Lukas Hartmann: Schattentanz. Die Wege des Louis Soutter.

Diogenes Verlag

Traurig schließe ich dieses Buch. Traurig, weil es zu Ende ist. So fühle ich mich immer, wenn ich – was selten genug der Fall ist – ein Buch beendet habe, das mich durch Tage gefangen hielt. Eine literarische Kostbarkeit darf nur in kleinen Dosen genossen werden, sage ich und lese immer nur ein Kapitel. Dann lege ich das Buch weg. Lasse Sprache und Bilder, die Hartmann einfühlsam und subtil erstehen lässt, in mir wirken, lese einige Stellen nochmals, um sie besser in mich aufnehmen zu können und lange zu bewahren.

Lukas Hartmann ist kein „Seitenfüller“. Seine Sätze sind jeder für sich kostbar, bildhaft, stark. Banalitäten lässt er nicht durchgehen. Denn die Bilder des Malers Louis Soutter, dessen Leben und Werke Lukas Hartmann auf knapp 250 Seiten beschreibt, waren für ihn „ein künstlerisches Offenbarungserlebnis“, wie er im Nachwort gesteht. Erst nach langer und eingehender Beschäftigung mit diesem Ausnahmekünstler wagte er es, dieses Buch zu schreiben.

Die alles beherrschende Mutter

Louis Soutter (1871 -1942) wächst in einem gut bürgerlichen Haus in Morges am Genfer See auf. Er und seine Schwester Jeanne werden von der ehrgeizigen Mutter zu „Wunderkindern“ gedrillt. Sie sollen als Musiker Weltkarriere machen: Louis als Geigenvirtuose und Jeanne als Sängerin. Beide versuchen immer wieder, sich diesem Zwang zu entziehen. Mit mäßigem Erfolg. Das übergroße Mutterbild wird ihr Leben beherrschen und zum Teil auch ruinieren. Nur der Älteste der drei Kinder, Albert, scheint zunächst davonzukommen. Er übernimmt die Apotheke des Vaters. Doch auch er scheitert und rettet sich in den Suff.

Louis versucht tatsächlich ein Geigenstudium, gibt es aber bald zu Gunsten der Malerei auf. Seine Heirat mit einer reichen Amerikanerin scheitert kläglich, weil er ihren Anforderungen nicht genügen kann. Zurück in der Schweiz, versucht er mit mäßigem Erfolg, sein Geld als Geiger zu verdienen. Aber er spürt, es ist die Malerei, die sein Leben bestimmt. Unfähig, sich selbst zu erhalten, wird er bald in ein Altersheim eingewiesen, wo er 19 Jahre bis zu seinem Tod 1942 bleiben wird. In einem armseligen Zimmer malt er wie besessen. Bilder, die sich ihm aufdrängen. Er kann nicht anders, er muss seine inneren Qualen, seine Visionen vom kommenden Krieg malen.Hellsichtig weiß er, dass Mussolini und Hitler den Tod von Millionen Menschen verursachen werden.

Seine Bilder

Seine Bilder wurden zu Lebzeiten von niemandem geschätzt. Heute werden sie in verschiedenen Museen ausgestellt. Soutter selbst hatte Zweifel, ob sie irgendwem einmal etwas bedeuten werden. Manche Bilder zerreißt er, manche verschenkt er, die meisten stapelt er in seiner Kammer zu großen Haufen. Als seine Augen immer schwächer werden, malt er mit Fingern, lässt sie wie in Trance über das Papier tanzen, einer inneren Musik folgend. Er stirbt 1942 einsam in seiner Kammer, inmitten einer Unmenge von Werken.

Geschickt beleuchtet Lukas Hartmann diesen schwierigen und schwer fassbaren Charakter von verschiedenen Seiten und wechselt den Standpunkt der Betrachter. Einige Male reflektiert die Mutter in der Ichform über ihre Wünsche und Vorstellungen, die sie für die Kinder hatte. Als objektiver Beobachter fungiert ebenfalls der Cousin Charles-Edouard, der später als Architekt Le Corbusier eine intenationale Karriere machen wird. Dass die beiden in Anschauungen und Lebensformen total verschieden sind, wird dem Cousin sehr schnell klar. Dennoch besucht er Louis in Abständen von mehreren Jahren immer wieder, obwohl er mit seinen Bildern nichts anzufangen weiß. Aber die intensiven und sehr kontroversiell geführten Auseinandersetzungen über die Aufgaben der Kunst faszinieren den Cousin.( Dass Hartmann von der kalten Architektur Le Corbusiers nicht sehr viel hält, lässt er dabei deutlich werden) Als glühender Verehrer von Mussolini und Hitler wird Corbusier erst nach dem Tod von Louis dessen Hellsichtigkeit erkennen.

Besonders berührend schildert der Autor das innige Verhältnis zwischen Louis und seiner Schwester Jeanne. Sie ist die einzige aus der Familie, die ihn versteht und versucht, ihm in seiner Lebensuntüchtigkeit Halt zu geben. Die Kindheit der beiden, die, vertieft in Spiele und erfüllt von gegenseitiger Zärtlichkeit, der Härte der Mutter zu entgehen versuchen und sich eine eigene Welt bauen, war nur in diesen Phasen des ungestörten Zusammenseins glücklich. Doch auch Jeanne wird später nicht die nötige Kraft aufbieten, sich gegen die Mutter zu stellen. Sie zerbricht in diesem Kampf und wird Selbstmord beghen.

Das Leben Louis Soutters erinnert in vielen Zügen an den Schweizer Autor Robert Walser (1878-1956). Beide hatten mit den bürgerlichen Lebensformen und den Anforderungen der Gesellschaft an sie schwere Probleme. Beide versuchten im Gehen über weite Strecken ihre innere Unruhe zu bezähmen. Beide fanden in der (unfreiwilligen) Abgeschlossenheit eines Heimes einen gewissen Frieden und schufen wichtige Werke. Auch der Dichter Friedrich Hölderlin (1770-1843) erlitt ein ähnliches Schicksal: Nach der schmerzvollen Trennung von seiner Geliebten Suzette Gontard und nach deren Tod zerbricht in ihm das Korsett, das ihn bis dahin in einer gewissen bürgerlichen Bahn gehalten hat. Er geht, geht, geht, weit und als er nach Tübingen zurückkehrt, hat sich sein Geist verwirrt, so glaubt man.Nach einer sinnlosen Zwangsbehandlung im Tübinger Klinikum zieht sich Hölderlin bis zu seinem Tod in die Einsamkeit eines Turmes zurück. Und vielleicht darf ich auch Parallelen zu Peter Handke ziehen. Er wählt die Abgeschiedenheit selbstbestimmt. Ebenso wie Soutter und Walser ist ihm das Gehen in der Natur Impuls und schafft ihm inneren Frieden.

All diesen Künstlern gemeinsam ist das innere Brennen für ihre Kunst, das bedingungslose Wollen und Schaffen. Lukas Hartann ist ein congenialer Übersetzer, Vermittler zwischen diesem so schwer fassbaren Künstler Louis Soutter und den Lesern. In der Flut der historischen Biografien, die zur Zeit den Markt überschwemmen, leuchtet dieses Buch als seltener Diamant heraus.

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Malte Herwig: Der große Kalanag. Penguin Verlag

Untertitel: Wie Hitlers Zauberer die Vergangenheit verschwinden ließ und die WElt eroberte.

Zauberer, so lesen wir, waren am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gesellschaftsfähig bis in höchste Kreise hinauf. Auch Intellektuelle und Künstler interessierten sich für die Zauberer und deren Macht über die Menschen. Thomas Mann kleidet in seiner 1930 erschienenen Erzählung „Mario und der Zauberer“ prophetisch die dämonische Macht des Faschismus in die Person des Zauberers Cipolla ein.

Malte Herwig hat in dieser Biografie das Leben des Helmut Schreiber, alias Kala Nag oder Kalanag, wie er sich zuerst nach dem Elefant aus dem „Dschungelbuch“ benannte, fast mikroskopisch genau recherchiert und daraus eine interessante Biografie geschrieben. Schreiber, der schon mit 15 Jahren als Zauberer auftritt, ist von immensem Ehrgeiz zerfressen: Er will der beste Zauberer aller Zeiten werden. Früh erkennt er, dass Zauberkunststücke allein nicht genügen, er muss das Publikum für sich gewinnen, es faszinieren, um es zu beherrschen. Er macht Karriere, begeistert das Bildungsbürgertum der Zwischenkriegszeit, wird die wichtigste Figur im Verein „Der magische Zirkel“, bald auch auch der Direktor. In dieser leitenden Stellung versteht er es geschickt, eventuelle Konkurrenten auszuschalten, zu desavouieren.

Bald schon wird er zum Entertainer der NS-Gesellschaft, wird von Göring, Göbbels und vor allem von Hitler eingeladen zu zaubern und tourt mit seiner Zauberrevue durch Europa. So nebenbei produziert er auch Nazifilme und wird Chef der Bavaria. Lauthals stimmt er in den Chor ader antijüdischen Hasspropaganda ein. Und dann bricht das 1000-jährige Reich zusammen, und man könnte meinen, jetzt ist es aus mit dem großen Zauber. Nein, für Helmut Schneider nicht. Er weiß ja, wie man blendet, ablenkt. Kurz: es gelingt ihm zunächst nicht, sich vor den Amerikanern gänzlich „rein“ zu zaubern. Doch vor den Engländern erzählt er ohne Scham, er sei nie in der Partei gewesen, ja , ganz im Gegenteil, er habe im Widerstand gekämpft und vielen Menschen das Leben gerettet.

Parallelen zu solchen Reinwaschungsproszessen gab es ja viele. Wer das Buch von Herbert Lackner, „Rückkehr in die fremde Heimat“ (im März 2021 erschienen) liest, der staunt, wie wie leicht es war, sich als „unbedenklich“ einstufen zu lassen und danach als Politiker, Künstler, Anwälte, Richter weiter zu arbeiten.

Zurück zu Kalanag/Schreiber: Er zieht nach Kriegsende eine Show der Sonderklasse auf. Woher er das Geld für die teure Ausstattung hatte, ist nicht klar, Malte Herwig vermutet, dass er sich am gut versteckten „Nazigold“ gütlich tat. Schreiber wird zum Großmeister der Zauberer, verdient Unsummen. Seine Frau, die erotisch-exotische Gloria unterstützt ihn tatkräftig, Lusus pur ist angesagt, all das unterstrichen durch den Geparden, der mit ihr auftritt und der neben ihr im Restaurant sitzt.

Doch mit dem aufkommenden Fernsehen hat der Zauber ein Ende. Kalanags Schow ist nicht mehr zeitgemäß. Helmut Schneider stirbt 1963 verarmt und ruhmlos. Ein wichtiges Buch über das Thema: Vergangenheitsbewältigung oder besser über die Tricks, sich seine Vergangenheit wegzuzaubern.

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Ljuba Arnautovic, Junischnee. Zsolnay.

Wien 1934. Die überzeugte Kommunsitin und Schutzbündlerin schickt ihre beiden Söhne ins „Ferienlager“, um sie vor der Verfolgung durch die Nazis zu retten. Slavko der Ältere wird in einem Lager verhungern. Karli, der Jüngere, erlebt zunächst eine gute Zeit in Moskau, wo diese Schutzbundkinder richtig verwöhnt werden. Doch nachdem Hitler den Pakt mit Stalin gebrochen hat, ist es aus mit der heiteren Kindheit. Jugendgefängnis, Straflager folgen. Nach 20 qualvollen Jahren ist Karl frei, heiratet eine Russin und hat mit ihr 2 Kinder. Eines davon ist die Autorin, die später den Lebensweg ihres Vaters penibel recherchieren, Akten und Briefe aufstöbern und sie teilweise in Originalform in den Roman einsetzen wird. Apropos „Roman“: manchmal wirkt er wie eine Dokumentation, ein Skript für eine Doku im Fernsehen, dann wieder schaltet die Autorin auf eine quasi auktoriale Erzählhaltung um. In diesen Teilen bemüht sie sich um eine bewusst karge Sprache, für Poesie ist da kein Platz. Rasche Schnitte von einer ERzählform zur anderen, vom Brief zu Aktenauszügen und kurzen Hinweisen auf den Geschichtshintergrund erinnern immer wieder an eine Voralge für eine Doku. Selten schreibt die Autorin über die innersten Gefühle der Personen. Da heißt es nur: Nina (Mutter der Autorin und erste Ehefrau ihres Vaters) hat Heimweh nach Russland. Arnautovic meidet ganz bewusst eine zu starke Gefühlsebene. Auch wohl deshalb, um klar zu machen, dass in diesen Zeiten es eher ums Überleben als ums Erleben von „schönen Gefühlen“ ging. Und auch, um sich klar darüber zu werden, was ihren Vater zu dem harten, ehergefühlskalten Mann gemacht hat.

Cui bono?

Es hat den Anschein, als sei es derAutorin nicht leicht gefallen zu sein, über ihren Vater offen zu berichten, denn er ist nach seiner Rückkehr aus Russland keineswegs ein sympathischer Mann, betrügt seine Frau, die er zuerst zwingt, mit ihm nach Wien zu ziehen, ihr aber bald die Kinder nimmt und von langer Hand die Scheidung plant, weil er mit einer anderen liiert ist. Dieses spürbare Zögern, über diesen Vater offen und ehrlich zu schreiben, ehrt Ljuba Arnautovic. Denn andere Autoren und vor allem Autorinnen scheuen und scheuten sich nicht, über ihre Familie blank und frei, für den Leser schon peinlich genau zu berichten. Das Familienschicksal in die Öffentlichkeit zu bringen ist Mode geworden. Ljuba Arnautovic weiß ganz offensichtlich um diese Problematik und wählt deshalb die herbe Form der Mischung aus Erzählung und Dokumentation. Fragt sich nur: Ist eine Familiengeschichte auch „Literatur“? Und man fragt sich: Cui bono entstand dieses Buch? Am ehensten wohl für die Autorin selbst, sie will sich ein Bild von diesem durch den Gulag hart gewordenen Mann machen. Die Detailinformationen über das Schicksal von Schutzbundkindern in Russland ist für jeden Leser interessant und informativ. Denn darüber wird ja in keinen Geschichtsbüchern berichtet. Es ist auch interessant zu erfahren, wie sich das Geschichtsbild, die Haltung zum Kommunismus all dieser Familienmitglieder und Freunde in und nach dem Krieg veränderte oder auch gleich blieb.

Verlag Zsonay bei: http://www.hanser-literaturverlage.de

Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos. Verlag Matthes&Seitz

Was für ein Buch! Es verdient tatsächlich, ein Epos genannt zu werden, auch wenn es nicht in Reimen, auch nicht in einem erkennbaren Versmaß geschrieben ist. Aber die Sprache ist frisch, frech und wirklich neu. Ein mitreißender Stil.

