Aus dem Italienischen von Petra Koch. Bastei Lübbe

Angemüdet von so manchen mühsam zu lesenden Neuerscheinungen, besonders von den „Debütromanen“, in denen der/die Schriftsteller/in seine/ihre Sprachakrobatik unter Beweis stellt, griff ich zur Belletristik. Der italienische Autor Luca Di Fulvio versteht sein Handwerk: Er kann erzählen! Eine Gabe, die immer seltener wird! Mitreißend schildert er New York und Hollywood aus dem Blickwinkel eines Jungen, der durch Witz, Intelligenz, Humor und Empathie sich aus dem tristen Gangstermilieu der 1920er Jahre emporarbeitet. Eine wahre Leseerholung!!!


Verlag und Copyright: Kremayr & Scheriau

Ein brennheißes Thema: Wie weit darf Überwachung gehen, wie weit wird sie in Zukunft gehen und die Individualität des Einzelnen stören, gar zerstören.

Aktueller denn je! Leider hat die Autorin ihren allzu spürbaren poetischen Ehrgeiz dem Thema untergeordnet. Es scheint, als wollte sie vorzeigen, was alles sie in diversen Literaturaufenthalten und Seminaren bezüglich „neuer Roman, junge Literatur“ gelernt hat.

Nicht von ungefähr ziert Botticellis „Primavera“ das Cover: Die beiden Protagonisten Anna – eine Schriftstellerin und Schreibinsegnantin – und ihr Gefährte Adrian – ein Werbetexter – üben sich im Zusammensetzen eines Puzzles eben dieses Bildes, das wohl symbolisch für die Art zu schreiben steht: Viele kleine Teile, die nur mühsam ein Ganzes geben.Ich rate dem Leser, zuerst die Inhaltsangabe auf dem Buchumschlag zu lesen, um sich wenigstens einigermaßen an einem inhaltlichen Faden festhalten zu können. Und dann sich mit Geduld und Leseausdauer zu rüsten. Denn obwohl das Werk nur 187 Seiten umfasst, ist es mühselig zu lesen. Die Autorin verliert, selbstverliebt in ihre Bilder und Verschränkungen, das Thema, triftet ab, fügt ein, dreht ab.

Der Plot ist einfach erzählt: Adrian bekommt von seiner Werbefirma den Auftrag, im Prototyp eines Smart Home Hauses zur Probe zu wohnen und es auf eventuelle Mängel zu testen. Die absolute Unfreiheit im Handeln lähmt ihn, er ist froh, wenn er nach einigen Tagen diesem Überwachungskerker entfliehen kann.

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Wagenbach Verlag. Aus dem argentinischen Spanisch von Rike Bolte.

Lucía Puenzo, argentinische Journalistin und Filmemacherin, griff in dieser Romanfiktion ein heißes Eisen, nämlich die engen Beziehungen Argentiniens zu den nach 1945 geflohenen Nazis, auf. Dem Diktator Juan Perón waren sie mehr als willkommen. So auch Josef Mengele, der als Arzt in Auschwitz Millionen Menschen zwangssterilisiert, mit unmenschlichen Versuchen zu Tode gequält und Abertausende in die Todeskammern geschickt hatte. Er lebte nach seiner Flucht aus Deutschland nachweislich bis 1959 unbehelligt in Buenos Aires. Gewarnt von Freunden, dass man eventuell nach ihm suchen könnte, reist er in den Nobelort Bariloche im Süden Argentiniens. Auf der Reise dorthin schließt er sich einer Familie an, deren kleinwüchsige Tochter Lilith ihn fasziniert. An ihr und der schwangeren Mutter beginnt er mit seinen Experimenten, injiziert skrupellos beiden Hormone, die schwere körperliche und seelische Schädigungen verursachen. Mit dem Vater frönt er einer seltsamen Leidenschaft: Sie erzeugen Puppen, die rein arische Gesichtszüge tragen. Sie sollten später zu heilig gehaltenen Symbolen der Nationalsozialisten in Südamerika werden.

