Nach „Schönen Bescherungen“ im Burgtheater ist „Josef und Maria“ – eine wahre Wohltat, ein echtes Geschenk. Peter Turrinis Theaterpranke und Schauspieler wie Ulli Maier und Johannes Silberschneider „bescheren“ dem Publikum einen Abend der Sonderklasse!

Höchste Schauspielkunst

Kunstschnee, ein roter Riesenball (Bühne: Florian Etti), leise Schmeichelmusik, eine Stimme aus dem Off (Herbert Föttinger) preist Verkaufshits an, wünscht ein schönes Fest und verkündet die Schließung des Kaufhauses. Die Eisbärendekos rollen weg und die Putzfrau Maria (Ulli Maier) schlurft lustlos herein, zieht sich um, redet mit sich, träumt von einem Weihnachtsfest mit ihrem Sohn, Schwiegertochter und Enkel, weiß aber, dass sie längst schon ausgeladen wurde. Der Nachtwächter Josef (Johannes Silberschneider) stört ihren Monolog. Nun entwickelt sich zwischen den beiden ein ganz intimes Spiel. Zunächst redet jeder vor sich hin, erinnert sich an die eigene Vergangenheit, Maria an ihre „Karriere“ als Künstlerin, Josef an sein Scheitern als Revolutionär. Doch mehr und mehr legen sie ihre Masken ab, hören dem anderen zu, gestehen sich und dem noch immer fremden Visavis ihre zukunftslose Gegenwart und ihre Sehnsucht nach Liebe. Beide erkennen, wie allein jeder ist. Ohne Rührseligkeit entstehen dichte Momente, wie sie selten im Theater zu erleben sind. Die Mischung aus stillem Humor und einem Schuss Absurdität hebt das Stück aus jeder Banalität.

Die Größe der Lächerlichkeit (Turrini)

Peter Turrini schrieb „Josef und Maria“ in den 1990er Jahren, und es hat bis heute nichts an Aktualität verloren: Die Alten, die Armen werden irgendwo versteckt, abgeschoben. In einem Brief aus dem Jahr 1992 schrieb Turrini: „Ich bin nicht der Deix der österreichischen Literatur. Alle meine Figuren, die Lächerlichsten und Ausgestoßensten, haben eine Würde….Heute ist es…Mode, vor allem in der Literatur, im Menschen nur und ausschließlich einen Haufen oder ein Häufchen Dreck zu sehen.“(Nachzulesen im Programmheft) Diese Würde haben Josef und Maria in jedem Moment, dank der großartigen Schauspielkunst von Ulli Maier und Johannes Silberschneider. Dass sich Maria und Josef in einer stillen Liebe finden, ist eine tröstliche Botschaft, die der Regisseur Alexander Kubelka mit Fingerspitzengefühl und Respekt inszeniert hat.

http://www.josefstadt.org

Albtraum-Bescherung über gefühlte vier Stunden. Angegebene Spielzeit: Zweieinhalb. Was die Burg an bekannten Namen hat, wird aufgeboten und müht sich redlich, aus dem Stück eine Komödie zu machen: Nicholas Ofczarek als Bastelonkel, Katharina Lorenz als Nervensäge, Maria Happel als komische Figur, Falk Rockstroh als schießwütiger Onkel, Michael Maertens als vertrottelter Arzt, der mit seinem Puppentheater alle nervt, Dörte Lysseewski als komisches Hippiegirl, Tino Hillebrand und Marie – Luise Stockinger als nichtssagendes Ehepaar und Fabian Krüger als Jungschriftsteller. Krüger als hilfloser, unfreiwilliger Don Juan hat noch die beste Rolle – und er weiß sie zu nützen.

Was dem Stück fehlt, ist Spannung. Ein Gag spult nach dem anderen ab. Der Witz kommt aus der tiefsten Schublade und ist immer vorhersehbar. Da ist auch eine Regisseurin wie Barbara Frey überfordert: Wo nix ist, da kann man auch nichts hineinbasteln. Das Publikum lacht brav bei den Gags, aber der Applaus ist nicht mehr als freundlich.

http://www.burgtheater,at

Werner Schwab: Volksvernichtung oder meine Leber ist sinnlos. Akademietheater.

Mit den Puppen von Nikolaus Habjan

Ein Sprachberserker wie Werner Schwab braucht einen Theaterberserker wie Nikolaus Habjan. Er schuf die grauslichsten Puppen für die grauslichen Bewohner des Zinshauses, vielleicht genau so, wie Werner Schwab – wenn er noch lebte – sie hätte haben wollte. Mit ihrem breiten Maul und ihren entsetzlich-hässlichen Gesichtern dürfen sie alle Schweinerein in das Publikum hinaustönen. Und nie wirkt es peinlich, übertrieben. Den Puppen nimmt man alle Gemeinheiten ab – vielleicht deshalb, weil sie Puppen sind. Würden Schauspieler diese abgründig-schweinischen Texte sprechen, wäre die Aufnahme im Publikum weniger gnädig. Einige würden sicher empört den Saal verlassen – wie etwa bei den „Präsidentinnen“, wo nur Schauspielerinnen agieren, geschehen. Puppen schaffen Distanz und in dieser Distanz ist ihnen alles erlaubt: Da beschimpft die bösartige Mutter ihren debilen Sohn, der wiederum träumt davon, ihr ein Messer ins Gehirn oder in die Vagina zu treiben. Ein Vater vergewaltigt genüsslich seine beiden Töchter, die Mutter schaut gelassen zu. Die ganze Familie säuft.

Die Puppen werden wie durch Zauberhand von Nikolaus Habjan, Manuela Linshalm, Sarah Viktoria Frick und Alexandra Henkel hochprofessionell bespielt und belebt.

Nestroy und Bernhard lassen grüßen

In einem aus Plastikhaut bestehendem Wohnhaus (Bühne:Jakob Brossmann – zum Geschehen perfekt hingebaut) agiert, schimpft, droht, flucht der Pöbel im Erdgeschoß – beobachtet und beherrscht von Frau Grollfeuer – grandios, ganz ohne Puppenmaske dargestellt von Parbara Petritsch. Sie ist die Hausbesitzerin und schaut vom ersten Stock auf das Treiben ihrer Mieter herab. (Nestroy lässt grüßen!). Dazu muss angemerkt werden, dass Werner Schwab mit dem Stück keine Sozialkritik intendierte: „Meine Aufgabe ist, die Dinge bei sich zu lassen, anzusehen, auszubauen, und nicht zu kritisieren“ (Nachzulesen im Programmheft, Auszug eines Interviews, das Joachim Lux 1992 mit dem Autor führte)

Im zweiten Teil lädt Frau Grollfeuer die ganze Mischpoche anlässlich ihres Geburtstages zu sich in den Oberstock ein. Alle schaufeln gierig, saufen, was das Zeug hält, bis sie tot umfallen, von Frau Grollfeuer genüsslich vergiftet. Danach hält sie in einem Bernhard ähnlichen Monolog (Chapeau für diese Meisterleistung!) Abrechnung mit ihrem Egoismus und Selbstverliebtheit. Beides hat sie in die Alterseinsamkeit getrieben. Keine Lösung außer vielleicht Selbstmord durch Zutodesaufen in Sicht. Nebel und ein Urknall lassen das Plastikhaus zusammenbrechen. Anzumerken wäre, dass die übertriebene Länge des Monologs sehr viel von der Wirkung nimmt. Kürzen wäre keine schlechte Idee!

http://www.burgtheater.at

Medea, Simon Stone nach Euripides

Am besten, man vergisst vom Anfang an Euripides und Grillparzer. Denn diese Medea hat nur peripher mit der antiken Figur zu tun: Sie ist mit einer Memme verheiratet, hat mit ihm zwei Kinder, ist rasend auf die junge Geliebte eifersüchtig, bringt sie um, zündet Haus, Kinder und sich am Ende an. Ihr Mann bleibt fassungslos über.

Hat man als Zuschauer erst einmal die tragische Figur der Medea aus dem Gehirn verbannt und sich auf Anna, Ärztin und psychisch sehr labil (Caroline Peters) eingestellt, dann erlebt man einen spannenden Abend, dem allerdings die Fallhöhe, die tiefe Tragik einer antiken Figur fehlt. Es ist ein Ehedrama, wie man es zwar nicht alltäglich (Gott sei Dank) erlebt, aber das Grundschema – Frau wird für eine jüngere Geliebte stehen gelassen und reagiert heftig – ist ziemlich häufig. Stone bricht die Tragik ins Verstehbare hinunter, verankert die schaurigen Taten Annas in ihrer gekränkten Eifersucht und banalisiert sie so.

Stechend weiße Mauern, an denen das Auge keinen Halt findet, umgeben die Figuren. Sie tauchen auf, verschwinden im Nichts, Schemen ihrer eigenen Persönlichkeit. Regie (Simon Stone) und Bühnenbild (Bob Cousins) setzen konsequent auf klinisch-kaltes Ambiente.

Anna wird aus der psychiatrischen Anstalt entlassen. Ihr Mann (Steven Scharf) erwartet sie. Der distanzierte Dialog zwischen den beiden wird über ein Video übertragen -man erlebt die Hoffnung, dann die langsame Enttäuschung Annas, die auf einen Neuanfang gehofft hat. Caroline Peters spielt diese nervige Anna ganz grandios.

Spannung baut sich auf

In der ersten Hälft zieht sich die Handlung dahin, von unnötigen Passagen unterbrochen und in ziemlich abgehackten und banalen Dialogen erstickend. Ab der Mitte wird es dicht. Anna und Lukas sind im innersten Kampf und wir erfahren, dass Anna als Wissenschaftlerin auf die Lorbeeren ihrer Forschung zu Gunsten ihres mittelmäßig begabten Mannes gerne und aus Liebe zu ihm verzichtete. Doch er dankte ihr es nicht, sondern machte sich an die Tochter des Firmenbesitzers (ziemlich farblos: Mavie Hörbiger) heran. Von da an rast Anna und rastet aus. Vergiftet so peu à peu ihren Mann (schon ziemlich heftige Eifersucht!, aber solche Eifersuchtsaktionen sollen ja häufiger vorkommen als man gemeinhin annimmt), kämpft verbissen um Mann und Kinder. Wie Caroline Peters diesen Kampf konsequent bis zur Raserei darstellt, ist große Schauspielkunst. Steven Scharf als ihr Mann Lucas (für den erkrankten Meyerhoff) ist die ideale Besetzung: Feige, immer ausweichend, hoffend, dass sich Anna verständig zeigen wird. Der furiose Schluss beeindruckt: Anna bedeckt sich und ihre Kinder mit Asche, die langsam von oben herabrieselt.

Lange Applaus und für Caroline Peters viele Bravorufe

http://www.burgtheater.at

Das hässliche Entlein und Tausendundeine Nacht am 21. Dezember 2019

Der Titel „Märchenwelt“ erfüllt sich voll und ganz – nicht nur für Kinder, die begeistert mitgehen, auch für Erwachsene, sofern sie Märchen und Ballett lieben. Die Kombination beider ist perfekt gelungen.

Das hässliche Entlein – Musik: Mussorgski/Ravel, Choreographie: Andrey Kaydanovskiy

Die Geschichte ist einfach und für Kinder gut verstehbar: Das hässliche Entlein – an diesem Abend getanzt von Alexander Kadem – wird am Hühnerhof von allen zurückgestoßen, muss ihn verlassen, zieht hinaus in die Welt und macht einige traurige Erfahrungen. Erst als Schwäne ihn als einen der Ihrigen anerkennen und er zum „stolzen Schwan“ mutiert, ist die Welt für ihn in Ordnung. Mit Humor und viel Witz wird die offensichtliche moralische Aussage des Märchens durchkreuzt. Denn nichts ist peinlicher als ein allzu offensichtlicher Zeigefinger.

Das Ensemble der Schwäne, Enten und Hühner tanzt entzückend, besonders humorvoll sind die Rollen der beiden Küken (Zuzanna Kvassayova und Mila Schmidt). Wenn sie in Kükenmanier über die Bühne watscheln, ist man schon mitten in der Welt der Hühner! Alexander Kaden als hässlicher Schwan ist rührend traurig, man leidet mit ihm. Eine Bitte hätte ich an den Dirigenten Alfred Eschwé: Am Beginn der „Bilder einer Ausstellung“ die Bläser weniger martialisch erklingen lassen!