Worum geht es?

Tatsächlich um eine Heldin im altgriechischen Sinn. Selbst Sophokles hätte Anne Bauemanoir das epitheton ornans „Heldin“ verliehen und über sie ein Drama geschrieben.

Sie war 18 Jahre jung, als sie im 2. Weltkrieg der Résistance beitrat und überzeugte Kommunistin wird. Zunächst war es ihre Aufgabe zu gehorchen und geheimnisvolle Koffer mit geheimnisvollen Inhalten von A nach B zu transportieren. Doch eines Tages muss sie sich die Frage stellen: riskiere ich Gefängnis oder sogar mein Leben, wenn ich eine jüdische Familie vor dem Tod rette oder tue ich so, als ob ich nichts wüßte. Sie – rettet die beiden Kinder. Die Eltern und das Baby wollen nicht mit ihr gehen. Nach dem Ende des Krieges studiert sie Medizin, heiratet, bekommt 2 Kinder und arbeitet als erfolgreiche Ärztin. Doch das politische Geschehen lässt sie nicht los. Helfen, das Ideal eines gerechten Staates zu verwirklichen, bleibt ihr Lebensszweck-. Sie arbeitet weiter als Mitglied einer Untergrundbewegung, wird denunziert und muss ins Gefängnis. Bevor sie zu 10 Jahren Haft verurteilt wird, kann sie nach Tunis entkommen. Nun setzt sie sich verstärkt für ein freies Algerien ein. Nach ihrer Scheidung lebt sie in Algier, versucht ein Gesundheits- und Bildungswesen in dem neu gegründeten Staat auf die Beine zu stellen. Doch in den Wirren des neuen Staates ist auch sie gefährdet. Sie flieht nach Frankreich, wo sie bis heute in einem kleinen Dorf lebt. Sie schreibt ihre Memoiren mit dem Titel „Le feu de la mémoire“, auf Deutsch: „Wir wollen das Leben ändern“. Und bald soll der 2. Band erscheinen.

Dieses Buch ringt dem Leser in jeder Hinsicht Bewunderung ab: einmal für die Heldin – die sich sicherlich gegen diesen Ehrennamen wehrt – und noch einmal für die Autorin. Sie hat mit genauen Recherchen den Hintergrund dieser politisch schwierigen Zeit erhellt, ohne damit den Fluss der ERzählung zu belasten. Außerdem ist ihre Sprache frisch, pointiert und daher reines Lesevergnügen.

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Daniela Strigl: Gedankenspiele über die Faulheit. Literaturverlag Droschl

Es traf sich, dass ich das schmale Büchlein – angenehm leicht zu halten, was der Faule besonders schätzt- zu lesen begann, als meine Faulheit gerade den Höhepunkt erreichte und sich mehr und mehr zur geistigen Trägheit entwickelte. Ich stand knapp vor einer saftigen Depression. Nix half: draußen arschkalt, drinnen – was tun? Kochen? – eher fad, putzen – keinen Bock darauf. Na dann lesen! -Oh bitte nein! Ich bin für eine WEile davon geheilt, fand die meisten Bücher als reine Zeitverschwendung – also Lebenszeitverschwendung.

Was also tun? Also Selbstdiagnose – mit Hilfe dieses Büchleins. Ja Büchlein, nicht Buch, nicht Wälzer! Gott sei Dank!Und finde schon so einen klitzekleinen Fingerzeig: Humor, Selbstironie – alles besser als Selbstmitleid.

Nach einer philososphischen und literarischen Betrachtung über die Faulheit – muss wahrscheinlich sein, sonst wird aus dem Büchlein ein Blättlein und schließlich ist Daniela Strigl ja auch Literaturwissenschaftlerin – also dann doch die Seiten mit Selbstanalyse: Da bekennt sich Daniela Strigl ganz ungeniert zur Faulheit, schreibt witzig über ihre Beweggründe zur Faulheit. Und ich bekenne mich mit ihr als „Anstrengungsvermeiderin“. Was für ein verführerisch hässliches Wort für Lahmheit, Stumpfsinn. Und dann die beste Überraschung, die ein Buch bieten kann: Heute, während ich das Buch lese und diese Zeilen schreibe, ist der 22. März 2021. Und was lese ich auf Seite 38: Der 22. März wurde zum „Goof Off Day“ ausgerufen – zum Weltfaulheitstag. Na also, da wird mein Zustand also gerade international gefeiert. Wenn das nicht ein tolles Omen ist.

Und was passiert plötzlich? Die Faulheit macht einer Freude über den internationalen Feiertag Platz!! Also feier ich mit Daniela Strigl und fühle mich in bester Gesellschaft, wenn auch nur in Gestalt des Büchleins.

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Marco Missiroli: Treue. Verlag Wagenbach

Aus dem Italienischen von Esther Hansen

Die Treue ist vieldeutig geworden, fast schon abgeschafft, spielt zwischen Freunden, Ehe- und Liebespaaren eine geringe bis keine Rolle. Weil sie unangenehme Fragen aufwirft, denen Marco Missiroli in seinem Roman nachgeht.

Abgehandelt wird die Frage auf allen Alters- und Gesellschaftsebenen. Eine klare Antwort kann der Autor natürlich nicht geben, will er auch nicht. Er spiegelt nur die verschiedenen Facetten, Fragen wider, wie sie von denen diversen Protagonisten gestellt werden.

Angesiedelt ist der Roman in Mailand in den Jahren von 2009 bis in die fast-Gegenwart. Mailand ist eine Großstadt, wie alle anderen auch. Der Leser wird über Gassen und Plätze geführt, und ist er nicht wirklich ein Kenner der Stadt, sagen ihm die Namen nichts. Man spürt, hier unterliegt der Autor einer Schreibmode: möglichst viele Straßen und Plätze zu benennen, ohne aber die soziale Geografie wirklich miteinzubeziehen.

Carlo und Margherita sind ein Paar, wie es scheint, modern-glücklich. Also dem Anschein nach. Aber Carlo ist von einer Obsession besetzt, die da heißt: Sofia. Sie ist Studentin in seinem Seminar, er hätte sie gerne gevögelt, wie es eben umgangssprachlich so genannt wird. Kommt aber nicht dazu. Ist der Nichtvollzug des Sexualaktes schon Untreue, fragt sich Margherita und verführt ihren schwulen Masseur. Der jedoch bleibt seinem Giorgio treu, auch wenn er einmal mit einer Frau geschlafen hat. Das sieht er nicht als Treuebruch an.

Nach Jahren erleben wir Carlo und Margherita als Elternpaar und als fürsorgliche Pfleger und Betreuer der schwerkranken Mutter Margheritas. Es scheint, dass diese Aufgabe die Frage nach Treue obsolet gemacht hat. „Eine freie Ehefrau der Fünfziger, hier bin ich.“ Mit diesem kryptischen Satz endet der Roman.

Stilistisch übt sich Marco Missiroli im Perspektivewechsel, der sogar so weit geht, dass die Zuordnung der Personalpronomina oft nicht klar ist. Von welcher Person ist die Rede, die gerade mit „sie“ genannt wird? Ist diese Zweideutigkeit gewollt? Anzunehmen. Er will den Leser zum Rückblättern, Innehalten, sich neu Orientieren auffordern. „Sie“ kann die Ehefrau, die erträumte Geliebte, die Mutter, die Schwiegermutter sein. „Er“ der Ehemann, der Masseur, der Freund des Masseurs, manchmal auch César, der Kampfhund. Der Masseur hat eine eigenartige Vorliebe für Hundekämpfe, liebt diesen César über die Maßen, obwohl er ihn einmal angefallen und verletzt hat. Diese überriebene Liebe zum Kampfhund, noch über dessen Tod hinaus, ist wahrscheinlich auch eine Variante der Treue.

Der Leser folgt dem Autor durch das Labyrinth der Treue manchmal sehr interessiert, manchmal gelangweilt. Gelangweilt dann, wenn Marco Missiroli allzu detailverliebt Gesten und Aktionen des Alltags schildert, die banal und unwichtig sind. Hier wäre Straffung nötig.

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Michael Dangl: Orangen für Dostojewskij. Verlag Braumüller

„Die Geschichte zwischen Rossini und Dostojewskij ist erfunden“, klärt Michael Dangl die Leser auf der Innenseite des Covers auf.

Geschickt verbindet Michael Dangl in dem Roman drei seiner „Passionen“: die Liebe zur Musik, besonderns zu der von Rossini, die Liebe zur russischen Literatur, besonders zu der von Dostojewskij, und natürlich seine Begeisterung für Venedig. Liest man den Roman, so muss man neidvoll anerkennen: der Mann kennt sich auf allen drei Gebieten aus. In einem Interview betonte er, die Romane Dostojewskijs auf Russisch gelesen zu haben. Man weiß ja, dass Michael Dangl sehr oft seine Frau besucht, die in Russland lebt, und er daher einen intensiven Bezug zu diesem Land und der Sprache hat..

Der Einfall, den düsteren, lebensunfrohen, schwermütigen Dostojewskij dem lebensbejahenden Genussmenschen Rossini gegenüber zu stellen, ist ziemlich gut. Dazu noch Venedig als Ort des Geschehens – diese Dreierkomposition muss ja ein Erfolg werden!

Dostejewskij kommt nach einer Italienreise, die er ohne Begeisterung abolviert hat, erschöpft in Venedig an. Eigentlich hat er vor, am nächsten Tag wieder abzureisen. Es ist schwül, er versteht kein Wort Italienisch – nicht die besten Voraussetzungen also, die Schönheit der Stadt zu genießen. Ein für Dostojewskij eher aufdringlich wirkender Kofferträger namens Beppo nimmt sich seiner an und bringt ihn zur Unterkunft. Später wird sich herausstellen, dass Beppo zur Entourage Rossinis gehört und sich immer wieder um Dostojewskij kümmern, ihn einmal sogar das Leben retten wird. Am nächsten Morgen wartet Beppo auf den unwirschen Dichter und geleitet den Widerwilligen durch die Gassen Venedigs. Nichts kann Dostojewskij von der angeblichen Schönheit überzeugen. Er schwitzt und will nur seine Ruhe. Und bald beginnt sich im Leser Ungeduld zu rühren. Nach gefühlten zweihundert Seiten – in Wahrheit etwas über hundert – tut sich noch immer nichts. Wir gehen mit dem müden Dichter durch Venedig, hin und wieder erkennt man eine Gasse oder einen campo aus eigener Venedigerfahrung und bewundert das Detailwissen des Autors. Aber das reicht nicht, um das Interesse wach zu halten. Die Sätze schrauben sich in die Länge, so lange und mühevoll, wie der Gang des Dichters. Als der den Markusplatz betritt, empfindet er zwar die Schönheit der Architektur, aber auch Ängste und Erinnerungen an seine Zeit im Straflager überfallen ihn, als er in eine Passkontrolle gerät. Am Abend dieses ersten Tages betritt er vollkommen erschöpft eine kleine Trattoria, wo er – endlich, sagt der ebenso erschöpfte Leser – auf Rossini und dessen heitere Entourage trifft. Nun beginnt die eigentliche Geschichte.

Lebenslust und Lebensüberdruss

Größere charakterliche Gegensätze hätte der Autor gar nicht finden können. Rossini hat lange schon das Komponieren sein lassen und sich dem Lebensgenuss hingegeben: Essen, trinken, Musik und Gesang, heitere Gesellschaft. Geld spielt keine Rolle. Dostojewskij, bettelarm, mit den Erfahrungen des Straflagers im kranken Körper, kann da nicht mithalten. Doch er bewundert die Urkraft, die Rossini antreibt, wenn er auch von dem Tempo, mit dem alles abläuft, überfordert ist. Im Gespräch zwischen den beiden flicht Michael Dangl geschickt historische Fakten über Venedig ein – etwa über den Hass der Venezianer auf die österreichische Besatzung oder über Künstler, die Venedig geprägt haben. Auch hier braucht der Leser Geduld, denn oft sind diese Passagen sehr lange und man bekommt den Eindruck, hier brüstet sich ein Autor allzu sehr mit seinem Wissen. Dann der Paukenschlag: Rossini schlägt Dostojewskij vor, ein Libretto für die von ihm geplante Oper über Casanova zu schreiben! Die Versuchung ist groß, diesen Vorschlag anzunehmen. Aber Dostojewskij zögert, weiß im Innersten, dass er für diese heitere Figur eines Weiberhelden und Lebenskünstlers nicht das nötige Verständnis aufbringen kann. Am Ende der Geschichte ist klar, Dostojewskij wird das Libretto nicht schreiben und Rossini die Oper nicht komponieren. Doch bis dahin erfahren wir noch viel über Dostojewskij, über seine Spielsucht, über die missglückte Ehe und immer wieder über die Zeit im Straflager. Als Kontrapunkt flicht Michael Dangl die kuriosen Ausflüge mit Rossini ein, etwa die Fahrt in einem Privatboot in die Lagune. Es wird gegessen, Karten gespielt, getrunken, kokettiert und auch geschwommen. Die Episode, als Rossini sich in einem fahrbaren Zelt ins Wasser tragen lässt, ist besonders witzig und erinnert an die Königin Victoria, die sich auf Isle of Wight ebenfalls in einer „Wasserkarrosse“ in die Fluten fahren ließ.

Es sind die vielen skurrilen Einfälle, die Michael Dangl in die Geschichte einflicht, die den Leser bei der Stange halten und über so manche Passagen, in denen der Autor seine Protagonisten allzu lange philosphieren lässt, hinweg helfen. Gerade deswegen verzeiht man dem Autor auch so manche Sprachkapriolen, wie etwa wenn er über die „Kurzatmigkeit der Gassen Venedigs“ schreibt.

Der Titel

Im Roman gerät Dostojewskij bei einer Wanderung in das Dorf Malamocco am Ende des Lido. Er lernt dort eine junge Frau kennen, hilft ihr bei der Gartenarbeit. Es entspinnt sich eine zarte Liebe. Zum Abschied schenkt sie ihm eine große Tomate aus ihrem Garten, die er wohlbehalten bis Petersburg bringt. So gesehen müsste der Titel „Eine Tomate für Dostojewskij“ heißen oder auf gut Österreichisch: Paradeiser für Dostojewskij. Aber Orangen klingen halt einfach besser.

Michael Dangl ist ein interessantes Charakterbild der beiden Künstler und eine Hommage an Venedig gelungen. Was er aber an Bildungswissen in die Seiten stopft, beschwert den Roman sehr und nimmt viel von der Leichtigkeit, mit der die Geschichte fast wie ein Märchen daherkommt.

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Margaret Laurence, Der steinerne Engel. Eisele Verlag

Aus dem kanadischen Englisch von Monika Baark

Der Eisele Verlag ist dafür bekannt, Literatur aus dem Englischen oder Amerikanischem auf den deutschsprachigen Markt erfolgreich zu platzieren. Mit viel Spürsinn werden immer wieder vorwiegend Autorinnen vorgestellt, von denen das leseaffine Publikum vorher nie etwas vernommen hat.