In diesem grausam-gruseligen Kontext kann Mengele seine Untersuchungen und Versuche in Ruhe fortsetzen. Seine Sicherheit zerbröselt, als er von Eichmanns Verhaftung erfährt und ihn eine Jüdin aufspürt, die er im KZ Auschwitz zwangssterilisierte. Doch bevor sie ihn dem jüdischen Geheimdienst melden kann, wird sie in einer Gletscherspalte tot aufgefunden. Mengele bereitet in aller Ruhe seine Abreise vor. Zurück bleibt Lilith, die ihr ganzes Leben lang an dieser schrecklichen Begegnung leiden wird.

In einem nüchtern-präzisen Stil schildert Puenzo den Charakter Mengeles. Gerade in einer scheinbaren Alltäglichkeit wird das Monströse in seinem Charakter um so erfahrbarer. Mengele, nützt die Schwärmerei Liliths skrupellos aus, bezaubert das hilflose Mädchen, vergewaltigt die Ahnungslose. Finanziell von den in Bariloche lebenden Nazis unterstützt, kann er ein bürgerliches Leben leben. Und wird es auch bis zu seinem Tod weiterführen können. Er stirbt 1979 in Brasilien eines natürlichen Todes. Aber diese Angaben sind keineswegs gesichert.

Lucia Puenzo: Der Fluch der Jacinta Pichimanahuida.

Verlag Wagenbach. Aus dem argentinischen Spanisch übersetzt von Rike Bolte.

Wer von Lucia Puenzo den spannenden und sehr gut geschriebenen Roman über ausgebeutete Straßenkinder in Buenos Aires und Uruguai kennt („Die man nicht sieht“), der wird  nach der Lektüre  über Jacinta P.überrascht und auch enttäuscht sein. Der Fluch der J.P. ist  eine wahre Geschichte, die die Autorin romanhaft verarbeitet hat. Wieder geht es um ausgebeutete Kinder. Für eine Fernsehserie über eine Lehrerin und ihre Schüler werden Kinder gecastet. Die genommen werden, denen wird ein zukünftig eigenständiges Leben verwehrt, weil sie immer die Figur aus dem Stück bleiben. Pepino und Twiggy gehörten zu ihnen. Was auf den ersten Blick als Glück erschien, entpuppt sich als Fluch. Der Drehbuchautor lässt die Kinder wie Marionetten agieren, immer seiner Schreibe gehorchend. Twiggy aber wehrt sich, wird drogensüchtig.

Das Thema wäre spannend. Aber leider verpatzt Lucia Puenzo diesmal ihre Chance. Aus dem aufregend-wichtigen Thema wird ein Plot, der in alle Richtungen zerfließt. Erzählzeitebenen verschwimmen, Figuren verlieren sich im Nirgendwo des Textes. Der Leser (sprich ich) gab es auf S 107 auf, dem wirren Schicksal der einzelnen Kinderschauspieler zu folgen

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Volker Hage: Die freie Liebe. Luchterhand Verlag

Volker Hage ist ein Literaturmensch, forscht, lehrt und schreibt über Literatur. Seine Romanbiografie über Arthur Schnitzler „Des Lebens fünfter Akt“ ist feinsinnig und einfühlsam geschrieben. Also wurde ich neugierig und las „Die freie Liebe“. Darin verarbeitet der 1949 geborene Autor wohl vieler seiner eigenen Erfahrungen über die sexuellen Freiheiten der späten 60er und 70er Jahre, die sich der Jugend plötzlich eröffneten. Gerade hatte sich Wolf aus einem engen Elternhaus und von einer frustrierenden Beziehung befreit, ist  nach München gezogen, um zu studieren, da erlebt er in einer WG „die große sexuelle Befreiung“ – er verliebt sich hals über kopf in die nervige Lisa, die ihrerseits mit dem toleranten Andreas verlobt ist. Es hat den Anschein, als ob die Dreierbeziehung funktionieren könnte. Aber eben nur könnte.