Tausendundeine Nacht- Musik Nikolai Rimski-Korsakow: Scheherazade“. Choreographie: Vesna Orlic

Nicolaus Hagg adaptierte den Text aus „Tausendundeine Nacht“ geschickt für das Ballett, indem er den „Guten Geist aus der Lampe“ als Erzähler einführte. Kinder und Erwachsene waren von Boris Eder als launig-kauziger Erzähler im bunten Märchengeand schwer begeistert! Als er in einer Riesenlampe mitten im Publikum erschien, da kannte das Entzücken der jungen Zuschauer keine Grenzen!

Aladin ( Felipe Vieira) liebt schon seit seiner Kindheit die Prinzessin Budur (Dominika Kovacs-Galavics), ohne zu wissen, dass sie eine Prinzessin ist. An ihrem 18. Geburtstag hält ein reicher Wesir (Samuel Colombet) um ihre Hand an. Als sie ihn zurückweist, lässt er sie von seiner Truppe entführen. Der tapfere Aladin kämpft sie frei und bekommt sie zur Frau. In einer zauberhaften Kulisse und in farbenreichen Kostümen (beides: Alexandra Burgstaller) wird vom ganzen Ensemble mit ganzem Einsatz getanzt. Unter den wirklich guten Leistungen möchte ich Felipe Vieira als Aladin und Samuel Colombet als Wesir ganz besonders hervorheben. Die beiden legen Kampfszenen hin, dass man nur staunen kann! Sie wären durchaus als Solistin geeignet!

Ein amüsanter Ballettabend auf hohem Niveau, nicht nur für Kinder!

Weitere Termine unter:

http://www.volksoper.at, www.wiener staatsballett.at

Lucia Puenzo: Der Fluch der Jacinta Pichimanahuida.

Verlag Wagenbach. Aus dem argentinischen Spanisch übersetzt von Rike Bolte.

Wer von Lucia Puenzo den spannenden und sehr gut geschriebenen Roman über ausgebeutete Straßenkinder in Buenos Aires und Uruguai kennt („Die man nicht sieht“), der wird  nach der Lektüre  über Jacinta P.überrascht und auch enttäuscht sein. Der Fluch der J.P. ist  eine wahre Geschichte, die die Autorin romanhaft verarbeitet hat. Wieder geht es um ausgebeutete Kinder. Für eine Fernsehserie über eine Lehrerin und ihre Schüler werden Kinder gecastet. Die genommen werden, denen wird ein zukünftig eigenständiges Leben verwehrt, weil sie immer die Figur aus dem Stück bleiben. Pepino und Twiggy gehörten zu ihnen. Was auf den ersten Blick als Glück erschien, entpuppt sich als Fluch. Der Drehbuchautor lässt die Kinder wie Marionetten agieren, immer seiner Schreibe gehorchend. Twiggy aber wehrt sich, wird drogensüchtig.

Das Thema wäre spannend. Aber leider verpatzt Lucia Puenzo diesmal ihre Chance. Aus dem aufregend-wichtigen Thema wird ein Plot, der in alle Richtungen zerfließt. Erzählzeitebenen verschwimmen, Figuren verlieren sich im Nirgendwo des Textes. Der Leser (sprich ich) gab es auf S 107 auf, dem wirren Schicksal der einzelnen Kinderschauspieler zu folgen

http://www.wagenbach.de

Volker Hage: Die freie Liebe. Luchterhand Verlag

Volker Hage ist ein Literaturmensch, forscht, lehrt und schreibt über Literatur. Seine Romanbiografie über Arthur Schnitzler „Des Lebens fünfter Akt“ ist feinsinnig und einfühlsam geschrieben. Also wurde ich neugierig und las „Die freie Liebe“. Darin verarbeitet der 1949 geborene Autor wohl vieler seiner eigenen Erfahrungen über die sexuellen Freiheiten der späten 60er und 70er Jahre, die sich der Jugend plötzlich eröffneten. Gerade hatte sich Wolf aus einem engen Elternhaus und von einer frustrierenden Beziehung befreit, ist  nach München gezogen, um zu studieren, da erlebt er in einer WG „die große sexuelle Befreiung“ – er verliebt sich hals über kopf in die nervige Lisa, die ihrerseits mit dem toleranten Andreas verlobt ist. Es hat den Anschein, als ob die Dreierbeziehung funktionieren könnte. Aber eben nur könnte.

Das wirklich Interessante an diesem Buch sind nicht die ausführlichen Beschreibungen der sexuellen „Tätigkeiten“, sondern die Hinweise auf Filme und Bücher, die in den 70ern aktuell waren. Der Rest ist langweilig und nicht immer glaubwürdig. 

http://www.randomhouse.de/Verlag/Luchterhand-Literaturverlag/2400.rhd

Leonard Bernstein, Wonderful Town. Volksoper Wien.

Sarah Schütz (Ruth Sherwood) und das Wiener Staatsballett

Eine Hommage an Leonard Bernstein anlässlich seines 100. Geburtstages. Warum gerade dieses Stück, das ziemlich seicht ist? „West Side Story“ oder „Candide“ hätten Bernstein sicher besser als Geburtstagsgeschenk gefallen.

Also gut: „Wonderful Town“ – Musik schwungvoll, alles da: Rock, Twist, Swing – nur manchmal überlaut, dass sie in den Ohren dröhnt (Dirigent James Holmes).

Inhalt: schnell erzählt: Zwei Schwestern aus der Provinz erleben Abenteuer in New York während der  „goldenen 20er Jahre“ und finden natürlich ihren Traummann. Als besonderes Tanz- Gesangs- und Schauspieltalent fällt Sarah Schütz als die Intellektuelle“ der beiden Schwestern auf. Sehr gute Choreographie der Tanzszenen (Melissa King), etwas düstere Kulissen (Mathias Fischer-Dieskau), farbenfrohe Kostüme. Gute Gesamtleistung des Ensembles.

Fazit: Für Liebhaber des Musicals zu empfehlen. Wer wegen  Bernstein kam, wird vielleicht enttäuscht sein.

 http://www.volksoper,at 

Francesca Melandri, Alle außer mir.

Aus dem Italienischen von Esther Hansen. Wagenbach Verlag

Francesca Melandri ist eine gute Erzählerin, die geschichtliche Fakten geschickt mit einem romanhaften Geschehen verknüpfen kann, wie etwa in dem Roman „Eva schläft“.Das Rezept wendet sie auch diesmal an. Aber sie läuft in die Falle, die sie sich selbst gestellt hat: Sie kann von dem eifrig zusammen getragenen historischen Fakten über die Geschichte Äthiopiens, die Zeit der italienischen Kolonialherrschaft, über die Politik der Ära Berlusconi, über die aktuelle Flüchtlingspolitik auf kein erforschtes oder erarbeitetes Detail verzichten. Streckenweise liest sich der Roman wie eine historische Dokumentation. Um es dem Leser besonders schwer zu machen, gibt es den Namen der Hauptperson gleich fünfmal, aber immer ist es wer anderer. Dazu verschränkt sie die Zeiten und ändert den Erzählstil – alles insgesamt sehr mühsam zu lesen.

http://www.wagenbach.de

Peer Gynt. Ballett an der Wiener Staatsoper

Edward Clug, Ballettchef am Slowenischen Nationaltheater in Maribor, zählt zu den  Choreographen, die das erzählende Ballett ohne peinliche Übergestik auf die Bühne bringen.  

An der Wiener Staatsoper sah man (letzte Aufführung am 10. Dezember) seine kluge Bearbeitung von Ibsens Drama „Peer Gynt“. Durch die feinfühlige musikalische Zusammenstellung mit ausschließlich Werken von Edvard Grieg gelang ein rund um gelungener, faszinierender Ballettabend. „Peer Gynt“  wird zur Parabel von einem, der nicht begreift, was im Leben am wichtigsten ist -die Liebe. Von Eitelkeit und kindischem Egoismus getrieben tanzt er durch das Leben, zerstört Beziehungen, reist durch das Land der Trolle, zeugt mit der Frau in Grün (ausgezeichnet getanzt von Nikisha Fogo) ein Kind, fliegt nach Marokko, wo er sich wie mieser Kolonialherrscher aufführt und landet für eine Zeit im Irrenhaus. Denys Cherevychko verkörperte alle Altersstufen Peer Gynts ausgezeichnet: den schlaksig-unbekümmerten Knaben und den satten, egoistischen Mann, der am Ende seines Lebens als gebrochener Greis zu Solveig zurückkehrt. Nina Polákova – einmal nicht in der Rolle einer eiskalten Frau – verkörpert Solveig mit Anmut und tänzerischer Leichtigkeit. Berührend ist die Schlussszene, in der sie das Haus auf dem Rücken tragend Peer Gynt einlädt, einzutreten. Doch für ein gemeinsames Leben ist es zu spät.

Edward Clug fügt Peer Gynt einen Hirsch als Alter Ego bei, der ihn in die Welt hinauslockt, zu den unmöglichsten Abenteuern verleitet. Zsolt Török tanzt ihn mit verführerischer Grazie. Die Figur des Todes (Eno Peci) entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Statt Peer Gynt in sein Reich zu führen, paukt er den Draufgänger immer wieder aus gefährlichen Situationen heraus. Humor ist ein wesentlicher dramaturgischer Griff von Edward Clug – wobei ihn Leo Kulas mit fantasievollen Kostümen und Marko Japeli mit verblüffend einfachen Bühnenbildern tatkräftig unterstützen. Dazu kommt noch die verführerisch schöne Musik Edvard Griegs, die Simon Hewett mit hoher Konzentration auf die Tänzer und sehr einfühlsam dirigiert. Ein Abend, den man voll genießen kann, ohne sich bei jeder Szene nach der Symbolik und dramatischen Aussage fragen zu müssen. Zurücklehnen, hören, schauen und staunen! 

http://www.staatsoper.at

Juli Zeh ist Meisterin im Finden aktueller Themen. In ihrem vorletzten Buch „Unterleuten“ legt sie ihren Schreibfinger auf das Leben in einem Dorf im ehemaligen Ostdeutschland, schildert tief in die Seelen der Bewohner schürfend deren Abgründe.

In ihrem neuesten Roman „Neu Jahr“ scheint alles zu passen: Nette Familie, Vater, Mutter, zwei Kinder. Vater Henning beschließt über Weihnacht ein Ferienhaus in Lanzarote zu buchen. Alles perfekt: Wetter, Haus und Insel. Bis sich Henning aus einem ihm unerklärlichen Trieb heraus früh am Morgen aufs Fahrrad setzt und nach Femès hinaufradelt. (Kennt Juli Zeh den wunderbaren Roman „Mararía“ von Rafael Arozarena? Er spielt  in Femès der 1950er Jahre, als Insel und Dorf noch im dunklen Mittelalter lebten) Oben angekommen labt Lisa, eine alleinstehende Frau und Künstlerin, den total Erschöpften. Ein Brunnenschacht, bemalte Steine im Ausstellungsraum rufen in ihm Erinnerungen aus der Kindheit wach. Er war schon einmal in diesem Haus, hat schreckliche Dinge erlebt, von denen er bis ins Erwachsenenalter Albträume und unerklärbare Erregungszustände hat. Der Sommer mit seinen Eltern und seiner Schwester steigt in seiner Erinnerung auf. In diesem Haus hat sich Fürchterliches abgespielt! Vor den Augen des Lesers entwickelt July Zeh einen Seelenkrimi, spannend wie ein echter Thriller.

Großartig, wie Juli Zeh die Zaubermacht der Insel Lanzarote mit unserer heutigen, nüchternen Welt verknüpft. Auf der Vulkaninsel kommen im Menschen Kräfte hoch, wie durch Magma ins Bewusstsein getrieben. Das kann befreiend sein für denjenigen, der die Erkenntnisse akzeptiert, aber auch bedrohlich und alle Kraft raubend.