Diesmal also: Der steinerne Engel, geschrieben Anfang der 60er Jahre. Zu dieser Zeit war das Thema „alte Menschen kämpfen um ihr Recht auf selbstbestimmtes Leben“ noch nicht in den Fokus der schreibenden Zunft gelangt. In meinem literarischen Gedächtnis war einer der ersten, wenn nicht überhaupt der erste, der sich mit dem Thema beschäftigte, der schwedische Autor Jonas Jonasson. Sein Roman „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ war gleich bei seinem Erscheinen 2010 ein Bestseller. Seither ist das Thema in vielen, ja zu vielen Romanen behandelt worden: Als Erinnerung an Großmutter, eingepackt in eine Familiengeschichte, als die weise Frau, die dem Kind die traurige Kindheit versüßt, bis zuletzt zu dem frech das Thema ironisierenden Roman von Lisa Eckhart, Oma. In den letzten Jahren kam es regelrecht zu einer Überschwemmung des Buchmarktes mit Oma/Opa- und Altengeschichten.

Deshalb mag man mir verzeihen, wenn ich dem Buch nicht ganz gerecht werden konnte. Denn immer wieder passierte es mir beim Lesen, dass ich dachte: Nein, nicht schon wieder. Dabei ist dieser Seufzer der Autorin gegenüber völlig ungerecht, denn als sie den Roman schrieb, betrat sie fast thematisches Neuland.

Worum geht es? Hagar Sipley ist eine grantige Alte, die bei ihrem Sohn und der Schwiegertochter lebt. Ihr Grant und ihre Streitlust lässt sich die „böse“ Schwiegertochter nicht mehr länger gefallen und will Hagar Shipley ins Altersheim abschieben. Klar, dass diese sich mit allen Mitteln wehrt und die „Einweisung“ listig zu verhindern versucht.Doch vergebens. Noch im Altersheim, schon sehr hilfsbedürftig, sucht sie die Pflegerinnen zu drangsalieren, um sich ein ganz ganz kleine Freiheit im Handeln und Denken zu verschaffen. Um vor sich und dem Gott, den sie nicht um den Tod anbetteln will, mit Würde zu leben oder eben zu sterben. Das Ende ist von machtvoller Würde. Dazwischen kämpfte ich manchmal mit einem gewissen Verdruss in mir. Vor allem, wenn die Autorin in Attributen versinkt. Fast kein Substantiv, dem sie nicht irgendeine Eigenschaft hinzufügen muss. Entgegen der Regel: weniger ist mehr.

Insgesamt aber ein hinterlistig-humorvoller Roman. Gescheit gemacht, weil es Margaret Laurence gelingt, die Hauptfigur durchaus auch unsympathisch zu schildern. Sie entgeht dadurch dem literarischen Klischee: Nette Alte, der von den Jungen Unverständnis entgegengebracht wird. Ganz im Gegenteil: Hagar Shipley kann ganz schön widerwärtig sein. Aber genauso auch der Sohn und die Schwiegertochter. Sympathie und Antipathie werden alternierend verteilt. Dadurch unterscheidett sich dieser Roman von solchen mit ähnlichen Theme in angenehmer Weise..

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Luca Di Fulvio: Es war einmal in Italien. Lübbe Verlag

Aus dem Italienischen von Elisa Harnischmacher

Will man um sich die Welt vergessen, dann greift man gerne zu den Büchern von Luca Di Fulvio, des beliebtesten Bestsellerautor Italiens.

Nun hier sein neuer, 700 Seiten starker Roman. Wir befinden uns in Rom um 1870. Es ist die Zeit, als aus den vielen Kleinstaaten ein geeintes Italien wird. Aber Rom gehört noch zum Kirchenstaat. Die Kämpfe um diese Stadt bilden den Kern dieses Romanes. Die unterschiedlichsten Interessen und Figuren kämpfen auf verschiedenen Seiten, um dann doch zu einer Einheit zu finden, die da heißt: Italia.

Da ist der Knabe Pietro aus dem Waisenhaus, den eine Contessa an Sohnes statt annimmt. Der unerwartete Wechsel in Luxusleben endet jäh, als der Conte stirbt und die Contessa – im Roman meist Nella genannt – all ihrer Güter beraubt wird. Beide ziehen nach Rom in ein Elendsviertel. Dann ist da das Mädchen Marta, auch sie ein Waisenmädchen. Sie wurde von Melo, der als Pferdeknecht in einem Zirkus arbeitet, aufgezogen. Rund um diese drei Hauptfiguren entwickelt Di Fulvio das Panorama Roms – prächtig, schmutzig, verkommen und doch anziehend. Die Rovolution brodelt, alle kämpfen – alle aus verschiedensten Motiven. Und das ist auch die Crux des Romanes: die ermüdenden Kampfszenen nehmen viel zu viel Raum ein, Brutalitäten nützen sich ab, der Leser beginnt quer zu lesen. Schade! Im Grunde könnte Di Fulvio den Roman um die Hälfte kürzen, dann wäre er toll. So ist er ein Pageturner, weil man ungeduldig über die seitenlangen Kampfberichte hinwegblättert.

Außerdem stößt der allzu ausgeprägte Hurrapatriosmus aller Figuren ein wenig sauer auf. Trotz ausgezeichneter Figurenzeichnungen enttäuscht der Roman. Leser, die Di Fulvios lebensnahe und ans Herz greifende Erzählgewalt kennenlernen wollen, denen sei der Roman „Der Junge, der Träume schenkte“ empfohlen. Da zeigt sich Di Fulvio als Autor eines Pageturners der Sonderklasse! (s. auch meine Kritik).

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Nicole Soames:Das Buch des Verhandelns. Midas Verlag

„In 33 Schritten zum Verhandlungsprofi“ verspricht der Untertitel, der allerdings zu große Erwartungen weckt. Das schmale Büchlein ist flott geschrieben, mit lustigen Zeichnungen und erklärenden Diagrammen aufgelockert.

In sieben großen Hauptkapiteln, die in kleine Schritte unterteilt sind, führt die Autorin durch die Hürden, Tücken einer Verhandlung. Die größte Hürde ist man selbst, besser seine „Gremlins“, wie sie es nennt. Gegen diese „inneren Monster“ gilt es anzukämpfen. Die da sein können: Pessimismus – „ich werde es eh nicht schaffen“ -, dem Gegner keinen Verhandlungsspielraum lassen wollen und mit „schwachen Worten“ (Konjunktiven!) argumentieren. Vor allem weist Nicole Soames immer wieder auf die eminent wichtige „emotionale Intelligenz“ hin, die sie im Laufe des Textes dann nach amerikanischem Rategebervorbild nur EI nennt. Wie überhaupt das Büchlein sehr an diese Ratgeber erinnert. Was genau die EI ist, wie man sie in sich aufbaut und in der Verhandlung einsetzt, bleibt unklar. Am Ende der Lektüre ist man zwar kein Verhandlungsprofi, aber nimmt doch einige feste Ratschläge mit, die da wären: sich gut auf die Verhandlung vorbereiten, auf die Körpersprache achten, dem Gegenüber einen Spielraum lassen. Das weiß man im Grunde eh alles, aber es ist ganz nützlich, das einmal gut aufgelistet und argumentiert vorgesetzt zu bekommen.

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Wolfram Eilenberger: Feuer der Freiheit. Klett-Cotta Verlag

Untertitel: Die Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten 1933-1943

In dem 2018 erschienen Buch „Zeit der Zauberer“ beschreibt Eilenberger die Entwicklung der Philosophie Heideggers, Cassirers, Benjamins und Wittgensteins und ihre Denkwege in der Zeit von 1919-1929. Nun also im Zeitalter der Gleichberechtigung von Mann und Frau widmet er sich vier Frauen, die auf unterschiedliche Weise die Zeit des Nationalsozialismus und des Totalitarismus gedanklich und durch reale Lebensentwürfe bewältigt haben oder bewältigen wollten.

Es sind teils bekannte, teils der Allgemeinheit unbekannte Namen: Simone de Beauvoir, Simone Weil, Hannah Arendt und Ayn Rand. Sie lebten in einer Zeit, die der Gegenwart nicht unähnlich ist: Das wirtschaftliche Überleben ist für viele aus der Mittel- und Unterschicht mehr als fraglich, das geistige Leben wird von der Politik abgewürgt oder in eine ihr genehme Richtung gelenkt.

In Zeiten der Not und des von Krieg und Verfolgung bedrohten Lebens entwickelten jede der vier Frauen eine eigene Denk- und Lebensstrategie: Ayn Rands Eltern wurden während der Russischen Revolution enteignet, sie selbst floh nach Amerika und wurde zu einer der erfolgreichsten Schriftstellerinnen ihrer Zeit. In ihren von Nietzsches Gedankengut beeinflussten Romanen und Theaterstücken dreht sich alles um die individuelle Freiheit, die mit allen Mitteln gegen Zugriffe des Staates verteidigt werden müsse. Dies geschehe am besten durch radikalen Individualismus.

Das Leben Simone Weils ist ihr geistiges Skriptum. Was sie gedanklich fordert, das lebt sie in radikaler, zur Selbstaufgabe hin neigender Art und Weise: Als Tochter gut bürgerlicher Eltern widerstrebt ihr alles, was mit Besitz zu tun hat. Ihre zerbrechliche Gesundheit setzt sie immer und überall aufs Spiel, sie brennt für die soziale Aufgabe, gründet ein privates Flüchtllingshilfswerk, arbeitet in einer Fabrik, um die Probleme der Arbeiter nachvollziehen zu können. Ihre Zerbrechlichkeit ignorierend schreibt, lehrt und arbeitet sie unermüdlich. Ihre ärgste Sorge lässt sie hellsichtig vor einem totalen Überwachungsstaat warnen. Sie stirbt 1943 in einem Sanatorium in Endgland an Herzversagen, Tuberkulose, Hungerödemen und in geistiger Verwirrung.

Religion trägt für Simone de Beauvoir die Hauptschuld für die menschlichen Verfehlungen. Frei von der gängigen Moral gehen sie und Sartre immer wieder neue Liebesbeziehungen ein, bleiben aber als Freunde bis zum Schluss miteinander verbunden. Simone de Beauvoirs Buch „Das andere Geschlecht“ wird zum Kultbuch der Frauenbewegung.

Hannah Arendt flieht vor den Nationalsozialisten nach Paris und später in die USA, wo sie Forschungen über Entstehung und Gefahren des Totalitarismus betreibt. Mit ihrem Werk „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“ erlangt sie Weltruhm. Das Buch gilt bis heute als wichtigste Grundlage der Totalitarismusforschung.

Vier Frauen, vier verschiedene Biografien. Eilenberger zeigt auf, wie die verschiedenen Lebenswege die Enststehuung des philosophischen Gedankengutes beeinflussten. Entgegen einer in der wissenschaftlichen Diskussion weit verbreiteten Meinung, dass Kunst-Werke per se und nicht aus der Biografie des Künstlers gedeutet werden dürfen, besteht Eilenberger auf der These, dass die Lebensumstände es sind, die ein Werk unterschwellig oder ganz offen beeinflussen, ja erst entstehen lassen. Als Leser kann man dieser These durchaus folgen.

Deshalb ist dieses Buch eine Mischung aus Biografie und Interpreation philosophischer Texte. Obwohl scheinbar mit leichter Hand geschrieben, steht doch einiges dem flüssigen Lesen und Verstehen im WEge: Der Autor springt recht rasch von einer Figur zur anderen, ohne den Übergang deutlich zu machen. So fragt man sich recht oft, von welcher „sie“ denn gerade die Rede sei. Das Prinzip des geichzeitigen Beschreibens der vier Frauen in einem abgesteckten Zeitrahmen verhindert ein genaueres Eingehen auf die Einzelperson. Über jede dieser vier Frauen wäre es interessant, eine ausführliche Biografie zu lesen, in der detaillierter auf die Zusammenhänge von Leben und Werk eingegangen wird. Denn jede einzelnes Leben dieser Frauen böte ausreichend Stoff für eine eigene Biografie.

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Herbert Lackner: Die Flucht der Dichter und Denker.

Untertitel:Wie Europas Künstler und Wissenschaftler den Nazis entkamen. Verlag: ueberreuter

Nach dem Buch „Als die Nacht sich senkte“, in dem Herbert Lackner die Reaktionen der Intellektuellen und Künstler auf Hitlers Regime schildert, dokumentiert er nun in dem Nachfolgewerk „Die Flucht der Dichter und Denker“ akribisch genau die Schicksale all derer, die vom Naziregime verfolgt wurden und die Flucht bis Frankreich schafften, wo sie vorläufig zu Ende war. In dem geschilderten Zeitrahmen von 1933 bis 1942 wurde es für Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten und für Hitler unliebsame Personen immer schwerer, in Deutschland oder Österreich zu leben. Viele wurden vrrschleppt und in den Konzentrationslagern getötet. Wer noch genug Geld oder Beziehungen zu in Frankreich lebenden Freunden hatte, der schaffte es bis Paris. Als Paris 1940 von den deutschen Truppen eingenommen wurde, flüchteten die meisten nach Marseille, in der Hoffnung, eine Schiffspassage nach Amerika zu bekommen. Als keine Schiffe mehr von Marseille fuhren, war Lissabon die letzte Hoffnung.

Varian Frys Rettungsaktionen

Zu den spannendsten Kapiteln des Buches zählen Lackners Recherchen über die Rettungsaktion für gefährdete Künstler, Intellektuelle und Politiker, die Thomas Mann in New York ins Leben rief. Mit Hilfe von 200 begüterten Geschäftsleuten und der Unterstützung von Eleonor Roosvelt, der Frau des Präsidenten, sammelt er eine beträchtiliche Summe Geld und schickt den Journalisten Varian Fry nach Frankreich, um die auf einer Liste stehenden 2200 Personen, alle bekannte Persönlichkeiten aus dem Kulturleben und der Politik, vor dem Zugriff der Nazis zu retten. Varian Fray wird über 16 Monate in Südfrankreich im Untergrund arbeiten und viele Menschen mit Schiffspassagen nach den Staaten versorgen und sie so vor den Nazis retten, darunter so bekannte Persönlichkeiten wie Alma Mahler-Werfel und ihren Ehemann Franz Werfel.

Wo es Herbert Lackner möglich war, verfolgte er deren Schicksal auch nach der Ankunft. Nicht alle konnten und wollten in den Staaten bleiben. Einige sind zurückgekehrt. Deren Schicksal schildert Herbert Lackner in seinem jüngst erschienenen Buch „Rückkehr in die fremde Heimat“.