Das wirklich Interessante an diesem Buch sind nicht die ausführlichen Beschreibungen der sexuellen „Tätigkeiten“, sondern die Hinweise auf Filme und Bücher, die in den 70ern aktuell waren. Der Rest ist langweilig und nicht immer glaubwürdig. 

http://www.randomhouse.de/Verlag/Luchterhand-Literaturverlag/2400.rhd

Francesca Melandri, Alle außer mir.

Aus dem Italienischen von Esther Hansen. Wagenbach Verlag

Francesca Melandri ist eine gute Erzählerin, die geschichtliche Fakten geschickt mit einem romanhaften Geschehen verknüpfen kann, wie etwa in dem Roman „Eva schläft“.Das Rezept wendet sie auch diesmal an. Aber sie läuft in die Falle, die sie sich selbst gestellt hat: Sie kann von dem eifrig zusammen getragenen historischen Fakten über die Geschichte Äthiopiens, die Zeit der italienischen Kolonialherrschaft, über die Politik der Ära Berlusconi, über die aktuelle Flüchtlingspolitik auf kein erforschtes oder erarbeitetes Detail verzichten. Streckenweise liest sich der Roman wie eine historische Dokumentation. Um es dem Leser besonders schwer zu machen, gibt es den Namen der Hauptperson gleich fünfmal, aber immer ist es wer anderer. Dazu verschränkt sie die Zeiten und ändert den Erzählstil – alles insgesamt sehr mühsam zu lesen.

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Juli Zeh ist Meisterin im Finden aktueller Themen. In ihrem vorletzten Buch „Unterleuten“ legt sie ihren Schreibfinger auf das Leben in einem Dorf im ehemaligen Ostdeutschland, schildert tief in die Seelen der Bewohner schürfend deren Abgründe.

In ihrem neuesten Roman „Neu Jahr“ scheint alles zu passen: Nette Familie, Vater, Mutter, zwei Kinder. Vater Henning beschließt über Weihnacht ein Ferienhaus in Lanzarote zu buchen. Alles perfekt: Wetter, Haus und Insel. Bis sich Henning aus einem ihm unerklärlichen Trieb heraus früh am Morgen aufs Fahrrad setzt und nach Femès hinaufradelt. (Kennt Juli Zeh den wunderbaren Roman „Mararía“ von Rafael Arozarena? Er spielt  in Femès der 1950er Jahre, als Insel und Dorf noch im dunklen Mittelalter lebten) Oben angekommen labt Lisa, eine alleinstehende Frau und Künstlerin, den total Erschöpften. Ein Brunnenschacht, bemalte Steine im Ausstellungsraum rufen in ihm Erinnerungen aus der Kindheit wach. Er war schon einmal in diesem Haus, hat schreckliche Dinge erlebt, von denen er bis ins Erwachsenenalter Albträume und unerklärbare Erregungszustände hat. Der Sommer mit seinen Eltern und seiner Schwester steigt in seiner Erinnerung auf. In diesem Haus hat sich Fürchterliches abgespielt! Vor den Augen des Lesers entwickelt July Zeh einen Seelenkrimi, spannend wie ein echter Thriller.

Großartig, wie Juli Zeh die Zaubermacht der Insel Lanzarote mit unserer heutigen, nüchternen Welt verknüpft. Auf der Vulkaninsel kommen im Menschen Kräfte hoch, wie durch Magma ins Bewusstsein getrieben. Das kann befreiend sein für denjenigen, der die Erkenntnisse akzeptiert, aber auch bedrohlich und alle Kraft raubend.

Juli Zeh einmal ganz anders! Absolut lesenswert.