Juli Zeh einmal ganz anders! Absolut lesenswert.

http://www.luchterhand.de

Natürlich denkt man sofort an Schnitzlers „Reigen“, insbesondere an die Szene „Das süße Mädel und der Dichter“. Glattauer dreht jedoch die Verhältnisse um: Das süße Mädel ist gar nicht süß. Martina Ebm als Lisa ist frech, selbstbewusst, vor allem jung und heizt dem um Jahrzehnte älteren und arroganten Dichter Frederic Trömerbusch (August Zirner) ganz ordentlich ein, reduziert seinen männlichen Stolz auf Null, empfiehlt ihm Viagra, gibt ihm zu verstehen, dass sie von seinen Romanen ebenso wenig hält wie von seiner Männlichkeit. In dieser Schlüsselszene zeigen beide ihr Können: Ohne ins Klischee des abgehalfterten Dichters und Mannes allzu sehr abzugleiten, lässt August Zirner die Verletzlichkeit spüren, die in dem großen  „Dichterfürsten“ liegt. Martina Ebm ist ehrlich, brutal -offen und fast unsympathisch in ihrer aufdringlichen Jugendlichkeit. Glattauer spielt hier gekonnt mit dem Klischee „älterer Mann“ und „junge Frau“. 

Klischees aufzudecken, sie vordergründig zu bedienen und zugleich zu demaskieren, ist ja Glattauers Stärke. Er lässt das Stück in einem ehemaligen Luxushotel, das seine Glanzzeit schon lange hinter sich gelassen hat, spielen. Fauteuils, Betten aus den frühen 60er Jahren, eine verblasste Tapete füllen die Bühne (Ece Anisoglou). Der verzweifelte Erbe dieses schäbigen Hotels mit dem bezeichnenden Namen David-Christian  Reichenshoffer  (Dominic Oley) – er hofft vergeblich auf reiche Gäste -möchte mit  Lesungen und Interviews bekannter Persönlichkeiten ein kulturaffines Publikum anlocken. Susa Meyer als supergut vorbereitete und in Anbetung erstarrende Interviewerin und August Zirner als gelangweilter „großer Dichter“ sind das Paradebeispiel für Interviews der langweiligsten Art, wie man sie aus „Gesprächsrunden mit wichtigen Persönlichkeiten“ aus Radio oder Fernsehen kennt. Alles geht schief, der Dichter boykottiert die Fragen der allzu peniblen Moderatorin, der Hotelbesitzer erkennt, dass mit den „Sternstunden“, wie er die Gespräche nennt, keine Gäste anzulocken sind. „Ich habe ein Kulturhotel und keine Kultur“ – mit dieser Erkenntnis kündigt er seiner glücklosen Moderatorin.

Daniel Glattauer hat wieder einmal dem Hang nach einem positiven Schluss nachgegeben und lässt die beiden Verzweifelten, den gerade von seiner jungen Geliebten geschassten Dichter, und die arbeitslose Moderatorin zusammenfinden. Die energiegeladene Lisa angelt sich den gescheiterten Hotelier. So ein Schluss verlangt von den Schauspielern eine gehörige Portion Ironie, um sie aus dem Griff des all zu Platten zu befreien. Das Quartett schafft das locker, professionell unterstütz vom Regisseur Michael Kreihsl.

Man schmunzelt, lacht, erkennt eigene Eitelkeiten und die unserer Gesellschaft. Perfekt, vielleicht ein wenig zu glatt-perfekt. Unterhaltsam allemal.

http://www.josefstadt.org

Festspielhaus St. Pölten

Ein herrlicher Spaß auf hohem Niveau! Zunächst beginnt alles sehr harmlos: Auf der Bühne – eine Familienidylle: Kleinkinder spielen, Frauen und Männer stricken, häkeln und sticken. Eine ganze Weile. Langsam verändert sich das Bühnenbild, ein Glaskirchenfenster wird hochgezogen, die Möbel werden zu einer Art Empore aufgebaut, auf der sich die Musiker etablieren. Männer – manche in weißen Hemden und „Huber-Unterhosen“, wohl um die Familienatmosphäre zu unterstreichen – und Frauen spazieren umher, reden und singen unverständliche Texte, zu denen auch getanzt wird. Man meint in einer Dada-Aufführung der 20er-Jahre zu sitzen, wo Sophie Taeuber-Arp surrealistische Lauttexte tänzerisch interpretiert. Figurentanz auf Rollschuhen. Doch bald geht es an die Sache: Die Truppe formiert sich, man „spielt“ eine Messe der ungewöhnlichen Art – daher auch der Titel. Die Musik schwankt zwischen Volksmusik und Kirchenmusik. Kirchendisco auf Dada! Ungewöhnliche Instrumente, wie das Hang oder die Säge, entführen in ferne Welten.

Zwischen Traum und harter Zirkusrealität entwickelt sich spielerische Akrobatik: Menschenpyramiden, Trapezkunst ohne Netz, fliegende Körper ohne Schwerkraft.  Dazu immer wieder Anspielungen an das Kirchenritual – nie provokant oder peinlich, sondern intelligent- ironisch: Eine Kirchenbank wird zum Kreuz, das einer über die Bühne schleppt, eine Taufe wird zelebriert, Weichrauchgefäße surren durch die Luft. Das einmalige Feuerwerk an Phantasie und Können begeisterte das Publikum. Am Ende präsentierte sich die Truppe mitsamt Kleinkindern und Baby, um zu demonstrieren: Wir sind eine Familie! Den Kern des aus Kanada stammenden Ensembles bilden Antoine Carabinier, Geneviève Gauthier, Julie Carabinier und Alain Carabinier

 Festspielhaus St. Pölten: Am 22., 23., 24. März 2019 wir der Cirque Eloize gastieren. Spaß, Akrobatik und Poesie!.

 http://www.festspielhaus,at

Aus dem Slowakischen von Mirko Kraetsch. Tropen Verlag

Michal Hvorecky, geboren 1976 in Bratislava, ist Autor, Journalist und engagierter Kämpfer für die Pressefreiheit und gegen antidemokratische Bestrebungen. In dem Roman „Troll“ führt er uns die allzu nahe Zukunft vor Augen: Die EU – lahme Ente, die Trolle im Internet beherrschen das politische Geschehen im „Reich“ – eine Anspielung auf Russland oder auch andere Diktaturen. „Trolle“ agieren im Internet ohne Identität, verbreiten Hass und Unwahrheiten, die emotional geladen und so geschickt getarnt und formuliert sind, dass die Community sie für wahr hält. Nachrichten dieser Art verbreiten sich im Netz in unglaublicher Schnelligkeit und können Wahlen manipulieren und Staaten destabilisiere

Der namenlose Erzähler lernt in einer Heilanstalt die schwer traumatisierte, drogenabhängige und hoch intelligente Johanna kennen. Die beiden werden Freunde und beschließen gegen das autoritäre System und die Lügen im Netz zu agieren. Sie lernen sich als Trolle im Internet zu bewegen, torpedieren die Zentrale der Trolle, setzen sie außer Kraft und gründen ein Team von Freiwilligen, die alle Lügen des Staates aufdecken und in den Schulen Medienerziehung einrichten, damit die Jugend auf Propaganda und Lügen richtig reagieren lernt. Doch der „Sieg“ ist fragil, immer wieder wird Johanna angegriffen. Der Erzähler hat sich einer Gesichtsoperation unterziehen müssen, weil der Mob seine Identität im Netz aufgedeckt hat und sich ganz aus dem Internet zurückgezogen.

Was dem Leser  vielleicht als übertrieben oder als ferne Zukunft erscheint, ist beinharte Realität, die schon in den Startlöchern lauert. Ein Roman, der allen, wirklich allen, die noch an eine bourgeoise Sicherheit glauben, dringend zu empfehlen ist. Sicherheit ist nirgendwo, das ist die bittere Conclusio des Romans. Er erinnert in seinem Bedrohungsszenario an Houellebecqs „Unterwerfung“. Das rasante Tempo und der messerscharfe Stil, in dem Michal Hvorecky erzählt, entspricht ganz der Gefährlichkeit des Geschehens. 

http://www.tropen.de

Sona Mac Donald und Joseph Lorenz lasen aus dem berühmten Briefwechsel zwischen Peter Tschaikowski und Nadesha von Meck. Am Klavier: Boris Bloch. Silvia Adler, Gesangspädagogin in Darmstadt, wählte aus den 1200 Briefen, die sich die beiden zwischen 1876 und 1890 schrieben, besonders diejenigen aus, die das langsame Vertrautwerden, den Höhepunkt ihrer Beziehung und das Abflauen bis zum bitteren, unerklärlichen Ende zeigen. In einem Flyer kann sich das Publikum über diesen seltsamen Briefwechsel und die schwierige Beziehung zwischen den beiden Persönlichkeiten vorinformieren (sehr nützlich!).

Als Peter Simonischek und Brigitte Karner 2016 diesen Briefwechsel lasen, legten sie das Hauptgewicht auf die Fürsorge und Sorge, die die Gönnerin für den großen Komponisten hegte. Von Liebe war nur vorsichtig, eher als liebevolle Freundschaft die Rede.  Und es blieb immer eine Lesung.

Zwischen Sona Mac Donald und Joseph Lorenz hingegen entstand vom ersten Moment an eine dramatische Spannung. Der reichen Witwe Nadesha von Meck, Mutter von elf Kindern und große Musikliebhaberin, ging es in erster Linie um Liebe. Sie schlich sich mit ihrer unendlichen Bewunderung und großzügigen finanziellen Unterstützung in die Seele des Komponisten ein. Vorsichtig, sehr vorsichtig steigerte Sona Mac Donald die Temperatur – zuerst sehr gemäßigt, voller fast unterwürfiger Bewunderung, dann immer fordernder – eine Fotografie und das Duwort sollen mehr Nähe erzeugen – bis zum  Liebesgeständnis.    Da wird nicht zart angedeutet, sondern voll aus- und angespielt. 

Joseph Lorenz hat den weitaus schwierigeren Part. Ab dem Augenblick, wo er die Bühne betritt, ist er der verbitterte, verarmte, misstrauische Dichter. Der Mund verkniffen, die Augen halb geschlossen geht er nur sehr zögernd auf die Anfragen dieser reichen Witwe ein. Was will sie von ihm? Liebe kann er ihr nicht geben, wie sie es mit immer größerer Deutlichkeit verlangt. Wohl aber Freundschaft, aus Distanz bitte! (Sie begegneten einander nur zweimal sehr flüchtig auf der Straße). Als er Nadesha, seiner lieben Freundin, wie er sie inzwischen nennt, seine erzwungene Ehe gesteht, da windet er sich in Verzweiflung, nahe am Wahnsinn. Nadeshda von Meck leidet, aber reagiert mit Kalkül: Sie überweist ihm eine große Summe, damit er sich weit weg von der ungeliebten Ehefrau erholen kann. Ein Kammerschauspiel der besonderen Art liefert daraufhin Lorenz ab: Er windet sich zwischen Demütigung und Demut und Dankbarkeit, die er doch immerhin zeigen muss. Aber kein Wort von Liebe. Die kann er nicht empfinden, nicht so, wie Nadeshda es sich ersehnt. Nach zwei glücklichen Sommern, in denen sie nahe beieinander wohnen, aber nicht direkt Kontakt haben, ist diese Liebe ihrerseits zu Ende und die finanzielle Unterstützung ebenfalls. Warum, weiß auch Tschaikowski nicht. Er ahnt es zwar.

Beiden Schauspielern gelingt es, aus einer Lesung ein Drama zu gestalten, das die Seelenzustände beider Protagonisten bis ins Detail nachzeichnet. Ein großartiger Abend! 

https://www.akzent.at

Margret Greiner

Margret Greiner ist Expertin für Künstler-Romanbiografien. Dank intensiver Recherchen und einer feinen Feder veröffentlichte sie bereits einige Porträts interessanter Frauen, wie Emilie Flöge, Charlotte Salomon oder Margrethe Stonborough-Wittgenstein.

Nun also Sophie Taeuber-Arp, die wenig bekannt ist und doch zu ihrer Zeit großen Einfluss auf die Dada-Bewegung, die Anerkennung des Kunsthandwerkes als Teil der Kunst und die Strömung des Konstruktivismus hatte.

Bei der Lektüre des Buches steigt der Respekt vor der Autorin! Mit welcher Akribie und Forschungsfreude sich Margret Greiner in eine doch wenig bekannte Welt eingelesen, Briefe „ausgegraben“ und die verschiedenen Verbindungen unter bekannten und weniger bekannten Künstlern aufgezeigt hat, das gleicht wertvoller wissenschaftlicher  Grundsatzarbeit. Dennoch liest sich das Buch nicht wie eine trockene wissenschaftliche Abhandlung, da Margret Greiner mit viel Empathie immer nahe am Leben von Sophie Taeuber-Arp dranbleibt. Allerdings ermüden manchmal die zahlreichen  Namen von Künstlern, die heute vielleicht nur mehr Spezialisten der Szene bekannt sind.