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Christoph Kotanko: Kult-Kanzler Kreisky. Mensch und Mythos. Verlag Überreuter

Warum jetzt schon wieder eine Kreiskybiografie, wird sich so mancher Leser fragen. Wahrscheinlich gibt es sicher mehr als zehn Publikationen, die sich mit der Kultfigur Kreisky befassten, darunter viele von prominenten Autoren wie Heinz Fischer, Wolfgang Petritsch oder Oliver Rathkolb. Nun also dieses Werk. Es erscheint in einer schwierigen Zeit. Corona fordert von der Bevölkerung alles ab. Die Regierung herrscht, ohne viel Überlegungen werden Gesetze erlassen, die nicht immer nachvollziehbar sind. Und der selbstbewusste Kanzler sonnt sich in seinen imperialistischen Operettenauftritten. Was hätte wohl Kreisky zu all dem gesagt? Vielleicht: „Lernen Sie Demokratie, Herr Bundeskanzler“ ( Ich zitiere hier Herbert Hutar, mit dem ich ein Gespräch am Silvestertag 2020 über Kreisky und Kurz führte)

Genau diese konträre Auffassung von Politik wird beim Lesen dieser Biografie klar: Kreisky „herrschte“ auch, er wurde ja auch oft „Sonnenkönig“ genannt, aber: Er informierte sich, sprach mit den Leuten aus dem Volk, die ihn jederzeit – und wirklich jederzeit! – anrufen und ihm die Probleme schildern konnten. Er verstand die Sorgen der Menschen, wusste fast immer Lösungen. Und: Er konte auch einsehen, wann er verloren hatte – etwa in Sachen Atomkraftwerk. Gesetze oder Erlässe,die im Nachhinein vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben wurden, gab es damals nicht. Christoph Kotanko zeichnet das politische Porträt objektiv, bringt in Interviews mit Persönlichkeiten aus Kreiskys engstem Umfeld das Pro und Kontra um die politischen Entscheidungen und das Charakterbild des Kanzlers.

Der Stil Kotankos, fern von historischer Gestik, ist lebendig und frisch. Mit Wehmut liest man über diese Zeit, die auch nicht immer leicht war. Aber man wusste damals, Politik hieß Verantwortung übernehmen. Und das tat Bruno Kreisky.

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Martin Suter und Benjamin von Stuckrad-Barre: Alle sind so ernst geworden. Diogenes Verlag

Losgelöst von literarischen Ambitionen plaudern die beiden Freunde über alles und nichts, in freiem Slam-Gerede. Kein Satzgefeile, sondern wie es kommt. Und „es“ kommt recht unorthodox daher, manchmal frei von Grammatik, ganz wie den beiden der Schnabel gewachsen ist. Themen purzeln übereinander und untereinander. Für den Leser reinstes Gehirnjogging. Den Sprüngen zu folgen verlangt mehr Anstrengung als man hinter dem Titel vermutet.

Glaubt man sich im sicheren Gewässer des Verstehens, schon ist man mitten in einer Untiefe, einem Strudel. Wie jetzt? wie ist der Schmäh gemeint? -Natürlich ernst! Denn „alle sind so ernst geworden“ – also nehmen Suter und sein Freund den blödesten Schmäh ernst, wie etwa die orangene Badehose. Peinlichkeiten werden ausgewalzt, alles wird aufs Korn genommen, vor allem das allgemein Übliche. Manchmal übellaunig-witzig, manchmal geistlos. Das Geistlose wird adoriert, verziert, bis es sich selbst denunziert. Der literarisch hochangesehene PEN-Club wird hochachtungsvoll zerlegt, bis nix mehr über bleibt. Schnöselwendungen werden nicht entschnöselt, sondern ernstlich verwendet. All die Ähmms und Sozusagen und Undsoweiter der Politiker und Großredner delikat genossen. Den täglichen Unfug benützen die Gesprächspartner wie ein hochgeistiges Denkgebilde und zerlegen ihn genüsslich..

Mit schmallippigem Lächeln denunzieren Suter und sein Gesprächspartner, der meist der Motor und Fragesteller ist, die Floskeln, die Notlügen, die höflichen Lügen. So nebenbei erfährt man auch Privates, wie etwa Suters Liebe zum Mundharmonikaspiel.

Der Reiz dieses Gesprächskauderwelsch‘ liegt im bewusst Unliterarischen, im locker Dahergesagten ohne Konzept. Manche Steigerungen reichen bis ins Absurde eines Ionesco – etwa wenn die beiden über die mangelnde „Willkommenskultur“ blödeln, die der Tausenderschein erfährt. Keiner will ihn, keiner kann herausgeben, keiner kann spontan wechseln.

Tipp für zukünftige Leser: Immer nur eine, maximal 2 Geschichten lesen. Dann das Buch einige Tage ruhen, den Humor sich absetzen lassen. Denn Geblödel, auch wenn es noch so geistreich daherkommt, nervt in zu großen Dosen. Das ist wie mit Weihnachstkeksen oder Schokolade: Man überisst sich leicht.

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Jason Starr, Seitensprung. Diogenes Verlag

Aus dem Amerikanischem von Thomas Stegers

Wenn einem der Zufall ein Buch von Jason Starr in die Hände spielt, dann sollte man dem Zufall sehr, sehr dankbar sein! Denn Jason Starr gehört zu den wenigen, die einen Thriller mit Hochspannung schreiben können. Da kaut kein Detektiv seine Theeorien seitenweise wieder. Da gibt es keine peinlichen Seitenfüller, wie Restaurantbeschreibungen oder gar Kochrezepte. Nein, bei Starr gehts ans Eingemachte, an die Existenz des Protagonisten. Und man bangt mit ihm, obwohl er kein ausgesprochener Sampathieträger ist. Weglegen, bevor man das Buch zu Ende gelesen hat, verlangt Disziplin. Es gilt ja noch den Arbeitsalltag zu bewältigen. Es am Abend im Bett zu lesen, ist auch keine gute Idee, denn dann liest man bis in die Morgenstunden und kann sich vom Schlaf verabschieden.

Jack Harpers ist nicht gerade ein Glückspilz. Mit seiner Musik konnte er nicht reüssieren, als Makler ist er eine Niete. Die Ehe mit seiner Frau Maria ist alles andere als beglückend. Gäbe es da nicht seinen Sohn Jonah, hätte er nie zu saufen aufgehört. Als er sich übers Internet in eine Vermittlungsplattform einloggt und zum ersten Date eilt, beginnt sein Absturz.

Jason Starr ist ein Autor des Erwarteten. Man weiß spätestens nach dreißig Seiten, dass sich der Typ in seinen Untergang katapultiert. Aber wie er das macht, ist voller Spannung. Und das Ende kann man dunkel ahnen, aber dann ist doch alles ein wenig anders.

Die passende Lektüre, wenn einem Corona, die faden Feiertage und sonst noch vieles auf den Geist geht.

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Marie Benedict, Frau Einstein. Verlag Kiepenheuer &Witsch

Aus dem amerikanischen Englisch von Marieke Heimburger

Untertitel: Die Geschichte von Mileva Maric, Albert Einsteins erster Frau, die maßgeblich an seinem Erfolg beteiligt war und doch bis heute eine Unbekannte ist.

Marie Benedict erzählt in Form einer Romanbiografie sehr berührend das Leben von Mileva Maric. Dabei stützt sie sich in erster Linie auf Dokumente und Briefe, soweit vorhanden, erlaubt sich aber in künstlerischer Freiheit Gedanken und Sätze, die sie Mileva sagen lässt. So wird aus einer nüchternen Biographie ein packender Roman, der sich so weit wie möglich an die Fakten hält.

Mileva studiert als eine der ersten Frauen überhaupt in Zürich Mathematik und Physik (1896). Unterstützt wird sie in diesem für die damalige Zeit ungewöhnlichen Weg von ihrem Vater, der sehr früh schon ihe Begabung erkannte und förderte. Aber es ist keineswegs leicht für eine aus Serbien stammende junge Frau, sich durchzusetzen. Doch ihre Klugheit und Fröhlichkeit ziehen den jungen Albert Einstein, der mit ihr dieselbe Klasse besucht, in den Bann. Er macht ihr den Hof. Als sie schwanger wird, lässt er sie im Regen stehen, kümmert sich wenig bis gar nicht, hat auch kein Interesse an dem Kind, genannt „Lieserl“. Es ist nur die erste von zahllosen Lieblosigkeiten, die Mileva schlucken muss. Als er sie dann endlich heiratet, wird sie zuerst zu seiner Hausfrau, dann zu seiner Gefährtin in der wissenschaftlichen Forschung. Für Marie Bendedict ist es klar, dass Mileva an den Schriften über dieRelativitätstheorie wesentlich mitgearbeitet hat. Einige Forscher bezweifeln das. Doch dass Albert Einstein nach der Scheidung das Geld aus dem Nobelpreis ihr überlassen muss, ist Faktum. Die Ehe wird ein Disaster, Einstein ein Monster. Je größer sein Erfolg, desto mieser behandelt er Mileva. So darf sie ihn nur ansprechen, wenn er es erlaubt, muss in der Öffentlichkeit drei Schritte hinter ihm gehen. Sie schluckt das für einige Zeit der beiden Kinder wegen. Doch dann reicht es ihr. Sie verlangt die Scheidung und zieht 1914 mit den beiden Buben nach Zürich, wo sie bis zu ihrem Tod 1848 in einem bescheidenen Wohlstand, aber völlig vereinsamt lebt.

Mileva Milic‘ Schicksal ist kein Einzelfall. Zahlreiche Frauen stellten und stellen bis heute ihr Talent hintan, weil sie die Karriere ihres Ehemannes unterstützen müssen/wollen. Es ist noch nicht allzu lange her, dass Malerinnen um eine Ausstellung ihrer Werke sehr kämpfen mussten. Nur wenigen ist es gelungen. Ja, es herrschte noch bis vor wenigen Jahren die Meinung in der Männerwelt, dass Frauen kein kreatives Potential hätten. Und wie heißt es bis heute noch? – „Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine Frau.“ Den Mann kennt man, die Frau aber kaum.

Man darf auf die neue Romanbiographie von Marie Benedict über Lady Churchill gespannt sein. Sie soll in den nächsten Monaten 2021 erscheinen.

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Ulrich Weber: Friedrich Dürrenmatt. Eine Biographie. Diogenes Verlag

Ulrich Weber ist Kurator des Dürrenmatt-Nachlasses. Er schrieb die erste umfassende Biographie des weltbekannten Autors von Dramen wie „Besuch der alten Dame“ oder die „Physiker“. Die meisten Leser und Theaterbesucher kennen diese Dramen, vielleicht noch Krimis wie „Der Verdacht“ oder „Der Richter und sein Henker“. Doch darüber hinaus weiß man recht wenig über FD.

Ulrich Webers Biographie umfasst über 700 Seiten, 200 davon sind für den wissenschaftlich sorgfältig aufbereiteten Anhang reserviert. Zahlreiche Fotografien zeigen FD mit seiner Familie und engen Freunden.

Wenn der Verlag auf der Rückseite des Covers damit wirbt, dass diese Biographie auch für Leser und Schüler interessant ist, so darf das bezweifelt werden. Nur wer ein spezielles Interesse an Dürrenmatts Leben und Werk hat, wird sich durch diese eher nüchtern und sachlich geschriebene Biographie durcharbeiten. Wer das jedoch auf sich nimmt, der erfährt tatsächlich interessante Details aus dem Leben und Arbeiten dieses Giganten der deutschsprachigen Literatur.

Die Anfänge

1921 im Emmental in der Schweiz geboren, beschließt FD schon in jungen Jahren „Künstler“ zu werden. Zunächst probiert er es mit der Malerei, erkennt aber bald, dass er nicht genug Talent hat. Nach dem überstürzten Abbruch des Germanistikstudiums beschließt er kategorisch: Ich werde Schriftsteller. Und: Ich werde Ehemann. 1946 heiratet er die Schauspielerin Lotti Geissler, mit der er bis zu ihrem Tod 1983 verheiratet bleibt. Interessantes Detail aus dieser Zeit: Sympathisiert Dürrenmatt noch als Student mit Hitler-Deutschland und dem Anschluss, so schreibt er mit dem Drama „Romulus der Große“ (1947)die erste große Abrechnung mit der deutschen Vergangenheit. Zugleich ist das auch sein Durchbruch als anerkannter Dramatiker. Doch die Familie (Sohn Peter ist schon auf der Welt) lebt in ärmlichen Verhältnissen. Er entwickelt sich zum „Meister im Schnorren“ (S 136). Aus Geldnot schreibt er Theaterkritiken, Hörspiele und Krimis. In dem Krimi „Der Verdacht“ erwähnt er als erster Autor überhaupt den Holocaust.

Welterfolge

Die Töchter Barbara und Ruth werden geboren, die Geldnot wird größer. Erst 1956 mit den Welterfolgen „Der Besuch der alten Dame“ und „Die Physiker“ kann die Familie in ein großes Haus in Neuchâtel ziehen und im Wohlstand leben. FD genießt diesen Reichtum durchaus, kauft teure Autos und führt ein gastliches Haus. Berühmt ist sein Weinkeller mit edlen Tropfen aus der ganzen Welt. FDs Gäste müssen trinkfest sein! Er ist es zum Leidwesen seiner Ehefrau auch.

FD schuf mit den beiden Dramen beklemmende Parabeln „um die eigendynamishe Macht des Geldes und das Verschwinden des Schuldbewusstseins“ (S194). Die Frage nach dem Verhältnis von moralischer und rechtlicher Schuld wird den Autor auch weiterhin beschäftigen, besonders die Aufarbeitung der Naziverbrechen. Mit dem Film „Es geschah am hellichten Tag“ wird er auch als Drehbuchautor erfolgreich. In der Folge reist FD mit oder ohne Ehefrau Lotti -meist ohne – von einem Theater, einer Besprechung zur anderen. Die drei Kinder bleiben sich meist selbst überlassen. Lotti ist immer wieder krank, fällt in schwere Depressionen. FD schreibt, liest – sehr viel über Naturwissenschaften und Philosophie – und beginnt sich wieder für Malerei zu interessieren. Sammelt Bilder bekannter Maler wie Hans Falk oder Varlin. Die langjährige „distanzierte Freundschaft“ mit Max Frisch geht 1976 zu Ende.