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Aus dem Slowakischen von Mirko Kraetsch. Tropen Verlag

Michal Hvorecky, geboren 1976 in Bratislava, ist Autor, Journalist und engagierter Kämpfer für die Pressefreiheit und gegen antidemokratische Bestrebungen. In dem Roman „Troll“ führt er uns die allzu nahe Zukunft vor Augen: Die EU – lahme Ente, die Trolle im Internet beherrschen das politische Geschehen im „Reich“ – eine Anspielung auf Russland oder auch andere Diktaturen. „Trolle“ agieren im Internet ohne Identität, verbreiten Hass und Unwahrheiten, die emotional geladen und so geschickt getarnt und formuliert sind, dass die Community sie für wahr hält. Nachrichten dieser Art verbreiten sich im Netz in unglaublicher Schnelligkeit und können Wahlen manipulieren und Staaten destabilisiere

Der namenlose Erzähler lernt in einer Heilanstalt die schwer traumatisierte, drogenabhängige und hoch intelligente Johanna kennen. Die beiden werden Freunde und beschließen gegen das autoritäre System und die Lügen im Netz zu agieren. Sie lernen sich als Trolle im Internet zu bewegen, torpedieren die Zentrale der Trolle, setzen sie außer Kraft und gründen ein Team von Freiwilligen, die alle Lügen des Staates aufdecken und in den Schulen Medienerziehung einrichten, damit die Jugend auf Propaganda und Lügen richtig reagieren lernt. Doch der „Sieg“ ist fragil, immer wieder wird Johanna angegriffen. Der Erzähler hat sich einer Gesichtsoperation unterziehen müssen, weil der Mob seine Identität im Netz aufgedeckt hat und sich ganz aus dem Internet zurückgezogen.

Was dem Leser  vielleicht als übertrieben oder als ferne Zukunft erscheint, ist beinharte Realität, die schon in den Startlöchern lauert. Ein Roman, der allen, wirklich allen, die noch an eine bourgeoise Sicherheit glauben, dringend zu empfehlen ist. Sicherheit ist nirgendwo, das ist die bittere Conclusio des Romans. Er erinnert in seinem Bedrohungsszenario an Houellebecqs „Unterwerfung“. Das rasante Tempo und der messerscharfe Stil, in dem Michal Hvorecky erzählt, entspricht ganz der Gefährlichkeit des Geschehens. 

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Margret Greiner

Margret Greiner ist Expertin für Künstler-Romanbiografien. Dank intensiver Recherchen und einer feinen Feder veröffentlichte sie bereits einige Porträts interessanter Frauen, wie Emilie Flöge, Charlotte Salomon oder Margrethe Stonborough-Wittgenstein.

Nun also Sophie Taeuber-Arp, die wenig bekannt ist und doch zu ihrer Zeit großen Einfluss auf die Dada-Bewegung, die Anerkennung des Kunsthandwerkes als Teil der Kunst und die Strömung des Konstruktivismus hatte.

Bei der Lektüre des Buches steigt der Respekt vor der Autorin! Mit welcher Akribie und Forschungsfreude sich Margret Greiner in eine doch wenig bekannte Welt eingelesen, Briefe „ausgegraben“ und die verschiedenen Verbindungen unter bekannten und weniger bekannten Künstlern aufgezeigt hat, das gleicht wertvoller wissenschaftlicher  Grundsatzarbeit. Dennoch liest sich das Buch nicht wie eine trockene wissenschaftliche Abhandlung, da Margret Greiner mit viel Empathie immer nahe am Leben von Sophie Taeuber-Arp dranbleibt. Allerdings ermüden manchmal die zahlreichen  Namen von Künstlern, die heute vielleicht nur mehr Spezialisten der Szene bekannt sind.