Sophie Taeuber stammte aus Appenzell in der Nordostschweiz. Sie arbeitet von 1916 – 1929 als Lehrerin an der Kunstgewerbeschule in Zürich, wo sie sich für die Aufwertung des Kunstgewerbes aktiv einsetzt und gegen die Vereinnahmung durch Kitschproduktionen wettert. Vielseitig und neugierig wie sie ist, tanzt sie im „Cabaret Voltaire“  und erregt großes Aufsehen. Bald lernt sie den Maler, Lyriker, Dadaisten, Konstruktivisten und Surrealisten Hans Arp kennen. Trotz aller Differenzen im Lebensstil werden die beiden heiraten und gemeinsam in der Avantgarde des 20. Jahrhunderts tonangebend sein. Ihr Abscheu vor dem Hitlerregime zwingt beide nach Südfrankreich zu fliehen, wo sie bei Freunden in Grasse Unterschlupf finden. Doch bald müssen sie auch von dort fliehen. Sie erhalten Visa für die Schweiz, wo Sophie 1943 an einer Kohlenmonoxydvergiftung stirbt.

Margret Greiner hebt in dieser Romanbiografie die vielseitige künstlerische Kraft von Sophie Taeuber-Arp hervor. Sie war nicht nur eine exzellente Lehrerin, eine überaus begabte Tänzerin und Innenarchitektin, sondern auch eine konsequente Malerin. Ihre abstrakten Bilder fanden Anerkennung im Kreis der Konstruktivisten und sind heute in verschiedenen Museen zu bewundern.

Am 13. November war Olga Esina in der Rolle der Nymphe Sylvia zu erleben. Und es wurde, wie erwartet, ein großartiges Erlebnis. Die Choreografie des Ballettchefs Manuel Legris, die wunderbare Musik von Léo Delibes, einfühlsam dirigiert von dem erfahrenen Ballettmusikkenner Kevin Rhodes, und die Gesamtleistung des Ensembles ergaben einen runden, in sich stimmigen, sehr romantischen Abend. A propos „romantisch“. Ich möchte an dieser Stelle auf den Artikel von Wilhelm Sinkovicz, erschienen  in der „Presse“ vom 11. November 2018, hinweisen, wo er unter dem Titel „Die Sehnsucht nach dem Schönen, die Angst vor dem Kitsch“ den Mangel an großen Gefühlen auf der Bühne anmahnt. Im Alltag, so Wilhelm Sinkovicz, gieren wir nach mehr Romantik. Auf den Bühnen meiden Regisseure und Bühnenbildner sie oft aus Angst, als kitschig, gefühlig abgeurteilt zu werden. Nun: Legris und die congeniale Kostüm- und Bühnenbildnerin Luisa Spinatelli kennen diese Angst nicht. Gut so! Da darf ein Hain, die Statue des Eros, der Tempel der Diana auf der Bühne sein, da darf Eros in einem sexy Tanger, Diana, Sylvia und alle weiblichen Tänzerinnen in zarten, an die Antike und ihre Feste erinnernden Kostümen tanzen. Oft wird man an die Tableaux von Antoine Watteau erinnert, dann wieder an Ausschnitte aus pompejanischen Wandgemälden oder an Gruppierungen, wie sie gerne John Neumeier auf die Bühne bringt. Manuel Legris ist ja ein bekennender Bewunderer von John Neumeier.

Die Rolle der Nymphe Sylvia ist Olga Esina wieder einmal auf den Leib geschrieben. Sie ist fähig, die subtilsten Regungen auf ihre Bewegungen zu übertragen. Niemals absolviert sie nur eine „Performance“, sondern zeigt, was an Gefühlen der Figur innewohnt.

Credits: Wiener Staatsballett / Ashley Taylor

Sylvia ist eine treue Gefährtin der Göttin Diana, die von sich selbst und von Sylvia totale Abstinenz in Sachen Liebe verlangt. Katevan Papava gibt die Diana als stolze, unter ihrer Lieblosigkeit leidende Göttin ganz ausgezeichnet. Ein Leben ohne ERos? Das kann sich der Gott nicht bieten lassen. Er greift ein. Der junge Tristan Riedel ist nicht nur verboten schön, sondern kann auch tanzen! Nun dreht sich alles um Erotik , Lebensfreude. Gestört wird dieses romantische Lebensgefühl von dem „Schwarzen Jäger Orion“, der Sylvia mit sich in sein finsteres Reich entführt. Robert Gabdullin macht seine Sache als Bösewicht recht gut, aber irgendwie fehlt ihm noch ein Schuss gefährlicher Männlichkeit. Die hätte Vladimir Shishov reichlich bieten können. Was wäre das für eine Paraderolle für ihn gewesen! Aber er musste leider krankheitshalber absagen. Sylvia hat gegen Orion ein leichtes Spiel, sie macht ihn betrunken – und husch ist sie verschwunden. Dass alles in einem fröhlichen Bacchusfest endet, ist klar. Eros hat gewonnen, Sylvia darf ihren Hirtenbuben lieben (Jakob Feyferlik recht passend in dieser Rolle), Diana darf den schlafenden,  immer müden Endymion anschmachten, aber nur aus der Ferne.

Großer Jubel im Publikum, Rosen für Esina und Feyferlik, Extraapplaus für den Dirigenten und für Legris.

Weitere Infos: www.staatsoper.at

Dürrenmatts alte Dame hat wieder einmal Hochkonjunktur. Im Burgtheater versucht Maria Happel sie nicht ganz überzeugend darzustellen, im ORF konnte man Christiane Hörbiger in einem Film aus 2008 als das weichgespülte Monster sehen. Nun also die Inszenierung von Stephan Müller mit Andrea Jonasson in der Hauptrolle. Ein Vergleich der beiden Darstellerinnen Hörbiger und Jonasson zeigt die große Bandbreite  an Interpretationsmöglichkeiten dieser Figur auf: Christiane Hörbiger ist nicht mit ganzer Seele die Rächerin, sie hätte ganz gern auch ein wenig Mitleid mit Ill. Manchmal schimmert in ihren Augen so etwas wie wehmütige Erinnerungsliebe auf. Tatsächlich versucht sie am Schluss den Mord an Ill noch zu verhindern – zu spät, die Güllener haben bereits zugeschlagen.

Ganz anders geht der Regisseur Stephan Müller die Sache an: Radikal, brutal, dämonisch, herrschsüchtig, ohne Mitleid, ohne sentimentale Erinnerungen fordert Claire Zachanassian den Tod Ills. Wenn Andrea Jonasson den Güllenern den Besuch abstattet, dann weiß der Zuschauer sofort: Sie kennt kein Pardon. Sie wird ihr Ziel, die Ermordung Ills , erreichen. In ihrem schwarzen, bodenlangen Mantel, mit Halbglatze und einer ehernen Kappe am Hinterkopf, das Gesicht zu einer hinterhältigen Maske aufgepolstert (Kostüme: Birgit Hutter) ist sie die versteinerte Rachegöttin. Großartig! Ihre Befehle erteilt sie knapp, ihre Gesten sind herrisch und dulden keinen Widerspruch. In Kombination mit dem stummen Butler – Markus Kofler erscheint wie eine Version aus dem Film Fahrenheit 451-, ihren lächerlichen Ehemännern (alle 7-9 von Lukas Spisser) und dem bedrohlich knurrenden Panther ist sie eine herrliche Parodie auf all die reichen Milliardäre, denen das Leben ohne solche Absurditäten nicht lebbar ist. Stephan Müller zippt die Szene in die ganz aktuelle Gegenwart, indem er die Meute der Journalisten und vor allem Journalistinnen (großartig Martina Stilp und Alexandra Kismer) auf die Güllener hetzt. Mit ihrer überlästigen Invasion und Gier nach Storys machen sie sich teilschuldig an der Ermordung Ills. Michael König spielt den Ill als einen schicksalergebenen Einfaltspinsel, der Schritt für Schritt zur Erkenntnis seiner Schuld gelangt. Großartig auch die Schar der scheinheiligen Güllener. Allen voran Siegfried Walther als schmieriger Bürgermeister, André Pohl als Pseudohumanist und Johannes Seilern als gefinkelt argumentierender Pfarrer. Dürrenmatts Drama kann man immer wieder neu inszenieren und das Publikum ist immer wieder neu fesseln, denn die Figuren zeigen die menschlichen, allzu menschlichen Schwächen auf, die wir alle in uns haben.

http://www.josefstadt.org

Volker Hage
Des Lebens fünfter Akt
Luchterhand Verlag

Für alle, die sich für die Literatur um und nach 1900 und für Arthur Schnitzler interessieren, ist dieses Buch ein MUSS. Volker Hages biografischer Roman über Schnitzlers drei letzten Lebensjahre ist ein Seelenporträt vom Feinsten. Obwohl der Autor bis in die tiefsten Gedanken Schnitzlers dringt, wird er nie gefühlig, sondern wahrt immer die notwendige Distanz.

Als Schnitzler die Nachricht vom Selbstmord seiner Tochter Lili erhält, verändert sich für ihn alles. Er fühlt das Alter nahen, liest und archiviert die Tagebücher der Tochter, erleidet dabei ihre seelischen Qualen noch einmal mit .Er muss sich eingestehen, dass er zu wenig  auf die Zeichen achtete, die ihm einen Hinweis auf ihre seelische Instabilität hätten geben können.  Die Trauer hüllt ihn ganz ein. Wären da nicht die Frauen um ihn herum, die ihn quälen, er würde sich nicht mehr spüren. Seine Exfrau Olga möchte wieder zu ihm zurück, die Möchtegernschriftstellerin Clara Pollaczek quält ihn mit Eifersuchtsanfällen und Selbstmordversuchen. Ein wenig Ruhe und Abwechslung bietet ihm Hedi Kempny, die ihn mit  offenherzigen Erzählungen über ihre Erotikabenteuer von seiner Trauer ablenkt. Das Leben wird erst wieder erträglich, als er sich in die junge Suzsanne Clauser verliebt. Sie wird seine Werke ins Französische übersetzen, beide erleben eine tiefe Liebe füreinander, getragen vom  beiderseitigen Verstehen. Volker Hage wagt es sogar, die allerletzten Minuten Schnitzlers, das Herannahen des Todes, bis zum endgültigen Ende zu beschreiben. Ein Wagnis – aber es darf sein, weil es in mitfühlender Distanz geschieht,

Bei aller spürbaren Bewunderung für Schnitzler verfällt der Autor nicht in unkritische Bewunderung. Indem er Schnitzler nüchtern Bilanz über seine vergangenen Amouren ziehen lässt, zeigt er auch die eitle, verantwortungslose Seite des Dichters auf. Wie viele Frauen hat er erobert und gleich vergessen, wie viele unglücklich gemacht! Aber er bereut nichts, sondern bemitleidet sich selbst als ein von den Frauen Umkreister, Getriebener. Bei diesen Rückerinnerungen an gewesene Eroberungen weht ein leiser Hauch von Ironie durch die Zeilen. Das ist gut so und notwendig, damit eine gewisse Objektivität des Autors manifestiert wird.

Lea Singer:
Die Poesie der Hörigkeit.
Hoffmann und Campe Verlag

Man erkennt den Stil der Autorin nicht wieder. Wer etwa die Romanbiografie „Konzert für die linke Hand“ über Paul Wittgenstein gelesen hat, der glaubt es kaum, dass „Die Poesie der Hörigkeit“ von derselben Autorin stammt. Sprachlich absichtlich bis manchmal zum Unverständnis verknappte Satzstrukturen machen dem Leser Mühe, die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Sätzen zu verstehen. Dazu kommen sprachliche Unsinnigkeiten, wie etwa „Benn hatte mit Freiraum geaast“. Man hat den Eindruck, Lea Singer hat zu viel Gedichte von Gottfried Benn gelesen und wollte es ihm an Vieldeutlichkeit bis zur Undeutlichkeit gleichtun. Nur: Gottfried Benn schrieb Gedichte, Lea Singer eine Romanbiografie.