Die schweren Jahre

Ende 1970 beginnt eine schwere Zeit. Sein Drama „Die Frist“ ist ein großer Misserfolg. FD arbeitet intensiv an den „Stoffen“ – eine Rückschau auf sein Leben und Werk mit Überlegungen über das Theater, Leben und Tod. Viele seiner Texte werden immer wieder umgeschrieben und bleiben meist unvollendet. 1983 stirbt Ehefrau Lotti. Aber schon 1984 heiratet er Charlotte Kerr, weil er an Vereinsamung leidet. Nun prallen zwei gegensätzliche Menschen aufeinander: Sie herrscht, organisiert, bestimmt, er wehrt sich, will es gemütlicher. Doch Charlotte Kerr ist ehrgeizig und umtriebig und findet immer neue Arbeitsmöglickeiten für ihren Ehemann. Sein Ruhm und Nachruhm sind ihr wichtig, nicht zuletzt, weil sie miteinbezogen ist. Zahlreiche Preisverleihungen, unter anderem der renommierte Büchner-Preis- machen die Ehefrau stolzer als den Preisträger. Aufschlussreich für FD ist die Reise in die Sowjetunion, wo er Gorbatschow kennen lernt. Er hält ihn für einen wichtigen Hoffnungsträger auf dem politischen Weltparkett. Am 14. Dezember 1990 stirbt FD in seinem Haus in Neuchâtel an Herzversagen.

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Lucy Foley: Die leuchtenden Tage am Bosporus.

Verlag: Insel Taschenbuch/Suhrkamp. Aus dem Englischen von Katja Bendels

Istanbul 1921, oder wie die Besatzungsmächte die Stadt nennen: Konstantinopel. Es sind düstere Zeiten. Die einst so strahlende Stadt wirkt erloschen, die Menshen leiden unter der Besatzung, Misstrauen herrscht überall. Der Titel der deutschen Ausgabe ist daher irreführend. Denn die Stadt leuchtet höchstens durch die gelegten Brände, die vor allem die Häuser der Armenier zerstören.

Zerstört, verstört sind auch die Menschen. Den Besatzern begegnet man mit Missachtung. Sich ihnen auch nur freundlich zu nähern gilt als Verrat. Doch die junge Lehrerin Nur lässt sich nicht beeinflussen. Ihr Kurzzeitehemann ist gefallen, ihr Bruder verschollen. Mit Stickerein bringt sie recht mühevoll ihre Großmutter und Mutter durch. Auch den kleinen armenischen Jungen nimmt sie bei sich auf. Er war ihr letzter Schüler, alle anderen Kinder waren längst schon verschwunden. Als „der Junge“, wie er nur genannt wird, schwer krank wird, ruft Nur den Arzt, der im britischen Militärhospital arbeitet, zu HIlfe. Er nimmt den Jungen im Spital auf, obwohl es streng verboten ist. Nur besucht ihn täglich, muss ihre Abneigung gegen den Arzt und die Briten unterdrücken. Sie leidet doppelt, da das Spital einst das Heim ihrer Familie war.

Alles keine guten Voraussetzungen für die Liebe, die zwischen Nur und dem Arzt George langsam wächst. Denn es ist eine Liebe, die nicht sein kann, sein darf. Zu groß ist die Kluft zwischen einer Bewohnerin der Stadt und einem, der zu den Besetzern gehört. Obwohl beide fähig wären, die gesellschaftlichen Schranken zu überwinden, trennen sie sich. Er kehrt in seine Heimat zurück. Als Beweis ihrer Liebe bittet Nur ihn, den Jungen mitzunehmen. In ihrer Stadt wäre er wegen seiner armenischen Abstammung nicht mehr sicher. Denn der Genozid am armenischen Volk hat begonnen. Nurs Bruder wurde gezwungen, die ärgsten Gräueltaten an den Armeniern mitanzusehen und auch auszuführen. Das hat ihn verändert, zuletzt gebrochen. Er begeht Selbstmord.

Geschickt verpackt Lucy Foley schwerwiegende Folgen des Krieges in eine zarte Liebesgeschichte, die sich spannend, sehr langsam und behutsam entwickelt. So nimmt sie den Leser geschickt mit und konfrontiert ihn mit den historischen Tatsachen, wie den Genozid an den Armeniern, den Aufstieg der „Türkei“ aus den Trümmern des ehemals mächtigen osmanischen Reiches. Sie schildert mit nüchernem Blick, welche Folgen die Grausamkeit des Kriegsgeschehens auf die Seelen der Menschen hat. Am Beispiel des Bruders, der mit seiner Schuld, die er bei der Vertreibung der Armenier auf sich geleaden hat, nicht fertig wird. Als Gegenpol der Entmenschlichung führt sie die positive Figur des Arztes ein, um ein Gegengewicht zu all den Unmenschlichkeiten zu schaffen.

Der Aufbau des Romanes ist allerdings ein wenig ungewöhnlich, sprich nicht gerade leserfreundlich. Wahrscheinlich ist der Aufbau der herrschenden Schreibmode geschuldet, das Geschehen in kleine Kapitel zu zerhacken, in denen die Autorin zeitlich und im steten Perspektivewechsel zwischen den Personen hin- und herspringt. Dieser allseits beliebte Erzählstil wirkt ein wenig allzu bemüht und erschwert das Einsteigen in das Geschehen. Hat man aber erst einmal ein Drittel des Romanes überwunden, dann ist man vom Reiz der Geschichte gefangen.

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Karim El-Gawhary: Repression und Rebellion.

Untertitel: Arabische Revolution-was nun?

Man kann nicht aufhören zu lesen. Alle Puzzles, die man sich aus Medienberichten vage zusammenreimen konnte, rückt der Autor in den notwendigen politischen Rahmen und fügt sie zu einem klaren Bild zusammen. Er durchleuchtet Spieler und Gegenspieler, geht den Ursachen der Aufstände und Gegenaufstände auf den Grund. Zeigt mangelnde Kompromissbereitschaft für die Militärdiktatur in Ägypten auf. Beleuchtet logisch und mit kühler Objektivität den Aufstieg der IS-Kämpfer.

Karim El-Gawhary macht deutlich, dass es in der Politik nie um Menschen, Bewohner des Landes, geht, sondern immer nur um die Frage der Herrschenden: Wie können sie ihre Macht sichern, beziehungsweise vergrößern. Und man erfasst sehr schnell: Bei diesem Spiel um die Macht werden schnell Verbündete zu Gegnern. Oder auch die aktuellen Machthaber zu Verlierern, wenn sie auf falsche Pferde gesetzt haben. Beispiel: Die Winkelzüge von Saudis und den Arabischen Emiraten legten den Jemen total lahm, ohne wirkliche Erfolge zu erzielen. Dieselben spalteten Libyien und hatten ihre Spielfinger in Ägypten, zogen den Boykott gegen das Emirat Katar hoch. Aber alle diese Strategien blieben erfolglos. Fazit: Verbrannte ERde ud Millionen Tote.

Es gelingt dem Autor, in der „nahöstlichen Gemengelage“ die Verflechtungen aufzuzeigen. Deutliche führt er die unrühmliche Rolle Trumps, aber auch die Eruopas auf: Indem diese beiden Mächte sich auf die Autokraten als Antiterrormächte stützen, wollen sie nicht sehen, dass es gerade diese Diktatoren sind, die ihre Bevölkerung unter die Armutsgrenze treiben und so den Terror züchten. Nüchtern stellt Karim El-Gawhary fest: Die EU spielt im Nahen Osten längst keine Rolle mehr, es sei denn eine unrühmliche! Harte Worte. Das Buch sollte man allen EU-Politikern als Pflichtlektüre auferlegen.

Das Buch ist ein Wachruf an Europa! Wie lange noch werden die Menschen in den autokratisch gelenkten Staaten die Unterdrückung dulden? Die Stabilität ist brüchig. Was zur Folge hat: Immer mehr Menschen werden nach Europa drängen!

Karim El-Gawhary führt mit präzisen Recherchen und einer klaren Sprache, die jeder versteht, verstehen muss, uns Europäern vor Augen, welch ein gefährliches Terrain der Nahe Osten ist und wie sehr die EU vor den Problemen die Augen schließt.

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Elena Ferrante: Das lügenhafte Leben der Erwachsenen. Suhrkamp

Aus dem Italienischen von Karin Krieger

Wieder ist Neapel der Schauplatz, wieder geht es um Familiengeschicke, Wieder aus den Augen einer Halbwüchsigen. Man glaubt sich in dem Vierteiler „Meine geniale Freundin“, dann doch wieder nicht. Denn den Figuren fehlt die Glaubwürdigkeit, die existentielle Tiefe.

All zu deutlich spürt man, dass dieses neue Werk der Autorin ein Art Aufguss der Neapeltrilogie ist. Man liest es mit dem Aha -Effekt – das kennen wir schon. Giovanna, ein Mädchen aus der gutbürgerlichen Oberschicht (sie wohnt auch im noblen Oberteil von Neapel) seziert, zerlegt und zertrümmert das Bild, das ihre Familie nach außen aufgebaut hat. Dass sich Giovanna gleichsam als Nerd gebärdet, ist ärgerlich, denn es fehlt ihr alles Maß. Sie meint, sie, nur sie allein hat die moralische Kompetenz, die Lügen der Erwachsenen aufdecken zu müssen. Dieses manisch-aggressive Verhalten mag ja typisch für die Zeit der Pubertät sein. Aber gerade dadurch wird es mehr ein Buch über die allgemein bekannten Zickigkeiten, Widrigkeiten, die 13-15- Jährige so erleben. Anders als in der Neapeltrilogie erfahren wir kaum Neues über die Stadt, es werden Straßen und Plätze genannt, die sich aber nicht mit Leben füllen. Ähnlich wie in der Neapeltrilogie strebt Giovanna nach intellektuellem Futter – diesmal erfüllt eine Art Priesterfigur diese Funktion. Der stammt aus Neapel, lebt und lehrt in Mailand – auch hier die Parallele zur Trilogie: Mailand, das ersehnte Zentrum der Intelligenzia . Es bleibt aber bei der Schwärmerei Giovannas zu diesem eigenartigen Halbheiligen, sie liebt ihn, lässt sich aber von einem ziemlich groben Straßenjungen aus dem „Industrieviertel“ Neapels ganz ohne Gefühlsregung entjungfern. So unter dem Motto: Damit ist auch dieser Schritt zum Erwachsenwerden erledigt.

Zusammengefasst: Aus Neapel nichts Neues, nur andere Namen, aber die ohne Leben.

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Uta Ruge: Bauern, Land. Kunstmann Verlag

Untertitel: Die Geschichte meines Dorfes im Weltzusammenhang

Ute Ruge, auf Rügen geboren, wuchs nach Flucht der Familie nach dem 2. Weltkrieg in einem kleinen Dorf im Bachenbrucher Moor in Norddeutschland auf., Zum Studium der Germanistik zog sie nach Marburg und Berlin, wo sie auch heute lebt.

Als ihr Vater starb, übernahm ihr Bruder Waldemar den Hof.

Mit dem Buch will die Autorin die Sichtweise der Städter auf die Arbeit der Bauern mit der Realität im Hier und Jetzt vergleichen, die Vorurteile, die auf beiden Seiten herrschen, ausräumen und Klischeevorstellungen klarstellen. Ob sie sich vielleicht zu viel vorgenommen, fragt sich der geduldige Leser, der sich, weil das Thema ja spannend ist, durch 450 Seiten geballte Information brav durchkämpft.

Die verschiedenen Teile werden mit „heute“, „damals“ und „Vergangenheit“ überschrieben. In den Kapiteln „Vergangenheit“ arbeitet Uta Ruge die historische Entwicklung des Bauernstandes auf und weist immer wieder auf das – meist romantisierte – Bild des Lebens auf dem Lande in Literatur und Malerei hin. Diese Kapitel allein würden locker ein ganzes Buch füllen.

Authentizität ist Uta Ruge ganz wichtig. Deshalb fährt sie, die inzwischen das Landleben hinter sich gelassen hat und in der Großstadt lebt, immer wieder zu ihrem Bruder, um ihm, zu seinem Ärger, bei der Arbeit zuzusehen und Fragen zu stellen. Dabei entdeckt sie die Unvereinbarkeiten der Denkweisen: Ihrem Bruder geht es nicht um Naturschutz und Ökologie, er will nur den Lebensunterhalt gesichert wissen. Und das sei – so Waldemar – durch diverse EU- und Naturschutzbestimmungen, sowie durch Preisdumping des internationalen Marktes immer schwieriger. Während die Städter von artgerechter Viehhaltung, von handgemolkenen glücklichen Kühen schwärmen, muss Waldemar immer mehr in Technik und Düngemittel investieren, um überhaupt über die Runden zu kommen. Eine immer wiederkehrender Streitfall sind die Wölfe – für die Bauern gefährliche Tiere, die Städter wollen sie geschützt wissen. Uta Ruge zeigt viele Punkte der Unvereinbarkeit auf.

In den Kapiteln „damals“ schildert sie ihre eigene Kindheit in diesem Dorf. Sie wuchs auf, als der Schulweg noch weit war, es nur eine Klasse gab, der Lehrer mit dem Lineal die Finger der Kinder wund klopfte. Was harte Arbeit auf dem Feld war, das lernten sie schon sehr früh. Erinnerungen an Sommer voller Freiheiten, an Feste, an Nachbarschaftstreffen verklären diese harte Kindheit ein wenig.

Ein überaus interessantes Buch, das gerade Lesern empfohlen sei, die von „naturnahen Landschaften“ schwärmen, gegen Monokultur und Einsatz von chemischen Düngemitteln wettern. Nach der Lektüre ist man als Städter ein wenig vorsichtiger mit den Vorwürfen, die so allgemein und spezifisch gegen Bauern erhoben werden-

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Daniela Krien: Die Liebe im Ernstfall. Diogenes Verlag

Wer „Muldental“ von der Daniela Krien gelesen hat, fühlt sich in ihrem neuen „Roman“ gleich zu Hause: Wieder schildert sie verschiedene Frauen, die alle eines gemeinsam haben: Sie sind in der DDR aufgewachsen und erleben nun die neue Freiheit. Anhand des Lebens von Paula, Judith, Brida, Malika und Jorinda stellt die Autorin Lebensmöglichkeiten oder auch -unmöglichkeiten vor. Das Thema der ehemaligen DDR tritt zurück, sie entwirft Prototypen der weiblichen Lebenswege, die noch geprägt sind vom alten Frauenbild, aber schon weit im Aufbruch hin zu einer Zeit der Selbstsändigkeit sind.

Paula hat eigentlich nicht vor, sich so bald zu binden. Doch Ludger hat schon den Plan ihrer gemeinsamen Wohnung in der Tasche. Der Abschied von ihrer Feundin Judith fällt ihr schwer. Bald bewegt sich ihr Leben nur zwischen Babyfläschchen und Windeln. Sie protestiert, sie leben nebeneinander her. Das zweite Kind stirbt, und die Trauer zerstört die Ehe.Ein neuer Partner tritt auf den Plan: Wenzel.

