Ihnen gegenüber stehen die Reichen, Mächtigen, die Fabriksbesitzer und die Träger der Luxusroben, die in diesen Fabriken gefertigt wurden.

Es ist eine kalte, harte Welt. Eine wuchtige Mauer schließt die Frauen und Männer ein und zugleich aus. Sie tanzen ihr Leben, ihre Verzweiflung. Unter ihnen Giselle, eine starke, selbstbewusste Frau, die sich nicht der Armut und den Gegebenheiten unterwerfen will. Albrecht hat sich aus der Welt der Reichen verabschiedet und tanzt mit den Ausgestoßenen, verliebt sich in Giselle. Doch durch die Intrige Hilarions, der selbst ein Auge auf Giselle geworfen hat, wird Albrecht als Reicher enttarnt. Und fast devot lässt er sich von seiner Verlobten Bathilde in „seine“ Welt zurückführen. Giselle verfällt in einen Wahn, wird von den Arbeitern umringt, bis sie leblos zu Boden sinkt. Im zweiten Teil lebt Giselle als Halbwesen unter den Wilis. Das sind Frauen, die in ihrem Leben von einem Mann getötet wurden und nun auf ihre Weise Rache nehmen. Als Hilarion an das Grab Giselles tritt, töten sie ihn. Albrecht und Giselle dürfen noch einmal ihre Liebe leben, bevor Giselle endgültig in das Reich der Wilis verschwindet. Er bleibt allein als Ausgestoßener zurück.

Akram Khan verwandelt diese Geschichte in ein mächtiges Bild- und Klangerlebnis. Wuchtig senkt und hebt sich die Mauer, dumpfe Sirenen, ähnlich großer Frachtschiffe, künden von der Macht der Reichen. Die Tänze der Ausgestoßenen erinnern stark an den indischen Tanz Khattak: stampfend, drehend wie Derwische, die Hände zu nicht vorhandenen Göttern erhebend – so schaffen sich die Menschen ihren Freiraum. Machtvolle Bilder tun sich auf, wenn sich die Mauer hebt und die starren Figuren der „Reichen“ erscheinen. Velázquez „Las Meninas“ – die unbeweglichen Mädchen in ihren weitausladenden Roben – scheinen Patinnen für dieses Tableau gewesen zu sein.

Im zweiten Teil wird Khans Choreographie sehr klassisch: Die Wilisfrauen und Giselle tanzen fast alles auf Spitze – eine ungeheure Leistung! In ihren zarten, schlammgrünen Gewändern erinnern sie an Moos, das in feinen Strängen im Wind schaukelt. Doch sie sind keineswegs zart. Machtvoll schwingen sie ihre Stäbe, töten Hilarion und wollen zunächst auch Albrecht ins Reich der Toten schicken. Doch Giselle vergibt ihm, und beide dürfen noch einmal Momente der tiefen Liebe erleben. Dieser Pas de deux – unterlegt von zarter Musik der Streicher – ist eine Verbeugung Khans an das klassische Ballett!

Ein Abend, der das Publikum zu frenetischem Applaus hinriss. Zunächst für die Leistung des gesamten Balletts, im Speziellen natürlich für Fernanda Oliveira als Giselle, Altor Arrieta als Albrecht und Erik Woolhouse als Hilarion.

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