Das Thema: Die Tochter von Carl und Thea Sternheim – Mopsa genannt – verliebt sich schon als Kind in den hässlich – vierschrötigen Gottfried Benn, Arzt und damals in den 20er Jahren schon berühmten Dichter. Doch der Haken ist der: Auch ihre Mutter liebt ihn – mit mehr Erfolg als Mopsa. In diesem ewigen Dreiecksverhältnis spielt sich das Leben ab. Mopsa ist besessen von Benn. Auch als er sich den Nazis anbiedert, sie und die Mutter nach Pars fliehen, sie in ein Lager deportiert wird, dort lebend wieder herauskommt, hat sie nur eines im Sinn: Benn zu sehen und von ihm auch nur ein einziges Mal zu hören: Ich liebe dich. Der hat jedoch andere Frauen, heiratet eine bequeme Ilse, ist nach dem Ende der Nazizeit wieder hoch gelobter Dichter. Mopsa stirbt an Krebs, ohne von ihm ein Liebeswort gehört zu haben.

In jedem Sinn – schwere Kost.

Puccini: La fanciulla del West
Live aus der Met in New York

Was für ein Abend! Noch nie zuvor hörte und sah man derart intensive Sänger-Darsteller. Allen voran Eva Maria Westbroek als Minnie, die Wirtin der Goldgräberschenke. Sie ziselierte diesen Charakter mit unglaublicher Intensität und Wandlungsfähigkeit. Keine Spur von resoluter Schenkenwirtin, wie  Nina Stemme sie zeichnet. Eher ein Mädchen, das mit seiner treuen Fürsorge um „ihre“ wilden Goldgräber von ihnen allen verehrt und heimlich -eben nur heimlich – geliebt wird. Als sie sich für die Liebe zum Banditen Dick Johnson entscheidet, da wird sie zur liebenden Furie. Wenn auch manchmal in all der Aufregung die Stimme in der Höhenlage schrill wird – sie überzeugt trotzdem voll durch ihr Spiel und Gesang. Wie stark sie in der Rolle drinnen ist, merkt der Zuseher in der Pause, als sie vollkommen erschöpft vom Kampf um Dick ein Interview gibt: sie findet nur schwer aus der Rolle in die wirkliche Wirklichkeit zurück.

Durch ihr intensives Spiel zieht sie auch Jonas Kaufmann mit, der zu Beginn einen eher zurückhaltenden Part hat und auch erst zögerlich in die Rolle des ehrlich Liebenden einsteigt. Beide stimmlich großartig im dramatischen Finale. In dieser Inszenierung reiten sie nicht in den Horizont hinaus wie in der Inszenierung, die in Wien mit Kaufmann und Stemme zu sehen war, sondern gehen langsam gemeinsam in einen rosarot gefärbten Horizont. Die Bande der Goldgräber singen ein wehmütiges Adieu.

Marco Armiliato dirigierte frei, ohne Partitur, immer die Musiker und Sänger im Blick behaltend und brachte die Musik Verdis in allen Feinheiten zum Schwingen.

Ein Abend, wie man ihn selten an der Met erlebt!!!

Dennis Lehane: Der Abgrund in dir
Aus dem Amerikanischen von Steffen Jacobs und Peter Torberg. Diogenes Verlag

Der Autor packt in den 500-Seiten starken Krimi alles hinein, was gerade im Krimi- und Belletristikgenre en vogue ist:

1. Die Protagonistin Rachel geht nach dem Tod ihrer Mutter auf Vatersuche – nicht sehr logisch, warum nicht zu Lebzeiten der Mutter.? Das Waisenkind, der Jugendliche ohne Vater – ein beliebtes Motiv in der amerikanischen Literatur.

2. Ihre Vatersuche dauert bis auf Seite 300 – da beginnt  der Leser die Hauptfigur  als sehr nervig zu empfinden und steigt schon teilweise aus.

3. Natürlich darf das in der Belletristik überstrapazierte Motiv „Frau sucht Mann“ nicht fehlen. Rachel findet sehr schnell einen Ehegespons und ist auch sehr schnell wieder geschieden.

4. Rachel macht Karriere. Als berühmte Fernsehreporterin berichtet sie über das große Erdbeben in Haiti, wird aber bald von dort abgezogen, weil ihre Reportagen zu „gefühlig“ sind. Sie selbst kann das Elend, das sie gesehen hat, nicht vergessen, fühlt sich irrationaler Weise für den Tod eines Mädchens schuldig und erleidet so heftige Panikattacken, dass sie sich nicht mehr aus dem Haus traut. Die Panikattacken werden ausführlich – zu ausführlich – beschrieben.

5. Der Leser fragt ungeduldig: Wann beginnt der Krimi?

6. Wie so das Leben spielt: Rachel verliebt sich in einen charismatischen Mann, die beiden heiraten und führen eine glückliche Ehe. Noch immer kein Krimi, aber der Leser beginnt zu ahnen, dass das Glück bald bröckeln wird.

7. Ab Seite 377 wird es wüst – die Welt um Rachel zerbröselt, ist ihr Ehemann ein Krimineller, ein Bigamist?  2 Kriminelle dringen in die Wohnung ein, schießen Rachel ins Rückenmark. Da heißt es: „Die Knochensplitter trieben in ihrem Blutkreislauf“ – doch Rachel marschiert unversehrt aus der Wohnung! Wie geht das????

8. Es kommt noch wüster: Rachel erschießt ihren Ehemann und wirft die Leiche ins Meer. Doch oh Wunder, als sie den Leichnam mit Steinen beschweren will, ist er pfutsch. Denn er lebt….Da spätestens verließ ich die Story.

Le nozze di Figaro
Wiener Staatsoper 12. Oktober 2018

Schade um die schönen Stimmen! Erwin Schrott als Graf Almaviva, Chen Reiss als Susanna, Riccardo Fassi als Figaro und Svetlina Stoyanova als Cherubino bemühten sich redlich, diese Burleske mit Anstand über die Bühne zu bringen. Der Dirigent Sascha Goetzel ebenso. Aber was konnten alle gegen eine platte Burleske-Inszenierung tun? Jean Louis Martinotys Regie und Hans Schavernochs Bühnenbild machten aus der zauberhaften Erotikkomödie ein plattes Lustspiel. Ich dachte mit Wehmut an die Klaus Guth-Inszenierung der Salzburger Festspiele.

Petra Piuk: Toni und Moni. Verlag Kremayr & Scheriau

Heimatromane, Dorfgeschichten haben eine lange Tradition. Zu den besten zählen wohl die Novellen von Marie Ebner von Eschenbach. Sie war eine genaue Beobachterin und kritisierte vor allem die Herzlosigkeit der Oberschicht. Einen liebevoll-verständnisvollen Blick hatte sie für die „kleinen Leute“, deren Nöte sie nur allzu gut verstand. Einen ähnlichen Blick mit Herz und Verstand und wacher Kritik für Strömungen des aufkommenden Nationalsozialismus im ländlichen Österreich hat Theodora Bauer in ihrem Debütroman „Chikago“ (sic!). Juli Zeh wiederum entwirft in ihrem 600 Seiten starken Roman „Unterleuten“ ein kritisches Bild eines Dorfes, das die Zeiten der DDR bis heute nicht vergessen konnte. Mord, Bestechung, Spekulation und Neid sind an der Tagesordnung.

Nun also „Toni und Moni“. Kremayr & Scheriau hat es sich zur dankenswerten Aufgabe gemacht, junge Autoren und Autorinnen besonders zu fördern. Petra Piuk ist eine davon. Sie stammt aus dem Südburgenland und kennt „ihre Pappenheimer“  Im Untertitel „Anleitung zum Heimatroman“ wird die Stoßrichtung deutlich: Mit Witz, Humor und Satire nimmt sie ländliches Denken, Handeln aufs Korn. Da werden Familienidyllen zerstört – : „wie ich der Mama den letzten Verstand raubte“. Seite für Seite wird die Idylle des fiktiven Dorfes Schöngraben an der Rauscher aufgebaut und sukzessive demontiert. Ein Mord geschieht, ohne ihn kommt ja keine Dorfgeschichte aus!  Die Leiche wird zerstückelt und auf dem Viehfriedhof des Dorfes verscharrt. Die Moni heiratet den Toni, bekommt das Kind. Dann vergiftet sie den Toni, erstickt das Kind und erschießt alle Dorfbewohner. Die Heimatidylle als volles Fiasko! Man lacht, weil die Autorin sich in schrägen Ideen überschlägt, dauernd die Erzählperspektiven ändert und überhaupt wie der Puck im Sommernachtstraum ihr Unwesen im Dorf und im Roman treibt. Wer finsteren Humor mag, dem sei das Buch empfohlen.

Verena Stauffer: Orchis. Verlag Kremayr&Scheriau

Ein Romanerstling, der einiges verspricht., Wenn die Autorin einmal ihre ausufernde Sprachphantasie in etwas kontrolliertere Bahnen lenkt, dann darf man in Zukunft einige aufregende Texte von ihr erwarten.

Deutschland, Mitte des 19. Jh., im Erzgebirge. Dort wohnt der Orchideenforscher Anselm – noch immer bei seinen wohlhabenden Eltern. Er ist von der Idee besessen, die seltene Orchidee, den „Stern von Madagaskar“, als Erster zu finden und zu botanisieren.  Dabei treiben ihn wissenschaftliche Neugier und die Sucht nach Ruhm an. Also bricht er zu der Insel im Indischen Ozean auf. Auf dem Schiff findet er einen Interessensgenossen, den Engländer Lendy. Gemeinsam starten sie die gefährliche Expedition in den Osten der Insel. Dabei hat der Leser genügend Gelegenheit, die blühende Phantasie der Autorin zu bewundern. Wie sie die Insel in aller Exotik, Buntheit und Gefährlichkeit schildert, das zeugt von eindrucksvoller poetischer Kraft  Allerdings werden einzelne Passagen ermüdend lange ausgedehnt – eine Kritik, die für das ganze Buch gilt-. Anselm findet wie in einem totalen Sinnesrausch die Orchideen in der vollen Blühphase, dazu noch die seltene Sobralia, die eine ganze Wiese bedeckt. Er verfällt in einen totalen Rausch, den Lendy nicht nachvollziehen kann. Mühevoll kehren sie mit den seltenen Exemplaren beladen in den Hafen zurück und besteigen das Schiff, das sie nach Deutschland zurückbringt. Auf dem Schiff gehen einige wertvolle Exemplare der Orchideen verloren und Anselm wird durch den Schock schwer nervenkrank. Nach der Entlassung aus der Nervenheilanstalt und einer kurzen  Zwischenzeit als Professor an einer deutschen Universität fährt er zu einem Orchideenkongress in London, wo ihn geheimnisvoller Botaniker auf die Fährte einer seltenen Orchidee in China setzt. Dass das alles nur eine Finte war, um Anselm zu blamieren und aus London wegzulocken, erfährt er zwar später. Doch da ist er schon auf dem Weg nach China. Dort gelangt er in ein abgelegenes „Färberdorf“, wo die Bewohner aus einer seltenen Orchidee Stoffe blau färben. Es hat den Anschein, als ob der Wirrkopf und Phantast Anselm endlich angekommen ist.

Der Stil ist ein Gemisch aus banalen Schilderungen (Kutsche besteigen, Koffer packen), langen wissenschaftlichen Abhandlungen und phantasievollen Schilderungen von Landschaften und Traumsequenzen.

Mit diesem Roman muss man Geduld haben, ihn „kommen lassen“ oder besser: sich auf ihn einlassen. Eilige Leser werden ihn bald weglegen.

 

 

Ein Sonntag im Theater: Matinée mit Joseph Lorenz und Marcus Bluhm
Am Nachmittag : Die Reise der Verlorenenen . Am 7. Oktober im Theater in der Josefstadt

Der Sonntag  im Theater in der Josefstadt begann mit einer Matinée. Eva Maria Klinger stellte mit viel Charme und Humor zwei „Neulinge“ im Ensemble vor: Marcus Bluhm und Joseph Lorenz. „Beide sind keine Jungspunds“, meinte sie lächelnd. Beide etwa im Alter zwischen 50 und 60 haben vieles gemeinsam: sie haben eine gelungene Karriere hingeschmissen und sind in den Raum der „Freien“ eingetaucht.  Joseph Lorenz verließ das Burgtheater und begründete seinen Abgang so:“ Was nützt mir ein schönes Zimmer ohne Aussicht?“ Marcus Bluhm wollte eine Familie gründen, zog nach Italien,  heiratete Theresa Hübchen. Joseph Lorenz wurde der Star bei den Festspielen Reichenau und brachte Texte von Zweig, Schnitzler oder Werfel zu intensivem Leben. Nun haben beide nach Jahren des Lebens im Freiraum eine Heimat im Josefstädter Ensemble gefunden.