Die Lebensform der ungebundenen Frau gefällt Judith. Anders als Paula genießt sie das Leben, hat ein Reitpferd und verschiedene Sexpartner, die sie im Internet angelt. Ihren Job als Ärztin erledigt sie perfekt, aber ohne Empathie. Auf Frauen, die eine innige Partnerschaft erleben, ist sie neidisch. „Sie braucht einen Mann, obwohl sie ihn früher oder später verachten wird“

In knapper, sehr kühler Sprache arbeitet Daniela Krien fünf verschiedene Frauenfiguren wie Skulpturen aus einem Block heraus. Seite für Seite enthüllt sie Wünsche, Enttäuschungen, Wunden, Hoffnungen, die wahrscheinlich jede Frau erlebt. Durch die exzellente Durchzeichnung der verschiedenen Charaktere kommt nie auch nur ein Hauch von Banalität oder Kitsch auf.

Wie in Schnitzlers „REigen“ verknüpft Daniela Krien die einzelnen ERzählungen zu einem Romangebinde, lässt Figuren für eine Zeit verschwinden, um später sie wieder im neuen Kontext einzufügen .

Ein Buch, das Frauen, aber auch Männern zu denken gibt

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Maren Gottschalk: Frida. Goldmann Verlag

Maren Gottschalk ist fasziniert von der Malerin Frida Kahlo. Sie fährt zu den Orten, in denen Frida gelebt und gearbeitet hat, und sammelt möglichst viele biografische Details, um daraus die vorliegende Romanbiografie zu gestalten. Geschickt vermischt Maren Gottschalk Faktenwissen mit Fiktivem, ohne aber in gewagte Phantasien abzugleiten. Immer bleibt sie an der Grenzlinie der möglichen Wahrheit. Der Leser vertraut ihr, begleitet mit großem Interesse Frida Kahlo in den Jahren 1938/39 nach New York und Paris, wo sie mit ihren ersten Ausstellungen den internationalen Durchbruch erlebt. Immer wieder flicht Maren Gottschalk Rückblicke ein, so dass auch die mit dem Leben der Malerin unvertrauten Leser bestens informiert werden.

Mit ihrer hohen Sprachsensibilität macht es Maren Gottschalk möglich, den künstlerischen Schöpfungsprozess der Malerin erlebbar und verstehbar zu machen. Es gelingt ihr, Bilder während des Entstehungsprozesses zu interpretieren. Quasi eine innere Sprachkamera im Kopf der Malerin. Eine hohe Kunst, die nur wenige Autoren beherrschen.( Etwa auch Margret Greiner in der Romanbiografie über die jüdische Malerin Charlotte Salomon)

New York 1938: Das Leben brodelt, Künstler, Traumtänzer, Reiche und Lebenskünstler bevölkern die Szene. Frida Kahlo mitten drin. Eingesponnen auch in eine intensive Liebesgeschichte mit dem Fotografen Nickolas Muray. Selten noch war man als Leser so mitten im Geschehen einer Gesellschaft, die sich amüsiert und nur wenig an die drohende Gefahr des Weltkrieges denkt. Anders dann in Paris. Frida Kahlo sieht das Elend all derer, die vor Hitler flüchten mussten. Obwohl sie von der Kunstszene anerkannt wird, sie Picasso, Kandinsky und die Gruppe vum André Breton kennenlernt, bleibt sie distanziert. Sie kehrt nach Mexiko zurück, wo sie sich entscheiden muss, mit wem sie leben will. Weiter mir ihrem Ex-Mann Diego Rivera oder mit Nickolas Muray.

Maren Gottschalk gelingt es, ein lebendiges Bild der Kunstszene dieser Jahre zu entwerfen, immer durch die Gedanken Fridas gefiltert. „Frida“ ist ein Buch, das einem nicht loslässt. Man wünscht sich, dass es nicht enden möge. Weil man von der Hauptfigur bezaubert, eingefangen ist. Während und nach der Lektüre entstehen seltsame Dinge in der Leserin, in mir: Ich gewinne wieder Mut zur Farbe, lege die langweilig eleganten Kleider ganz hinten in den Schrank. Wühle im Modeschmuck, kombiniere gewagte Farben – kurz, eine starke Lebensfreude erfüllt mich. Ja, ich weiß, so etwas schreibt man nicht in einer „professionellen“ Kritik. Wer aber bestimmt das und warum soll man nur das Erwartete tun, schreiben, denken? Das hat Frida nie getan.

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Günther Neumann: Über allem und nichts. Residenz Verlag

Gerade zu dem Zeitpunkt, als man eindringlich vor der Gefahr des Massentourismus warnte und als akkurat dann die Coronakrise das Reisen unmöglich machte, erschien dieses Buch. Neumann weiß, was es heißt, seine Zeit zu „verfliegen“. Im Auftrag von EU und NGOs flog er quer durch die Welt, und vielleicht steckt hinter dem Buch die Erkenntnis: Fliegen, Reisen ist Flucht. Vor sich selbst, vor dem Denken.

Clara hatte einen Traum: Flugkapitänin zu werden. Doch der Weg ist mit Mühen gepflastert. Eifrig und ehrgeizig nimmt sie als Flugbegleiterin jeden Flug an, rast durch die Welt, nur um ihrem Ziel näher zu kommen. Als sie das Patent hat, geht die Fluggesellschaft pleite. Und ihr Privatleben auch.

Als das Buch fertig geschrieben war, wurde es von der Realität überholt: Flüge sind eingeschränkt, einige Airlines kämpfen gegen die Insolvenz an. Einige versuchen, auf dem Rücken ihrer Mitarbeiter zu retten, was nicht zu retten ist. Und fliegen ist überhaupt out. Reisen auch. Grenzen werden dicht gemacht.

Nun könnte man meinen, Neumanns Roman ist „der“ Roman der Coronakrise – weit gefehlt. Denn leider reduziert Neumann die globalen Probleme des Reisens in dieser überhitzten Welt auf die privaten Probleme seiner Hauptfigur. Und dem Leser wird es bald egal, ob sie sich für Matthias oder Gabrio entscheidet. Zu oft lässt der Autor seine Protagonistin zwischen Menschen, Orten und Zeiten switchen, bis der Leser ermüdet das Buch sinken lässt.

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Daniela Krien: Muldental. Diogenes Verlag

Die Erzählungen über Menschen, denen nach der Wende 1989 der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, haben nicht allen westdeutschen Kritikern gefallen. Manche Wessis beklagen Vorurteile, Klischees, deren sich die Autorin bedient: HIer die bösen Wessis, dort die armen Ossis.

Als Österreicherin sehe ich diese ERzählungen von außen, unbeteiligter. Was nicht heißen soll, dass mich die geschilderten Schicksale nicht berühren. In ihrer schlichten, geradlinigen Erzählweise, die manchmal unbeteiligt, trocken wirkt, hat die Autorin den richtigen Stil getroffen, mit dem sie sich dem Vorwurf der Larmoyanz und Parteilichkeit entzieht. Ich lese die Erzählungen als Dokumente von Schicksalen, die einander überall in der WElt ähneln, wo Menschen plötzlich durch einen Regime- oder Machtwechsel vor dem Nichts stehen.

Daniela Krien erzählt wahre Geschichten, wie sie selbst im Vorwort sagt. Ausgeschnitten aus Zeitungen. Aber durch ihre direkte und unverstellte Erzählweise bekommen sie etwas Allgemeingültiges.

Sie erzählt über die Frau, die von der Stasi zur Bespitzelung gezwungen wird. Sie tut es, um für ihren Mann die nötigen Medikamente zu bekommen. Marie und Mattis rächen sich an den Wessis, zerstören Autos, provozieren, weil die Wessis sie überheblich behandeln und dafür noch Dankbarkeit verlangen. Die stärkste Erzählung ist wohl „Plan B“. Den hecken Betti und Maren aus: Sie werden Geheimprostituierte. Das Geld brauchen sie für ihre Kinder und das Alltagsleben. Die Erfahrungen dieser beiden im Geschäft Unerfahrenen schildert Daniela Krien mit dem nötigen Schuss Humor.

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Rebecca Makkai: Die Optimisten. Eisele Verlag

Aus dem amerikanischen Englisch von Bettina Abarbanell

Ein Roman in zwei Handlungs- und Zeitebenen: Chicago 1985 und Paris 2015. Es ist auffallend, wie oft Autoren durch Zeitensprünge und Ortssprünge den Handlungsverlauf „zerschneiden“. Das macht das Lesen oft zur Tortur: Kaum hat man sich in die Personen und Szenerie eines Stranges eingelesen, wird man rausgeworfen und darf sich neu orientieren. Dieser Mode bedient sich auch Rebecca Makkai und zerstört, besser verstört den Lesefluss und die Freude am Weiterlesen. Schade, denn das Thema trifft den Nerv der Zeit: War es in den 1980er Jahren Aids, das die Menschen in Angst und Schrecken versetzte, so ist es heute Corona. Man wusste nichts von der Krankheit, hatte Sex nach Lust und Laune, oft mit Gleichgeschlechtlichen. Es scheint, als ob die ganze Künstlerszene Chicagos damals nur aus Homosexuellen bestand, glaubt man der Geschichte.

Hauptpersonen sind Yale, der für eine Galerie arbeitet und an einer Sammlung von Bildern aus der Zeit der Jahrhudertwende interessiert ist. Die junge Fiona hilft ihm. Einige Jahrzehnte später ist Fiona 50 Jahre alt, fliegt nach Paris, um ihre verschwundene Tochter zu suchen. Stilstisch gekonnt charakterisiert Rebecca Makkai die jeweiligen Gesellschaftsschichten. Alle verbindet der optimistische Glaube, dass die Zukunft besser und Aids keinen Schrecken mehr haben wird.

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Giulia Caminito: Ein Tag wird kommen. Wagenbach Verlag

Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner

In Serra Conti, einem Dorf in den Marken, leben Bauern ein hartes Leben. Die Hälfte der Ernte müsssen sie an den padrone abliefern, ein Drittel an die Kirche. Was bleibt, geht meist für Reparaturen an den Werkzeugen auf. (Die Mezzadria/ Halbpacht wurde in Italien teilweise 1954 abgeschafft, per legem erst 1984) In der Familie des Bäckers Ceresa herrscht Armut und Sprachlosigkeit. Das Brüderpaar Lupo und Nicola und der gezähmte Wolf Cane sind unzertrennlich. Lupo ist wild und unzähmbar, zugleich aber seinem jüngeren, körperlich schwachen Bruder in zärtlicher Fürsorge verbunden. Nella ist die wilde Schwester, die vom Priester des Dorfes vergewaltigt und ins KLoster gesteckt wird.

Der Erste Weltkrieg wirft seine Schatten voraus, die ersten Männer werden einberufen. Bald wird es kaum mehr arbeitskräftige Männer im Dorf geben. Lupo lässt sich von Nicola ins Bein schießen, um nicht einrücken zu müssen. Sein Kampf ist der Widerstand auf der Straße, die Rebellion gegen Kirche, Adelige und König. Doch Nicola muss in den Krieg, erlebt alle Gräuel und überlebt sie. Als er ins Dorf zurückkehrt, hat die Spanische Grippe das Dorf fest im Griff. Lupo ist fort. Nun pflegt der vom Krieg schwer gezeichnete Nicola seine sterbende Mutter und begräbt sie. Sein einziger Gedanke ist sein Bruder Lupo. Als er erfährt, dass er mit einer Gruppe Anarchisten nach Amerika gehen wird, bleibt er tief enttäuscht zurück. Doch statt nach Amerika kehrt Lupo nach Serra zurück, erfährt, dass die Nonne Nella seine Mutter ist. Eine Annäherung der beiden ungleichen Brüder, die eigentlich keine sind, findet nur zögernd statt.

Interessant ist der Nebenschauplatz: Hoch über dem Dorf liegt das Kloster, für die Dorfbewohner ein Hort des Trostes. Die „schwarze Äbtissin“, die als Kind aus ihrem Dorf im Sudan geraubt und als Sklavin nach Italien verkauft wurde, hält Nonnen und Dorfbewohnr unter ihrer strengen Führung. Welche Wege sie in das Kloster führten, erzählt Giulia Caminito nicht. Ein ganz ähnliches Schicksal schildert Véronique Olmi in der Romanbiografie „Bakhita“, die auf Tatsachen beruht. Ob da wohl ein und diesselbe Person gemeint ist?

Giulia Caminitos Sprache ist ebenso spröde und hart, wie das Schicksal der Menschen in Serra. Unbarmherzig geißelt sie die Oberschicht, die korrupten Politiker, die Kirchenfürsten und andere Fürsten. Ihre Sympathie gilt den Kämpfern, die in der Anarchie die einzige Lösung sehen. Das Buch ist ein Andenken an ihren Großvater Nicola Ugolino, Anarchist aus Serra, der nach der Spanischen Grippe das Dorf verließ. Die Kämpfe der Anarchisten, die Not der Bauern, all das basiere auf Fakten, betont die Autorin im Nachwort. Ein Roman, der das Elend der Menschen in den Bergdörfern Italiens um und nach der Jahrhundertwende schonungslos aufzeigt. Die Autorin macht es dem Leser nicht leicht, der Spröde der Sprachbilder zu folgen. Ungewöhnliche, sprunghafte Übergänge verlangen Konzentration. Doch das ist der Roman allemal wert.

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Pascal Mercier: Perlmanns Schweigen. Roman. btb-Verlag

Man muss schon Sprachwissenschaftler, Literaturdozent, Germanist sein und Zweifel an dem eigenen Metier, an den literarischen Werken an sich haben, um für dieses Romankonvolut von 639 Seiten die nötige Zeit und Geduld aufzubringen. Wie viele „Romane“ haben schon den Zweifel am Schreiben, die Schwierigkeiten und Hemmnisse des Schreibens an sich thematisiert! All zu viele! Gott sei Dank hat Pascal Mercier dann doch seine philosophischen Schreibtiraden gegen die Zunft der Schreiber, Übersetzer und Literaten aller Art überwunden und Romane, die den Titel verdienen, geschrieben. Wie etwa: „Nachtzug nach Lissabon“ und „Der Klavierstimmer“.

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Marco Bolzano: Ich bleibe hier. Roman. Diogenes Verlag

Aus dem Italienischen von Maja Pflug

Wenn Fiktion auf harter Realität aufbaut, dann entsteht ein Roman von großer Dichte und Überzeugungskraft, wie der von Marco Bolzano: „Ich bleibe hier.“

Autofahrer, die den Reschenpass (an der österreichisch-italienischen Grenze) überqueren, blicken verwirrt und betroffen auf das Bild, das sich vor ihnen ausbreitet: Mitten im See ragt wie ein mahnender Zeigefinger ein Kirchturm empor. Vielleicht denken einige sofort an den Assuan-Staudamm und die Dörfer der Nubier, die alle dem Wasser weichen mussten. Und so war es auch am Reschenpass: Das uralte Bauerndorf Graun wurde 1950 total überflutet. Nur der Kirchturm blieb bestehen. Er wirkt wie ein Zeigefinger, der mahnt, dass solch ein brutales Vorgehen gegen Menschen nicht mehr vorkommen soll(te). Aber Wirtschaft und Macht sind immer stärker als der „kleine Mann“ in seinem kleinen Haus. So geschehen diese „Umsiedelungen“, wie das neutrale Wort für diese Brutalität heißt, immer wieder, zum Beispiel in der Türkei, in China und anderswo.