Am Nachmittag erlebte man Joseph Lorenz und Marcus Bluhm in „Die Reise der Verlorenen“ von Daniel Kehlmann, der die Bühnenfassung basierend auf dem Buch „Voyage of the Damned“ von Gordon Thomas und Max Morgan-Witts schrieb.

Der polnische Regisseur Janusz Kica, schon seit Jahren erfolgreich an der Josefstadt arbeitend, präsentiert dem Publikum einen klaren Faktenchek: Die Schauspieler treten an die Bühnenrampe und schildern dem Publikum – quasi direkt ins Gesicht – ihr Schicksal. Das passiert ohne Larmoyanz, ohne Moralkeule und schon gar nicht Mitleid heischend.  Tausend jüdische Passagiere sollen zu Beginn des 2. Weltkrieges nach Kuba verschifft werden. Doch Kuba verweigert die Aufnahme. Das politische Gezerre zwischen Kubas Präsident, der vor den Wahlen steht und daher gegen die Aufnahme der Flüchtlinge ist, dem Vertreter der jüdischen Vertretung in Amerika, dem amerikanischen und dem englischen Botschafter entpuppt sich als Politfarce. Keiner will die Flüchtlinge aufnehmen, bis sich doch Frankreich, Holland und Belgien bereit erklären, jeweils eine gewisse Anzahl aufzunehmen. Was wie ein „glückliches Ende“ scheint, entpuppt sich als Todesfalle. Die meisten von ihnen kommen in Lagern, die von den Deutschen in diesen Ländern später errichtet wurden, um.

Das ganze Ensemble wird aufgeboten und leistet eine beeindruckende Performance. Allen voran Herbert Föttinger als Kapitän des Schiffes, der verzweifelt versucht, die Passagiere zu retten. Der Applaus war lang andauernd, viele Bravorufe – eine für das Josefstadt-Publikum ungewöhnliche Reaktion.

Die Parallelen zur Gegenwart ergeben sich klar und deutlich. Im Stück wird nicht explizit darauf hingewiesen – was auch nicht nötig wäre. Im Programmheft belegen Zitate aus der gegenwärtigen Flüchtlingsdiskussion die Parallelen.

Fazit: Eine großartige Aufführung. Unbedingt ansehen.

Infos und Karten unter: www.josefstadt.org

Liessmann: Die kleine Unbildung. Gezeichnet von Nicolaus Mahler. Zsolnay Verlag

Eine köstliche Kurzfassung von Liessmanns Scheltensammlung: Bildung als Provokation (ebenfalls Zsolnay).

Da beutelt uns Liessmann ganz schön her, packt unser eingerostetes Denken beim Schopf.. Unterstützt von Nicolaus Mahlers Zeichnungen, der uns Lesern die Dummheit in der Welt und die eigene Dummheit mit kräftigen Strichen vor Augen führt. Witzig, provokant, unterhaltsam allemal. Liessmann weckt uns auf, wenn wir bei den Kultursendungen im ORF 2 und III  über der kritiklosen Berichterstattung eingeschlafen sind. Amüsant, aber eigentlich zum Weinen, wenn er die Bildung als hinschwindendes Gespenst, das es bald nicht einmal mehr als Gespenst geben wird, einmahnt Eine pure Freude hat man, wie er sich auf Begriffe wie „Kompetenz“, „Reformbedarf“, „Evaluierung“ einschießt. Mahler nimmt sie auf die zeichnerische Schaufel, und tut sie als gewogen, aber für zu leicht befunden ab. Man möchte das Büchlein allen Politikern, besonders den für Schule, Kultur und Bildung zuständigen, aufs Nachtkasterl oder den Schreibtisch legen!!

Meine Lieblingszeichnung finde ich auf Seite 73. Anschauen! Ich verrate nicht, was und warum.

Meine Empfehlung: Das Büchlein immer mit sich tragen und bei guten Gelegenheiten daraus zitieren – besonders in „bildungsbeflissener“ Gesellschaft.

Colm Tóibín: Marias Testament
Eine Aufführung der Hamburger Kammerspiele im Theater in der Josefstadt

Regisseur Elmar Goerden bearbeitete den Roman des irischen Autors Colm Tóibín für die Bühne, immer im Hinblick auf die Besetzung Marias durch Nicole Heesters. In Hamburg feierte das Publikum die Schauspielerin mit standig ovations.

Nun also ist „Marias Testament“ im Theater in der Josefstadt zu sehen.

Maria steht allein auf der Bühne, unsichtbar bedroht von ihren Aufpassern – wahrscheinlich ein oder zwei Jünger, die die Version der Kreuzigung unbedingt als Welterlösungsgeschichte für die Nachwelt aufschreiben wollen. Eben so, wie wir sie heute lesen. Aber Maria ist damit nicht einverstanden, lässt sich nicht einschüchtern. Sie will die Wahrheit erzählen, wie sie sie erlebt hat. Die ist natürlich den Schreibern nicht genehm (ein Seitenhieb des Autors auf die Fragwürdigkeit jeglicher Berichterstattung). Maria, wie die Zuschauer sie erleben, hat nichts mit der verkitschten Heiligenfigur aus diversen Bildern zu tun. Sie ist eine starke, kluge Frau, die ihren Sohn sehr kritisch sieht: Er sammelt nur Nichtsnutze um sich -„keiner von ihnen ist normal“. Sie erlebt, wie ihr Sohn und seine Freunde“ wie eine Horde von Heuschrecken“ in das Grab von Lazarus eindringen – es gruselt sie. Die Auferweckung von den Toten und andere „Wunder“ hält sie eher für Scharlatanerie, ebenso das „Wunder von Kanaa“. Dass sie ihren Sohn mit ihrem Ehemann gezeugt hat, davon ist sie überzeugt. Von einem Engel und göttlicher Einmischung will sie gar nichts wissen. Als Realistin ahnt sie die Gefahr, in der ihr Sohn durch seine „Erlösungstendenzen“ schwebt. Die Kreuzigung schildert sie so, wie sie sie erlebt hat: Banalitäten des Alltags ringsum, während ihr Sohn ans Kreuz genagelt wird. Da packt sie die nackte Angst und sie flieht. Bis nach Ephesus, wo sie nun in der bescheidenen Behausung ihre Sicht der Dinge darstellt. Erlösung der Welt durch den Kreuzestod? „War es das wert?“ fragt sie zum Schluss und zieht damit die ganze Erlösungsgeschichte in Zweifel.

Diese Rolle verlangt viel, alles von einer Schauspielerin ab. Nicole Heesters ist eine sehr entschlossene, erdverhaftete Mutter, die den  Erlösungsphantasien der Jünger und den prahlerischen Auftritten  ihres Sohnes nichts abgewinnen kann. Sie ist in erster Linie Mutter. Das gelingt Nicole Hessters ganz wunderbar, ohne Wehmut und falsche Larmoyanz, Als sie die Kreuzigung bis ins Detail – die Nagelung und die Schmerzensschreie – schildert, da genau  fing ich an, mich zu fragen: Wir, das Publikum, sitzen da im Zuschauerraum und hören Nicole Heesters zu, wie sie diese Details und ihr Entsetzen erzählt. Für mich waren die Grenzen des Theaters in diesen Momenten überschritten. Denn es war der Schauspielerin anzumerken, wie sehr ihr diese Textstellen zu schaffen machten. Die Tränen waren wohl keine Theatertränen.

Dennoch: Eine großartiger Text für eine großartige Schauspielerin!

Infos und Karten: www.josefstadt.org

Brecht: Der gute Mensch von Sezuan. Landestheater Niederösterreich

Es regnet, es regnet – wer kauft bei der Wasserflut dem Wasserverkäufer noch Wang Wasserflaschen ab? In seiner Verzweiflung hofft er auf das Erscheinen der Götter, die in der Stadt Sezuan erwartet werden. Die sind auf der Suche nach einem guten Menschen – bisher überall erfolglos. Die Prostituierte Shen Te bietet ihnen eine Unterkunft an und bekommt für ihre gute Tat einen ordentlichen Batzen Geld. Den Laden und das Geld hat sie nicht lange, denn die Schmarotzer belagern sie zu Hauf. Sie gibt, bis sie bankrott ist, da kommt ihr die Idee, den Vetter Shui Ta zu erfinden, der sie durch seine Härte vor dem finanziellen Ruin kurzfristig rettet.. Bis der arbeitslose Flieger Yang Sun ihr die letzten Reserven mit einem windigen Heiratsversprechen herauslockt. Sie, die an seine Liebe glaubte, ist tief enttäuscht. Wieder soll ihr Vetter alles retten. Der zieht mit harten Mitteln eine Fabrik auf, wirft die Schmarotzer raus und macht Yang Sun zum Vorarbeiter, der die anderen nun schindet. Am Schluss soll ein Gericht der Götter entscheiden, ob Shen Te ein guter Mensch ist und Shui Ta verurteilt werden soll. Das Ende lässt Brecht offen.

Soweit die Story. Oder wie Brecht sagt: Die Parabel. Er schrieb sie zwischen 1938-40, zu einer Zeit, da die Arbeitslosigkeit schon viele Menschen in den Suizid getrieben hatte. Was als Text eher trocken und theorielastig daherkommt, haben der Regisseur Peter Wittenberg und das ganze Ensemble mit Leben und Aktualität erfüllt. Deutlich verknüpft Wittenberg die Probleme von damals mit heute: Wasser – Überflutung und Knappheit, ein Wirtschaftsfaktor für Firmen wie Cola, Nestle.Korruption, Schmarotzertum, Ausbeutung der Arbeiter, die Ausbeutung der „Guten“, die Frage, wie weit kann, darf man helfen. Das Versagen der Religion – die Götter sind nur mehr Witzfiguren, die sich unter der Erde verkriechen, wenn sie nicht weiter wissen.

Brechts Lehrstücke heute zu inszenieren ist nicht ganz leicht, die Gefahr des moralischen Zeigefingers ist stückimmanent. Dem entgeht das Ensemble : mit viel Witz und Körpereinsatz wird voll gespielt. So müssen die Schauspieler fast das ganze Stück im veritablen Regen und in Wasserlacken spielen – nicht sehr angenehm, aber sie ertragen es heroisch. Lili Epply ist eine bezaubernde Shen Te, die an die Liebe und an die Hilfsbereitschaft glaubt. Was sie ein wenig vermissen lässt, ist die Brutalität Shui Tas.  Vielleicht  mit Absicht – um zu zeigen, dass sie nur gezwungenermaßen den Vetter erfinden muss. Aber ein wenig mehr Brutalität im Spiel hätte der Problemstellung gut getan, um den krassen Gegensatz zwischen Mildtätigkeit und Versklavung herauszuarbeiten. Mit voller Charmeoffensive spielt Stefano Bernardin den schmierigen Flieger Yang Sun, Tim Breyvogel mit totalem Einsatz den Wasserverkäufer, die drei Götter sind von herzerfrischender Naivität, mit totaler Dummheit geschlagen. (Tobias Artner, Bettina Kerl, Tobias Vogt). Joesphine Bloeb als kaugummikauende und Hinterteil wackelnde Schmarotzerin ist umwerfend provokant. Durch eine offene Bühne mit einem einfachen Dach für den Tabakladen und dem dahinter liegenden Berg von Kleidung, aus dem sich die Schauspieler in Windeseile für die nächste Rolle ihr Kostüm heraussuchen, bekommt der Zuschauer das ganze Geschehen voll mit, es wird nie langweilig. Fazit: Eine gelungene Aufführung, die dem Brechtstück eine gehörige Vitaminspritze verabreicht, verstärkt durch die Musik von Paul Dessau in Bearbeitung von Paul Moshammer.

Ein gut gemachtes Programmheft zieht die Parallelen zur Gegenwart.

Infos unter: www.landestheater.net, Tel: 02742/90 80 80 600

Ballett „Giselle“ nach der Choreografie von Tschernischova an der Wiener Staatsoper

Giselle ist ein heikle Rolle – sie verlangt von der Tänzerin Einfühlungsvermögen und ein Gespür für „too much“. Nur die besten Ballerinas haben sich an diese Rolle gewagt und darin reüssiert, zum Beispiel Anna Pawlowna Pawlowa. Und Olga Esina in dieser Rolle ist ein unübertroffenes Tanzwunder! Ihre Interpretation ist feinsinnig, jede kleine Geste spricht von der romantischen Liebe dieses Mädchens, die von Herzog Albrecht – wunderbar getanzt von Roman Lazik – so schmählich verraten wird. Was ich an der Interpretation Esinas so mag, sind die hauchzarten Pausen, die sinnlich langsamen Bewegungen – da werden keine Choreografien „heruntergetanzt“ -und ihre reife Ausdeutung der Liebe über den Tod hinaus. So manch einer/eine mag sagen, das alles ist romantischer Mumpitz – aber nur einer, der Esina nicht tanzen sah, kann so reden!!! Das Publikum empfing sie mit Auftrittsapplaus, und man spürte fast körperlich die Spannung im Zuschauerraum – aber auch im ganzen Ballettensemble. Denn fast schien es, als ob Esinas Präsenz auf alle überging. Denn keine/ keiner schluderte. Die Anspannung, gut zu sein, herrschte wie ein ungeschriebenes Gesetz. Deshalb mag man mir verzeihen, wenn ich nicht alle tollen Tänzer/innen hier aufzähle. Denn alle, wirklich alle, tanzten, als wären sie von einem geheimen Antrieb zu Höchstleistungen angespornt.

Nun zu Olga Esinas Rolle im Einzelnen: Sie tanzt das junge Mädchen, das von Leid nichts weiß und sich mit vollem Überschwang in den Herzog verliebt, ohne zu ahnen, wer er ist, mit Grazie und Zartheit. Als sie miterleben muss, wie er sie vor der Hofgesellschaft verleugnet rast sie in den Wahnsinn. Diese Wahnsinnsszene muss man gesehen haben: verletzlich, ohne übertriebene Raserei tanzt sie tief verletzt in den Tod.

Dann ihre Bitte an die Königin der Wilis, Herzog Albrecht zu verschonen. Ihr Tanz ist Gebet – anders lässt sich das nicht ausdrücken.

Ein ganz großer Ballettabend!!! Viele Applaus und Standing Ovations für alle, auch für Ermanno Florio, der sehr einfühlsam dirigierte.

Barbara Rieger, Bis ans Ende, Marie. Kremayr&Scheriau

Barbara Rieger wird zur so genannten jungen Literatur gezählt. Und in mir entsteht der Verdacht – nach einigen Romanen dieses Genres und vielen Stunden, die ich mit Lesen dieser verbrachte, dass junge Literatur zumeist sich  aus folgenden Verben zusammensetzt: ficken, kotzen, saufen, kiffen.

Nun aber etwas ernster: Die Icherzählerin -jeder 2. Satz beginnt mit „Ich“ – ist nach ihrer Scheidung ziemlich haltlos. Sie studiert, aber nur pro forma. Verliebt sich in einen Studenten, der sie aber nicht beachtet . So lässt sie sich in die Welt von Marie fallen, die nur eines will: Sex, egal mit wem, möglichst oft. Die verklemmte Icherzählerin bewundert Marie, möchte mit ihr gleichziehen. Säuft – das tut ihr nicht gut – sie kotzt, kifft – das tut ihr nicht gut – sie kotzt und wird krank, nur eines kann sie noch nicht: ficken. Doch am Ende kommt es doch zu einem „Dreier“: Sie, Marie und deren Freund Tom. Ende gut, alles gut, als Tom das Kondom aus ihr herauszieht, kann sie endlich lachen und findet alles o.k. Ob es ein befreites oder verzweifeltes Lachen ist, bleibt unklar.

Nur um dem Vorwurf entgegenzuwirken, dass ich prüde wäre. Nein, als geübte Leserin habe ich schon mehr verdaut als dieses Anfangswerk. Aber es ist eben ein Anfangswerk – Sprache simpel, Inhalt simpel, auch wenn sich die Autorin bemüht, die Story mit wilden Träumen aufzumotzen.

Wiener Staatsballett: Ein Sommernachtstraum. Volksoper

Um es gleich auf den Punkt zu bringen: Unterhaltsam, kraftvoll, witzig, seine Sprünge gut in der Rolle fixiert, seine Mimik und Gestik als Puck voll erfüllend war an diesem Abend: Richard Szabo. Er sorgte dafür (mit den kleinen Glühwürmchen-Elfen) dass das Publikum bei der Stange blieb und die endlos langen und langweiligen Gruppentänzchen – alle recht brav vom Corps de Ballet ausgeführt – geduldig ertrug. Die Langeweile ein wenig aufgelockert hatte das Bühnenbild von Sandra Woodall. Geheinisvoll und fast nicht deutbar blieb jedoch die braune Wand mit einem antiken Relief – was genau, war nicht auszumachen, ist wohl als griechisches zu deuten gewesen. Ulkig war die Gestiksprache: Alle Thebaner ahmten gleichsam die eckigen Bewegungen und Kopfstellungen dieser antiken Relieffiguren nach, die anderen führten untereinander eine Art von Comic-Zeichensprache. Gespannt war man auf das Paar Oberon und Titania, getanzt von Vladimir Shishov und Ketevan Papava – eigentlich ein Traumpaar. Doch Shishov wirkte müde, Papava sehr bemüht, ihre Choreografie exakt auszuführen. Die Seele fehlte. Obwohl Jorma Elo  für diese aus dem Jahr 2010 stammende Choreografie einige Preise einheimste, überzeugt sie heute nicht mehr.   John Neumeier machte es mit seinem „Sommernachtstraum“ (Choreografie 1977) märchenhaft und  gültig vor.

Andreas Schüller dirigierte das Orchester der Volksoper ziemlich laut bis unsensibel.

Festspielhaus St. Pölten: Acosta Danza und das Tonkünstler Orchester Niederösterreich: Carlos Acosta a Celebration

In dem 4-teiligen Abend konnte die weltbekannte Gruppe „Acosta Danza“ ihre Vielseitigkeit unter Beweis stellen.

In „Punta a Cabo“ bringt die Gruppe ihre Stärke im Streetdance à la Westside-Story an. Unter der Choreographie von Alexis Fernandez erlebt man vor der Videowand, die vielleicht Havanna und die Promenade El Malecon zu verschiedenen Tageszeiten zeigt, die vitalen Jungen von Havanna, ihr Alltagsleben zwischen Streit, Verliebtheit, Disco. Alles unter dem Motto: Tanz ist Ausdruck der Lebensfreude.

Höchstspannung in „Fauno“. Nach der Musik von Débussy „Prélude à l’après-midi d’un Faune“ , raffiniert gekreuzt mit der Musik von Nitin Sawhney entwickelt Sidi Larbi Cherkaoui eine wild-tierische Choreographie.  Carlos Luis Blanco und Zeleidy Crespo legen einen fulminanten Sexkampf hin, der an Riesenkraken denken lässt. Was für ein Unterschied zur Interpretation von Njinsky und Nurejev, die beide einen unter dem Tier-Mensch – Dasein leidenden Faun tanzen und in Noblesse und Eleganz den Coitus mit einem Schleier der Angebeteten vollziehen. Ganz anders nun Blanco als Faun und Crespo als sexhungrige Kraken, die sich gegenseitig verschlingen. Noblesse adé, Chapeau vor dieser Tanzleistung!

Zur Erheiterung: „Rooster“ unter der Choreografie von Christopher Bruce läuft eine heitere Show der 60er Jahre ab: Die Männer gebären sich wie eitle Gockeln, angelockt von den kindlich-vampirhaften Mädels. Spaß und Ironie zur Musik der Rolling Stones!

Nach der Pause dann „Carmen“ – in einer inhaltlich erweiterten Choreografie von Carlos Acosta. Er lässt Carmen und Don José für eine Weile ein bürgerliches Liebesglück vor einem roten Samtbett und Kommode tanzen. Dieser Traviataverschnitt wirkt eher peinlich. Vielleicht auch etwas zu viel: der tanzende Stier als böses Element. Die Tänzer leisten gute Basisarbeit im Ballett, sind aber besser im modern Dance. Interessant war es, Carlos Acosta himself als Escamillo tanzen zu sehen.

Paul Murphy führte die Tonkünstler versiert und sicher durch die Musik von Débussy, Sawhney, Bizet – gemischt mit Musik Rdion Shchedrin und Martin Yates.

Begeisterter Applaus!

Staatsoper: Solistenkonzert Günther Groissböck. Am Flügel Gerold Huber

Nicht gerade häufig ist Günther Groissböck an der Staatsoper zu hören. Als König Heinrich im Lohengrin zum Saisonende und vor Jahren als Wassermann in Rusalka. Daher war der Liederabend eine gute Gelegenheit, diesen exzellenten Bass wieder zu erleben. Im ersten Teil waren die „Vier ersten Gesänge“ von J. Brahms und Robert Schuhmanns „Liederkreis op.39“ zu hören. Keine leichte Kost, geht es doch um Tod, Verlust, Trauer. Groissböck lieferte eine feinsinnige Interpretation. Aber offensichtlich hatten viele aus dem Publikum etwas anderes von dem Sänger mit dem voluminösen Bass erwartet – mehr opernhafte Theatralik. Wahrscheinlich deshalb war der Stehplatz nach der Pause fast leer und einige Sitzplätze ebenso. Aber: Schadenfroh kann ich sagen: Sie haben versäumt, was sie eigentlich erhofften. Mit 6 Liedern von Tschaikowski auf Russisch, darunter auch Goethes Mignon-Liedvertonung „Nur wer die Sehnsucht kennt“ und 6 von Rachmaninow konnte Grosisböck seinen Bass so richtig aufdrehen. Wer da nicht beeindruckt war, war am falschen Platz. Groissböck bewies, begleitet von dem congenialen Pianisten Gerold Huber – wie man Lieder hochdramatisch gestalten kann.

Nach einem frenetischen Applaus, Bravos und Standing ovations gab es  Zugaben: Paolo Conte, Ti ricordi ancora und  Franz Schuberts „Erlkönig“ . Fazit: Wer zu früh geht, den bestrafen die Götter!

Theater in der Josefstadt: Der Gott des Gemetzels (Yasmina Reza)

Herbert Föttingers gewagtes Rezept, bekannte Vorlagen aus Film und Theater neu aufzustellen, ist auch diesmal wieder aufgegangen. Theaterbegeisterte erinnern sich an die Aufführung im Burgtheater aus 2008 mit Maria Happel, Annette Christiane Pölnitz, Joachim Meyerhoff oder an die Verfilmung (2011) mit Christopher Waltz, Judie Foster, Kate Winslet, John Relley. Da wie dort – große Schauspielkunst. Yasmina Reza weiß eben, wie man gute Dramen und tolle Rollen für Schauspieler schreibt.

Nun treten Judith Rosmair als Véronique, Marcus Blum als Michel, Susa Meyer als Annette und Michael Dangl als Alain gegen diese Erinnerungen an. Gleich vorweg: Sie schaffen locker, die Konkurrenz vergessen zu lassen. Auf einem stylisch-reduzierten Bühnenbild (Herbert Schäfer) entwickelt sich der heuchlerische Schlagabtausch zwischen den beiden Ehepaaren. Was als Demonstration des zivilisierten Umgangs beginnt, steigert sich so langsam zur vollen Demaskierung aller Personen. Einzig Alain – von Dangl mit herrlicher Gleichgültigkeit gegenüber allen gesellschaftlichen Normen gespielt – bleibt vom Anfang bis zum Schluss der Widerling. Und irgendwie kann man am Ende seine kalte Skepsis gegenüber dem Scheinmanöver und den Humanparolen verstehen. Köstlich sein Reinigungsritual unter der Dusche: Minutenlang lässt er auf seinen nackten Body das Wasser rinnen, um sich dann erst langsam wieder anzuziehen. Das Publikum hat inzwischen genügend Zeit, seine Statur zu bewundern. Judith Rosmair ist eine vom Anfang bis zum Ende nervende Kämpferin für gutes Einvernehmen, für die Rettung der Welt, insbesondere Afrika. In dieser Rolle demaskiert Yasmina Reza alle Gutmenschen, die mit Parolen gekonnt umgehen, die Realität aber leugnen. Marcus Blum gibt ihren gutmütigen Ehemann, dessen Geduld endenwollend ist. Susa Meyer hat die schwierigste Rolle: als Ehefrau des skrupellosen Anwalts, der außer seinem Handy und seinem miesen Geschäftspraktiken kein anderes Leben kennt, kotzt sie sich über ihn und seine Machenschaften die Seele aus dem Leib.