Marco Bolzano gab den Bewohnern eine Stimme. Er geht in seinem Roman bis auf die 1930er Jahre zurück, als Südtirol „italianisiert“ wurde: Die deutsche Sprache wurde verboten. Die Bewohner sollten möglichst nach Deutschland abwandern,um den Italieniern Platz zu machen. Manche nahmen an und zogen in eine ungewisse Zukunft, manche blieben. Der Riss ging mitten durch Familien oder Freunde.

Trina und ihr Mann Erich entscheiden sich zu bleiben, ihre Tochter reist klammheimlich ab nach Deutschland. Trina darf nicht mehr Deutsch unterrichten. Immer mehr Verbote machen ihnen das Leben schwer. Der Sohn wird dann auch noch Hitleranhänger. Und der Staudamm wird gebaut und gebaut. Sie bleiben, bis sie eines Tages aufwachen und die Häuser des Dorfes überflutet sind, die Tiere hilflos im Wasser treiben. Entschädigung haben sie keine bekommen. Erich stirbt an Erschöpfung – der sinnlose Kampf gegen die Mächtigen hat ihn bis in den Tod geschwächt.

Ironie des Schicksals: Der Staudamm liefert zu wenig Strom. Es muss von den französischen Atomkraftwerken dazu gekauft werden. Manchmal geht Trina an den Ufern des Staudammes spazieren und sieht Touristen, die den See und den Kirchturm fotografieren, ohne eine Ahnung von dem Drama zu haben. Alles wirkt unwirklich und zugleich normal.

Die soliden Recherchen liefern die Basis für beide Romane, ohne dass sie jedoch im Erzählfluss spürbar werden. Bolzano arbeitet sie geschickt ein, ohne den Leser damit zu belasten, dem Geschehen mit Spannung folgt und am Ende viel über das Schicksal Südtirols und der vormals österreichischen Bauern erfahren hat.

Marco Bolzano gehört zu den wichtigsten Autoren Italiens. Mit dem Roman „Das Leben wartet nicht“ (s. Besprechung auf dieser Webseite) gewann er den Premio Campiello. „Ich bleibe hier“ wurde für den Premio Strega nominiert.

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Anita Brookner: Ein Start ins Leben. Eisele Verlag

Aus dem Englischen vonn Wibke Kuhn

Schon in ihrem Debütroman „Ein Start ins Leben“ legt Anita Brookner ihre Hauptfiguren und das Hauptthema fest: Es geht um Frauen, die Literatur und Leben verwechseln. Oder die ihr Leben nach den Büchern richten, mit denen sie sich beschäftigen. Im „Hotel du Lac“ ist Edith eine Schriftstellerin, die sich in ihren Büchern eine heile Welt zurechtschreibt. Im „Ein Start ins Leben“ zieht sich die Langzeitstudierende Ruth aus dem realen Leben zurück und ist glücklich, wenn sie sich mit einer Figuren aus Balzacs Romanen beschäftigen kann. Denn in ihrem realen Leben hat sie nichts und niemand, der ihr Halt geben kann: Mutter eine verkrachte Schauspielerin, Vater ein Nichtstuer. Die Familie lebt von einem kleinen Erbe, das sie sorglos verbrauchen. Ruth studiert und schreibt in Paris an ihrer Dissertation. Sie distanziert sich für eine WEile von ihren Blutsauger-Eltern, glaubt sich für einen kurzen Moment ihres Lebens glücklich, wird aber gnadenlos von ihren Eltern nach London zurückbeordert, um Vater und Mutter zu versorgen.

Doch es gibt in Ruths Leben auch helle Momente, in denen sie die Werte der Literatur überprüft und relativiert. Abr trotz der gedanklichen Distanz zu den Romanen, insbesondere zu denen Balsacs, und zu ihrer eigenen Dissertation hat sie nicht den Mut, sich ein eigenes, selbstbestimmtes Leben aufzubauen. Resignierend kehrt sie nach London in das muffige Elternhaus zurück und pflegt die Eltern.

Anita Brookners Stärke ist die feine Ironie, mit der sie ihre Figuren ausstattet. Obwohl Ruth sich klein denkt und klein fühlt, hat sie einen messerscharfen Verstand, der sie wie durch ein Brennglas die englische Mittelstandsgesellschaft analysieren lässt. Nur für ihre eigenen Fähigkeiten fehlt ihr die richige Einordnung.

Interessant ist für Anita Brookner immer wieder die Funktion der Literatur im Leben eines Menschen, eines gebildeten Lesers. Was kann Literatur leisten? Oft oder meist wirkt sie als Schlummertrunk, selten als Weckruf. „Ein Start ins Leben“ und „Hotel du Lac“ sind eindeutig Weckrufe: Gib acht, Leserin, lass dich nicht durch Literatur verführen, wähle deinen eigenen WEg.

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Anita Brookner, Hotel du Lac. Eisele Verlag.

Mit einem Vorwort von Elke Heidenreich. Aus dem Englischen von Dora Winkler.

Der Eiseleverlag ist dafür bekannt, hierzulande unbekannte englische Autoren und Autorinnen ins Licht der Leseöffentlichkeit zu stellen. Anita Brookners Roman „Hotel du Lac“ wurde 1984 mit dem Brooker Price ausgezeichnet. Doch danach war Lesestille, zumindest im deutschsprachigen Raum. Nach 36 Jahren legte der Eiseleverlag das Buch mit einem Vorwort von Elke Heidenreich neu auf. Die Folge: Begeisterte Kitiken!

Mit feinsnniger, sehr klarer Sprache schildert Anita Brookner den Charakter einer Frau, die intelligent ist, interessant aussieht, gesellschaftlich leidlich gewandt und noch dazu eine erfolgreiche Romanschriftstellerin ist. Und dennoch: Als Edith Hope von ihren allzu gut meinenden Freunden in das kleine „Hotel du Lac“ am Genfer See verbannt wird, ist sie unsicher, hat Angst vor der ihr vorgeschriebenen Einsamkeit. Voll Bangen betritt sie den Speisesaal, möchte sich unsichtbar machen. Nur nicht auffallen. Sie ist eine exzellente Beobachterin und analysiert ihr Umfeld glasklar. Immer aber mit der ihr eigenen Unsicherheit und Reserviertheit. Im letzten Drittel erfahren die Leser, warum sie aus London fliehen musste: Sie hatte ihren Bräutigam in letzter Minute stehen lassen. Freunde und Verwandte sind schockiert über dieses Benehmen und raten ihr, für einige Zeit aus London zu verschwinden. Bis das berühmte Gras über die Sache gewachsen ist. Fast demütig hat sie diese Verbannung auf sich genommen. Eine selbstbewusste Frau handelt anders.

Anita Brookner schildert eine kluge, begabte Frau, die sich in der realen Welt nicht zurecht findet, gerade weil sie sie allzu klar durchschaut. Durch diese Begabung stellt sie sich ins gesellschaftliche Abseits, wird von den anderen eher als Staffage betrachtet. Dieses Verschwinden hinter einer Beobachterrolle ist für Edith Hope Schutz und Barriere zugleich. Erst als ihr der einzige männliche Gast im Hotel einen Heiratsantrag macht- ihr zweiter und wie sie meint, ihre letzte Chance, in der Gesellschaft akzeptiert zu werden- und ihr mit nüchternen Worten erklärt, wie sie als seine Ehefrau zu funktionieren habe, wacht sie auf. Sie lehnt ab und beschließt nach London zurückzukehren.

Es passiert eigentlich nicht viel in diesem Roman. Und dennoch fesselt er von der ersten Seite an. Es sind die feinsinnigen Beobachtungen der Hauptfigur, die inneren Spannungen zwischen Erkennen und zugleich Nichterkennenwollen, die Anita Brookner gekonnt herausarbeitet. Edith Hope wird von der romantischen Literatur aus der Vergangenheit geprägt, was keine gute Vorbereitung für das Leben ist. In ihren – erfolgreichen – Romanen verweigert sie sich der nüchternen Wirklichkeit. Ihr Verleger macht sie mehrmals auf ihre allzu positiven Schlüsse aufmerksam. Im realen Leben erkennt sie erst nach genauester Analyse die banalen und erüchternden Charakterzüge und es dauert auch einige Zeit, bis sie den lieblosen, frechen, egoistischen Heiratsantrag als solchen erkennt. Denn immerhin überlegt sie einige Zeit, bevor sie ablehnt. Sie kehrt – ohne Ehering – nach London zurück. Ihr erster Schritt in eine gesellschaftliche Unabhängigkeit.

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Herbert Lackner, Als die Nacht sich senkte. ueberreuter-sachbuch

Europas Dichter und Denker zwischen den Kriegen – am Vorabend von Faschismus und NS-Barbarei

Wir, die Nachgeborenen, stehen oft vor der Frage, wie wir uns in der Zeit des Nationalsozialismus verhalten hätten, ob wir den Mut gehabt hätten, Widerstand zu leisten.

Herbert Lackner moralisiert nicht, sondern recherchiert, zitiert „Europas Dichter und Denker“, fragt und forscht, wie es dazu gekommen ist, wie es möglich war, dass Hitler und Mussolini so rasch an die Macht kamen.

Er geht vom ersten Weltkrieg aus und zitiert die schier unglaublichen Begeisterungsstürme so mancher Schriftsteller und Denker, von denen wir nie diese Kriegsbegeisterung vermutet hätten. Nur ein Beispiel von vielen: Der Maler Kokoschka meldete sich freiwillig zum Kriegsdienst und schrieb: „Wer immer zu Hause bleibt, wird sein ganzes Leben nicht fähig sein, diese Schande zu überwinden.“ (S 13)

Doch das Kriegsende lehrt alle vorher so Begeisterten, der Realität ins Auge zu schauen. Obwohl das Elend gr0ß ist, formieren sich bald schon die ersten Kriegstreiber. Man hat aus den Erfahrungen des ersten Weltkrieges nichts gelernt. Scharfsichtig wie durch ein Vergrößerungsglas blickt Lackner auf die Verästelungen der Ereignisse, die zur Machtübernahme Mussolinis in Italien und Hitlers in Deutschland führen. Punktgenau verfolgt er die Entwicklung in Österreich, wo sich die Sozialdemokraten und Christlichsozialen im hoffnungslosen Kampf so lange aufreiben, bis Hitler leichtes Spiel hat. Immer wieder fragt Lackner nach, wie sich die „Dichter und Denker“ zu dieser Entwicklung stellten, zitiert den politisch wissenden, aber sich unaktv verhaltenden Stefan Zweig, berichtet über Alma Mahler-Werfel, die die Gefahr klein redet und sie viel zu spät erkennt, weil sie sich mehr für ihre Männergeschichten interessiert. So schlittern Deutschland und Österreich zuerst in die WEltwirtschaftskrise 1929 und „danach ist nichts mehr so, wie es vorher war“ ( S133).

Ein glänzend recherchiertes, interessant geschriebenes Buch, das jedem Geschichtsinteressierten empfohlen sei!

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Sandra Petrignani, Die Freibeuterin. Das Leben der Natalia Ginzburg.

Aus dem Italienischen von Stefanie Römer

Natalia Ginzburg war Schriftstellerin, Verlegerin und hat sich politisch engagiert. Sie wurde 1916 in Palermo als Tochter des jüdischen Histologen Giuseppe Levi geboren. Die Familie übersiedelt bald nach Turin. Mit 19 beginnt sie kleinere Erzählungen zu schreiben und an der Turiner Universität Literaturwissenschaften zu studieren. 1938 heiratet sie den politischen Linken Leone Ginzburg, der gegen die Faschisten kämpft und in die Verbannung in die Abruzzen geschickt wird, wohin sie ihm mit den drei Kindern folgt. 1943 wird Leone G. verhaftet und stirbt 1944 im Gefängnis. Natalia arbeitet in dem Verlag Einaudi, schreibt unter größten Schwierigkeiten und materieller Not Texte, gibt sich nach einem Selbstmordversuch in psychiatrische Behandlung. 1950 heiratet sie den Literaturprofessor Gabriele Baldini, zwei Kinder kommen zur Welt, beide schwerst behindert. 1969 stirbt ihr Mann. Sie widmet sich intensiv dem Schreiben, engagiert sich politisch und wird 1983 als Parteilose für die Linke ins Parlament gewählt. Das Schreiben (Romane, Komödie und Übersetzungen französischer Autoren) füllt ihr Leben aus. Sie stirbt am 8. Oktober 1991 an einem schweren Krebsleiden.

Ein Leben mit viel Leid und Kampf ausgefüllt. Petrignani schildert uns Natalia als scheue, stille Frau, die aber tapfer und unbeirrt ihren Weg geht. Schreiben hilft ihr über die schweren Zeiten hinweg. Man erfährt viel über den Kampf der Linken gegen Mussolini, über die Gründung und Existenzkämpfe des Einaudi-Verlages, eine Ikone in der italienischen Literatur. Manches ist durchaus aus heutiger Sicht interessant. Leider überbordet Petrignani den Text mir Ausritten in die Esoterik, mit Nennung zahlloser Namen, die in ein namedropping ausarten. Eine Analyse der Schriften Natalia Ginzburgs fehlt leider. Die Autorin haftet sich auf die äußeren Spuren und verliert sich sehr oft darin. Und so kommt es, dass der Leser sich dabei ertappt, wie er Seiten überliest und das Ende der 600 Seiten starken Biografie ersehnt.

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John Grisham: Die Wächter. Heyne Verlag

Aus dem Amerikanischem von Bea Reiter, Imke Walsh-Araya und Kristiana Dorn-Ruhl

In der Stadt Seabrook in Florrida wird der weiße Anwalt Keith Russo erschossen. Es gibt weder Zeugen noch Motiv. Auf Grund erzwungener Falschaussagen wird Quincy Miller, Anghöriger einer schwarzen Mindertheit, zu lebenslangem Kerker verurteilt. Qincy wendet sich an „Guradians Ministries“ (Die Wächter), eine Organisation, die unentgeltlich Justizirrtümer aufklärt. Für sie arbeitet der Anwalt und Priester Cullen Post. Grisham schildert nun die Geschichte aus der Sicht des Ich-Erzählers Cullen Post. Minutiös kann der Leser jeden Schritt, jede Enstscheidung, jede Gefahr, in der Cullen Post schwebt, alle Fallstricke der Justiz miterleben. Manchmal überschwemmen die Recherchefakten den Erzählfluss und hemmen ihn, was zu einer gewissen Leserermüdung führt. Ein Problem, das sich in der Literatur oft stellt: Der Autor möchte alle ERgebnisse seiner Recherchen im Text unterbringen. Diese unfiltrierte Überhang der Fakten macht das Lesen mühsam.