Torsten Fischer hat als Regisseur keinen großen Spielraum – die Dynamik des Stückes ist vorgegeben. Die Steigerung bis zum Inferno (Tulpen fliegen durch den Raum, die Frauen tanzen und kreischen hysterisch) ebenso. Kleine dramaturgische Aufbesserungen (Dusche etc…) passen gut hinein.

Spielplan und Infos: www.josefstadt.org

Mephisto nach dem Roman von Klaus Mann. Burgtheater

Der Regisseur Bastian Kraft hat sich viel vorgenommen – in manchen Szenen zu viel.

Der Roman von Klaus Mann (Sohn von Thomas Mann) war in den 1920er Jahren mit dem Schauspieler Gustaf Gründgens befreundet. Seine Schwester Erika Mann war kurz sogar mit Gründgens verheiratet. Aus der Freundschaft wurde Distanz, um nicht zu sagen Verachtung. Verachtung für einen Mitläufer des Hitlerregimes. Daraus entstand der Roman „Mephisto“ – egal, ob Schlüsselroman oder nicht – die Hauptfigur Hendrik Höfgen ist Gustaf Gründgens.

Kraft bearbeitete den Roman für die Bühne und führte Sebastian Bruckner als Erzähler, Kommentator und Romanschreiber ein. Ein Trick, der gut aufgeht, denn  Bruckner wird, wie einst Klaus Mann, vom Freund zum Kritiker, bis er ins Exil verschwindet. (Klaus Mann begann den Roman 1936, da lebte er bereits im Exil)

Fabian Krüger spielt diese Figur äußerst feinnervig – dass Martin Kusej auf ihn verzichten wird, versteht keiner. Er ist wohl so etwas wie das Spiegelgewissen von Hendrik Höfgen und spielt die Rolle schillernd zweideutig – schleimig bis unterwürfig, dann wieder mahnend.

Höfgens auf der Bühne darzustellen – als Schauspieler einen Schauspieler zu spielen, ist nicht leicht. Nicholas Ofczarek spielt nicht, wie sonst meist, den Berserker, sondern einen eitlen, egozentrischen Menschen, der nur ein Ziel hat: seine Karriere voranzutreiben. Unterstrichen wird diese Streben nach oben an die Macht durch ein kluges Bühnenbild. Peter Baur stellt ein riesiges Laufband auf die Bühne, auf der sich Höfgen keuchend nach oben an die Rampe abmüht – immer in Gefahr zu stürzen oder gar abzustürzen. Was der Darstellung Ofczareks fehlt ist  Vielschichtigkeit und ein Schuss abgefeimte Dämonie. Er wirkt in manchen Szenen zu eingleisig.

Das Ensemble rund um ihn ist durchwegs gut bis großartig. Etwa Petra Morzé als Lotte Lindenthal, zuerst Geliebte, dann Ehefrau des „Ministerpräsidenten“ (also Göring). Verblüffend, wie nahe Kostüm und Maske (Annabelle Witt) aus Petra Morzé Lotte Lindenthal alias Emmy Göring macht. Es ist, als ob Morzé sich in diese selbstverliebte, plump-dumme Frau auf offener Bühne verwandelt – ein Effekt, der durch die riesige Vergrößerung ihres stark geschminkten Gesichtes auf Video grausam verstärkt wird. Wirklich unverständlich, dass der zukünftige Chef der Burg auch auf diese exzellente Schauspielerin verzichten wird!

Verstärkt wird das glänzende Ensemble durch Judith Schwarz, die mit ihrem Schlagzeug dem Drama Tempo vorgibt. Aber da sind wir auch schon beim Schwachpunkt des Abends: Bastian Kraft hat die Bühnenbearbeitung des Romans allzu breit und teilweise platt als Parallele zur Gegenwart ausgewalzt. In den politischen Monologen diverser Figuren müsste er radikal kürzen und weniger mit der Moralkeule (habet acht! – so war es einst, es könnte wieder so werden) arbeiten.

Mein Rat an zukünftige Zuseher: Zuerst den Roman lesen. Dann lösen sich viele Szenen klarer auf!

www.burgtheater.at

 

Grafenegg Festival: Sächsische Staatskapelle Dresden: Prokofjew und Mahler

Ein Programmkonzept, das immer aufgeht: Vor der Pause ein Violinkonzert mit einer tollen Geigerin und viel Gefühl, nach der Pause die Wucht einer Symphonie. So vor einer Woche mit der sensationellen Geigerin Hilary Hahn, die das  Violinkonzert von Sibelius spielte und das Publikum intensiv mitnahm, danach Beethovens 5. Diesmal spielte die aus Georgien stammende junge Geigerin Lisa Batiashvili das Violinkonzert Nr.2 von Sergej Prokofjew und danach hörte man die 1. Symphonie von Gustav Mahler mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden unter Alan Gilbert.

Gleich vorweg: Es war ein rauschhafter Abend, wir, das Publikum, wurden in die Höhen der Musikwelt entführt. Lisa Batiashvili begann den 1. Satz des Violinkonzertes zart, gefühlvoll, dann kraftvoll mit sicherem Strich. Tempo- und Gefühlsweltenwechsel vollzog sich ohne Riss. Alan Gilbert – ein Dirigent, den man gerne öfter erleben möchte – führte das Orchester behutsam, ließ es fein ziseliert unter der Violine spielen. Im 3. Satz dann  stampft, schwingt sich die Musik zu einem wilden Tanz auf, zu dem sich Violine und Orchester glanzvoll vereinen. Für Batiashvili eine Herausforderung, die sie locker mit Bravour nahm. Begeisterung im Publikum. Als Zugabe gab es aus Prokofjews Ballett „Romeo und Julia“.

Nach der Pause dann ertönte die wuchtige 1. Symphonie Gustav Mahlers – eine großartige Leistung des Orchesters und seines Dirigenten. Selten noch wurde diese Symphonie so präzise gespielt, die Pausen effektvoll eingesetzt. Das Hauptthema – der Kuckuck – immer wieder leise perlend, wie Tropfen auf einer Glaswand. Fein eingewoben die Zitate aus dem Lied „Ging heut morgen übers Feld“, oder „Bruder Jakob“. Das Volksliedhafte neben dem Titanenhafte – ein Thema, das Mahler immer wieder ausführt, um den Riss, der durch die Welt geht, zu intonieren. Das glanzvolle Finale mit den im Orchester stehenden Bläsern hatte „Gänsehauteffekt“. Viel Applaus für den großartigen Dirigenten Alan Gilbert und die Sächsische Staatskapelle Dresden.

Evelyn Waugh; Expedition eines englischen Gentleman. Diogenes. Aus dem Englischen: Matthias Fienbork

Der Autor und Reisejournalist Evelyn Waugh reiste im Oktober 1930 nach Addis Abeba, um über die Krönung Haile Selassies zum König von Äthiopien zu berichten. Für mich ist dieses Buch eine Reise in die Vergangenheit meiner eigenen Vergangenheit. Nein, ich bin noch nicht so alt, dass ich dieses Ereignis hätte miterleben können. Aber die beschriebenen Orte: Addis Abeba, Harar, Aden und dieInsel Sansibar habe ich in um die Jahrtausendwende selbst bereist. Daher war es für mich interessant zu lesen, wie Evelyn Waugh sie sieht und beschreibt.

Addis Abeba war für mich eine blick- und charakterlose Stadt, es gab kein ausgewiesenes Zentrum, jemanden aufzusuchen war nur mit einem erfahrenen Taxler möglich. Die Regierung übte strenge Kontrollen auf die Medien aus – die erste Redaktion, die ich besuchen wollte, war geschlossen: Alle Redakteure waren am Vortag ins Gefängnis gesteckt worden. Der Grund war nicht nachvollziehbar. Dieses Chaos – nur anders gelagert – beherrschte schon 70 Jahre vorher die Stadt. Die Krönung schildert Evelyn Waugh eher wie eine Disneyverfilmung, nichts ist ernst zu nehmen. Man schmunzelt über die aufgeblasenen Zeremonien und das Protokoll, das ewig aus dem Ruder läuft. Harar habe ich als faszinierende Stadt in Erinnerung – geheimnisvoll und wunderschön. Er sieht sie eher als disaströs. Die Hafenstadt Aden war bei meinem Besuch nur eine Anhäufung von dreckigen Straßen und kaputten Häusern, Waugh hingegen gefiel sie. Vor allem wegen der gemütlichen Clubs, in denen sich die buntesten Gestalten trafen. Nun, die sind wohl alle schon längst Geschichte. In Sansibar, wo ich  ich begeistert zwischen den alten Häusern der Hauptstadt umherstrich, langweilte er sich entsetzlich, weil es keine politischen Debatten gab und alles seinen gemächlichen, langweiligen Gang ging.

F ür Leser, die noch keinen der genannten Orte besucht haben, ist Waughs „Expedition“ -der Titel ist eine ironische Übertreibung – wahrscheinlich  einschläfernd. Wer diesen Teil Afrikas ein wenig kennt, der kann interessante Vergleiche ziehen-.

Lucía Puenzo, Die man nicht sieht. Wagenbach

Dem Wagenbach-Verlag muss großes Lob gespendet werden, weil er sich um junge Literatur, insbesondere um lateinamerikanische Erzählerinnen bemüht. Lucía Puenzo, geboren 1976 in Buenos Aires, gehört zu den erfolgreichsten Schriftstellerinnen Argentiniens. Als Filmemacherin heimste sie beim Filmfestival in Cannes für ihren Debütfilm „XXY“ viele Preise ein. Auch als Romanautorin ist sie äußerst erfolgreich.

Mit dem Roman „Die man nicht sieht“ (sehr gut übersetzt von Anja Lutter) hat sie treffsicher ein brennendes Problem spannend aufgegriffen: Die Straßenkinder von Buenos Aires. Man sieht sie überall: Als Kartonsammler, als Blumenverkäufer, als Autoscheibenwäscher an den Kreuzungen und als Bettler. Puenzo schildert in diesem Roman das Schicksal dreier Kinder, die von einem gewissenlosen Boss für Hauseinbrüche eingesetzt werden. Ismael ist 15 und kennt alle Tricks, Enana ebenfalls 15 und kennt keine Furcht, ihr Bruder Ajo ist gerade einmal 6 und auf Grund seiner Wendigkeit ein wichtiges Mitglied der Gruppe. Sie sind so erfolgreich, dass sie der Boss nach Uruguay verkauft, wo sie unter unmenschlichen Bedingungen, nur auf sich allein gestellt, nach Anweisungen per Handy in die Villen von Superreichen einbrechen sollen. Dass das nicht lange gut geht, ahnen sie bald…

Puenzo kennt sich in dieser Szene aus, weiß, wie bestechlich die Securitymänner, wie korrupt die Reichen sind und wie hilflos die Kinder ihren Ausbeutern ausgeliefert sind. Ihr Stil ist trocken, nie Mitleid heischend, nie sozialvoyeuristisch. Man liebt diese drei Kinder von Anfang an, folgt ihnen atemlos durch ihre Einbrüche und Abenteuer und kann sie erst loslassen, wenn die letzte Zeile gelesen ist. Puenzo gelingt es, kritische Blicke in die Gesellschaft der Reichen von B.A. und Uruguay zu werfen, ihren überbordenden Luxus mit einem Schuss Humor zu schildern. Köstlich die Szene, als die Kinder in das Schlafzimmer eines Hauses eindringen und die nackte Ehefrau mit nacktem Liebhaber mitsamt wenig erstauntem Ehemann – der allerdings im Anzug – antreffen.  Wenn sich Ajo über das Spielzeug der Kinder mit Lust hermacht und in seinen Rucksack einpackt oder Ismael sich nicht genug über selbst schließende Sportschuhe wundert, wenn dieses fremde Luxusleben den Kindern so fern erscheint, wie der Mond.

Das Buch gehört gelesen!!! Es steht ganz oben auf der Silvia-Matras-Bestsellerlist!!!

www.wagenbach.de