Aber Grisham greift hier mit viel Engagement ein wichtiges Thema in den Vereinigten Staaten auf. Denn derzeit gibt es weit über tausend Häftlinge, die in Todeszellen sitzen. Viele davon unschuldig. Die wenigsten haben die Chance, ihre Unschuld zu beweisen, und nur wenige werden von Organisationen, wie im Buch beschrieben, frei gekämpft.

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Claudia Pineiro, Der Privatsekretär. Unionsverlag

Aus dem Spanischen von Peter Kultzen

Claudia Pineiro ist eine der bekanntesten Schriftstellerinnen Argentiniens. Nach einem Wirtschaftsstudium arbeitete sie als Journalistin und schrieb Theaterstücke und Kriminalromane. Immer geht es ihr um gesellschaftspolitische Anliegen.

In diesem Kriminalroman zeigt sie den Machtmissbrauch in der Politik auf – ein globales Thema, das in jedem Staat virulent ist. Aber besonders in Argentinien. Nur mit einem eiskalten Plan, einem ihm treu ergebenenTeam, das er sorgfältig ausgesucht hat, kann Fernando Rovira sein Ziel, Präsident von Argentinien zu werden, durchsetzen. Er gründet die „Pragma“ – Partei und es scheint, als ob sein Aufstieg unaufhaltbar sei. Als ihm einer seiner Berater einredet, ein Präsidentschaftskandidat muss unbedingt eine Frau und Kinder haben, gerät er in Schwierigkeiten. Er ist nämlich zeugungsunfähig. Dieses streng gehütete Geheimnis darf nie an die Öffentlichkeit kommen. Als seine Frau aber unbedingt ein Kind will, heckt er einen teuflischen Plan aus: Einer seiner Mitarbeiter soll mit seiner Frau so lange schlafen, bis sie schwanger wird. Ab da wird der Thriller spannend – bis dahin schleppt sich der Plot ein wenig mühevoll dahin. Dazu kommt noch eine eigenartige Geschichte von einem Fluch, der die Stadt La Plata betrifft, was ein wenig an den Haaren herbeigezogen wirkt.

Ein Thriller, der tief in die politischen Abgründe hineinleuchtet, aber einige Schwächen in der Konstruktion aufweist.

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Jan Jacobs Mulder: Joseph. Der schwarze Mozart. Unionsverlag.

Aus dem Niederländischen von Ulrich Faute

In der historischen Figur des adeligen Joseph Boulogne, Sohn eines weißen Plantagenbesitzers und einer schwarzen Sklavin, bündelt der Autor eine Vielfalt an interessanten Themen: Wie lebte ein Mischling in der Pariser Gesellschaft in der Zeit vor der Französischen Revolution? Welche politischen Strömungen führten zur Revolution? Und als wichtigstes Thema: Die Behandlung der Sklaven in den französischen und britischen Kolonien. Wie lang und hart war der Kampf gegen den Sklavenhandel!

ABER: Leider konzentriert sich der Autor allzu sehr auf die gesellschaftlichen Tändeleien des Chevaliers Joseph Boulogne. Wie er durch seine Fechtkunst und seinen Charme sich den Eintritt in die oberste Gesellschaft verschafft, wie er in französischen und englischen Salons durch seine geistreiche Konversation eine gute Figur macht und wie leicht er die Herzen der Frauen erobert, obwohl oder gerade weil er ein Schwarzer ist. Damit füllt Mulder mehr als die Hälfte des Romans. Die ausführlich geschilderten Fechtszenen und Salongespräche strapazieren ein wenig die Geduld des Lesers.

Mit dem Titel „Der schwarze Mozart“ erwecken Verlag und Autor geschickt das Interesse einer an Geschichte und Kultur interessierten Leserschaft. Joesph Boulogne war zwar ein begabter Komponist und Musiker, aber Mozart ist er nie begegnet und wurde auch nie mit ihm verglichen. Daher ist der Titel ein wenig irreführend.

Wirklich lesenswert sind die Abschnitte, in denen Mulder über die Hintergründe des Sklavenhandels schreibt. Boulognes Mutter Nanon war eine schwarze Schönheit. Sie wurde von schwarzen Sklavenhändlern auf ein Schiff verschleppt und von der Besatzung grausam gefoltert und missbraucht. Als Joseph Boulogne die leidensvolle Geschichte seiner Mutter erfährt, macht er sich auf die Suche nach den Männern, die sich an seiner Mutter vergangen haben. Zwei von ihnen kann er ausfindig machen und tötet sie. In der Folge beschließt er in den französischen Kolonien gegen den Sklavenhandel zu kämpfen.

Der Roman beginnt, als Joseph Boulogne im Kampf gegen die Sklavenhändler schwer verwundet wird. Aus der Todesnähe blickt er auf sein Leben zurück, erinnert sich an die rauschenden Erfolge bei den Frauen, als die Gesellschaft ihn als tollkühnen Fechter und erfolgreichen Musiker feierte. Das alles ist längst vergangen. Inzwischen hat die französiche Revolution in Frankreich gewütet, die Monarchie wurde abgeschafft, der Sklavenhandel verboten, aber Joseph weiß, dass er in den Kolonien noch lange blühen wird.

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Drago Jancar: Der Baum ohne Namen. Folio Verlag

Aus dem Slowenischen von Daniela Kocmut

In dem 2010 erschienenen Roman geht es, wie in allen späteren von Drago Jancar um die Frage der Schuld in Zeiten der Kriegswirren. 1940 war Jugoslawien ein Hort von wilden Kämpfen, Denunzianten, jeder gegen jeden: die Milizen, die Partisanen, die Deutschen, die Italiener, die Kommunisten, die Antikommunisten, die königliche Armee – sie alle kampften gegeneinander. Ein Chaos, durch das sich Drago Jancar hindurchschreibt. Erst in dem 2019 erschienenen Roman „Die Nacht, als ich sie sah“ gelingt es dem Autor, eine klare Erzähllinie durch dieses Chaos zu ziehen und tiefer in Motivationen, Schuld und Mythos zu dringen.

In „Der Baum ohne Namen“ scheint sich das Chaos noch nicht gelichtet zu haben, was man an der Erzählstruktur merkt. Der Autor wechselt fast von Seite zu Seite Zeiten, Ebenen der Erzählungen, mischt die Personen und Identitäten. Das macht das Lesen anstrengend und strapaziert die Geduld.

Im alten Slowenien gab es eine Legende von einem geheimnisvollen Baum. Wer auf den klettert, der kann sich in eine andere Zeit und in einen anderen Ort versetzen. Dem Archivar Janez Lipnik geschieht so: Während er die Geschichte eines Frauenaufreißers liest, stürzt er quasi selbst mitten in dessen Leben hinein, in die Zeit von 1940. Der Kern der Geschichte, die Ermordung von tausenden Menschen, die mit Italienern oder Deutschen zusammengearbeitet haben und dafür im Wald erschlagen wurden, geht fast unter in dem steten Wechsel der Zeiten und Orte. Wer sich wirklich für Slowenien im 2. Weltkrieg interessiert, dem empfehle ich mit gutem Gewissen „Die Nacht als ich sie sah“.

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Peter Balko, Zusammen sind wir unbesiegbar. Zsolnay Verlag

Aus dem Slowakischen von Zorka Ciklaminy

Unser Lesekreis war empört! Wie kann man diesen Text, der nie den Namen „Roman“ verdient, drucken! Dann noch mit einem verführerischen Cover versehen, das zwei Buben zeigt, die friedlich aufs Wasser oder über eine Landschaft schauen. Unschuldig, lieb. Und auf der Rückseite des Covers heißt es: „Peter Balko erzählt unterhaltsam und sehr warmherzig die Geschichte von Tom Sawyer und Huckleberry Finn.“ Mark Twain würde aus dem Grab heraussteigen und gegen den Vergleich wüten.

Das sind keine Lausbubenstreiche, die der dicke und feige Leviathan und der Draufgänger und Raufer Kapia da inszenieren. Das sind Gewalttaten gegen alle und alles, gegen Tiere und Menschen, grausam und zynisch. So krank sind keine Kinder. Der Aufbau des „Romans“ ist wirr, man kennt sich nicht aus. Peter Balko, wie so viele andere Jungautoren auch, gebärdet sich als Schreibrevoluzzer. Seine Figuren, vor allem der Draufgänger Kapia, wälzen sich mit Vergnügen in verbalen und handgreiflichen Grauslichkeiten und Grausamkeiten. Balko möchte sich als Antinormschreiber gerieren, übersieht aber dabei, dass er genau damit in die Falle der Marktkonformität tappt. Denn so wie er schreiben inzwischen schon viele. Dass er mit diesem Text auch einige Preise einheimste, ist einerseits unverständlich, andrerseits scheint die Preisvergabe auch einer gewissen Marketingstrategie zu unterliegen, die da heisst: Je wilder, ungehobelter Wortwahl und Text sind, desto eher ist das „Werk“ preiswürdig.

Ich nenne so einen Text „go and stop“! – Ich beginne zu lesen, nach einer Seite lege ich ihn angewidert weg, da ich dem Text nicht das geringste Interesse entgegenbringen kann. Und beginne Tage später von Neuem. Mit demselben Ergebnis. Nun kann man sagen – meine Schuld. Warum habe ich das Buch gekauft?! – Ja, eben wegen des verführerischen Coverbildes und wegen des Klappentextes -s.oben.

Frage: Glaubt der Verlag, dass eine solch total falsche Fährte für das Image des Verlages gut ist? – Das ist eine Strategie, die nach hinten losgeht. Denn die Leser werden beim nächsten Buch, das der Verlag herausgibt, misstrauischer gegen Cover und Klappentext sein.

Bitte mehr Ehrlichkeit in der Gestaltung des Covers und im Klappentext. Schönfärberei verärgert!

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Nava Ebrahimi: Das Paradies meines Nachbarn. btb-Verlag

Nava Ebrahimi ist gebürtige Iranerin. Ihre Eltern verließen nach der Revolution, als absehbar war, wohin die politische Entwicklung gehen werde, das Land. Nach ihrem Journalismus und Volkswirtschaftslehre-Studium in Köln lernte sie ihren Mann, einen Astrophysiker, kennen und zog mit ihm nach Graz, wo sie seither lebt und arbeitet.

In dem Roman „Das Paradies meines Nachbarn“ geht es vordergründig um den Exiliraner Ali Najjar, der in Deutschland als Topdesigner Karriere macht. Aber das Hauptthema ist der Iran-Irakkrieg, in dem die Mullhas 13- und 14-jährige Buben an die Front schickten. Sie versprachen ihnen, nach dem Märtyrertod sofort ins Paradies zu kommen. Dass diesem Versprechen so viele Eltern trauten und ihre Kinder sogar gerne und freudig in den Krieg und in das Grauen schickten, ist das eigentlich Erschütternde an dem Roman. Die Buben steigen in den Bus, der sie an die Front bringen wird, und erträumen sich ein Paradies nach ihren Wünschen, fragen ihren Busnachbar kichernd und aufgeregt, welches Paradies er sich so vorstellt. Sie wissen nicht, dass sie als Minensucher ins Feld geschickt werden, wo ihre Leiber zerfetzt werden.

Wer sich weigerte, diesen Wahnsinn mitzumachen, den verfolgten die Nachbarn mit Verachtung und die Mullhas mit Strafen.

Ali Najjars Mutter ertrug den Gedanken nicht, ihren Sohn in den sicheren Tod ziehen zu lassen, und übergibt ihn einem Fluchthelfer. Auf Umwegen gelangt er nach Deutschland, wo er mit viel Kaltblütigkeit Karriere macht. Nach dem Tod seiner Mutter erfährt er in ihrem letzten Brief, dass ein anderer Ali für ihn in den Krieg ziehen musste. Was diese Schuld ausmacht, versucht Nava Ebrahimi im zweiten Teil des Romanes auszuloten.

Ein wichtiges Buch – wäre da nicht der sprunghafte Erzählstil, der die Orientierung erschwert. Wer spricht, denkt gerade? Wie in einem Thriller geistert die Figur eines anderen Ali durch den Roman. Die Auflösung dieses Rätsels hält den Leser bei der Stange und gibt dem Roman einen Spannungszug, sodass man trotz aller Lesehürden, die die Autorin ein- und aufbaut, bis zum Ende dran bleibt.

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Manfred Bruckner, In mir das Dorf. Verlag der Bibliothek der Provinz

Nach Innerhofers „Schöne Tage“ gab es lange keine Romane über das Leben auf dem Land. Nach einer Welle von Familiengeschichten aus dem ehemaligen Ostdeutschland, dem ehemaligen Russland oder auch Georgien vermerke ich nun eine Rückwendung zu einer Literatur über das Leben in österreichischen Landen. Peschkas jüngster Roman „Putzt euch, tanzt, lacht“ oder Monika Hellers „Bagage“ sind nur einige Beispiele.

ABER: Selten war eine Geschichte so identisch, so glaubwürdig und deshalb auch so intensiv, wie die Manfred Bruckners. Er schließt in der Wirksamkeit an Innerhofer an: Wuchtig, identisch, unprätentiös.

Es ist anzunehmen, dass Manfred Bruckner seine eigene Geschichte hier niederschrieb. 1968 in einem kleinen Dorf im Ybbstal geboren, dort in die Schule gegangen, dann nach Wien zum Studieren, danach in die Welt gezogen, erinnert sich der Autor an Szenen aus seiner Kindheit am Bauernhof. Er nennt das Kind den Ongabaun Fredl. Ohne Verklärung, aber auch ohne Anklage schildert er die raue Art miteinander umzugehen. Oft sind es der Mangel an Zeit – außer Arbeit und Wirtshaus kennen die Männer nichts – ,aber auch die Sprachlosigkeit, die die Menschen so hart erscheinen lassen. Man nimmt hin, wenn der Lehrer Kinder „watschn“ oder nach ihnen mit dem Schuh wirft. Man nimmt hin, wenn sich Bauern aus Not und Verzweiflung umbringen. Der Tod ist allgegenwärtig. Aber auch der Humor! Denn Bruckner versteht es, selbtst den düsteren Seiten eine gewisse Gelassenheit und daraus resultierende Heiterkeit zu unterlegen. Der örtliche Dialekt gibt den Erzählungen nochmals eine extra Dimension. Da muss sich der Leser schon anstrengen, den zu verstehen. Am besten, man liest manche Dialektpassagen laut.

Geschickt verwebt Manfred Bruckner die Erlebnisse seiner Kindheit mit denen aus seinem späteren Leben. Wenn er als Student durch die Lande zieht, dann als „Gstudierter“ bis nach Ostasien kommt, schräge Erlebnisse verbinden sich mit skurrilen aus seiner Kindheit.

Ein gelungener Roman, der so angenehm aus der Flut der jetzigen Modewelle aus dem ländlichen Raum hervorsticht. http://www.bibliothekderprovinz.at