Sophie Taeuber stammte aus Appenzell in der Nordostschweiz. Sie arbeitet von 1916 – 1929 als Lehrerin an der Kunstgewerbeschule in Zürich, wo sie sich für die Aufwertung des Kunstgewerbes aktiv einsetzt und gegen die Vereinnahmung durch Kitschproduktionen wettert. Vielseitig und neugierig wie sie ist, tanzt sie im „Cabaret Voltaire“  und erregt großes Aufsehen. Bald lernt sie den Maler, Lyriker, Dadaisten, Konstruktivisten und Surrealisten Hans Arp kennen. Trotz aller Differenzen im Lebensstil werden die beiden heiraten und gemeinsam in der Avantgarde des 20. Jahrhunderts tonangebend sein. Ihr Abscheu vor dem Hitlerregime zwingt beide nach Südfrankreich zu fliehen, wo sie bei Freunden in Grasse Unterschlupf finden. Doch bald müssen sie auch von dort fliehen. Sie erhalten Visa für die Schweiz, wo Sophie 1943 an einer Kohlenmonoxydvergiftung stirbt.

Margret Greiner hebt in dieser Romanbiografie die vielseitige künstlerische Kraft von Sophie Taeuber-Arp hervor. Sie war nicht nur eine exzellente Lehrerin, eine überaus begabte Tänzerin und Innenarchitektin, sondern auch eine konsequente Malerin. Ihre abstrakten Bilder fanden Anerkennung im Kreis der Konstruktivisten und sind heute in verschiedenen Museen zu bewundern.

Volker Hage
Des Lebens fünfter Akt
Luchterhand Verlag

Für alle, die sich für die Literatur um und nach 1900 und für Arthur Schnitzler interessieren, ist dieses Buch ein MUSS. Volker Hages biografischer Roman über Schnitzlers drei letzten Lebensjahre ist ein Seelenporträt vom Feinsten. Obwohl der Autor bis in die tiefsten Gedanken Schnitzlers dringt, wird er nie gefühlig, sondern wahrt immer die notwendige Distanz.

Als Schnitzler die Nachricht vom Selbstmord seiner Tochter Lili erhält, verändert sich für ihn alles. Er fühlt das Alter nahen, liest und archiviert die Tagebücher der Tochter, erleidet dabei ihre seelischen Qualen noch einmal mit .Er muss sich eingestehen, dass er zu wenig  auf die Zeichen achtete, die ihm einen Hinweis auf ihre seelische Instabilität hätten geben können.  Die Trauer hüllt ihn ganz ein. Wären da nicht die Frauen um ihn herum, die ihn quälen, er würde sich nicht mehr spüren. Seine Exfrau Olga möchte wieder zu ihm zurück, die Möchtegernschriftstellerin Clara Pollaczek quält ihn mit Eifersuchtsanfällen und Selbstmordversuchen. Ein wenig Ruhe und Abwechslung bietet ihm Hedi Kempny, die ihn mit  offenherzigen Erzählungen über ihre Erotikabenteuer von seiner Trauer ablenkt. Das Leben wird erst wieder erträglich, als er sich in die junge Suzsanne Clauser verliebt. Sie wird seine Werke ins Französische übersetzen, beide erleben eine tiefe Liebe füreinander, getragen vom  beiderseitigen Verstehen. Volker Hage wagt es sogar, die allerletzten Minuten Schnitzlers, das Herannahen des Todes, bis zum endgültigen Ende zu beschreiben. Ein Wagnis – aber es darf sein, weil es in mitfühlender Distanz geschieht,

Bei aller spürbaren Bewunderung für Schnitzler verfällt der Autor nicht in unkritische Bewunderung. Indem er Schnitzler nüchtern Bilanz über seine vergangenen Amouren ziehen lässt, zeigt er auch die eitle, verantwortungslose Seite des Dichters auf. Wie viele Frauen hat er erobert und gleich vergessen, wie viele unglücklich gemacht! Aber er bereut nichts, sondern bemitleidet sich selbst als ein von den Frauen Umkreister, Getriebener. Bei diesen Rückerinnerungen an gewesene Eroberungen weht ein leiser Hauch von Ironie durch die Zeilen. Das ist gut so und notwendig, damit eine gewisse Objektivität des Autors manifestiert wird.

Lea Singer:
Die Poesie der Hörigkeit.
Hoffmann und Campe Verlag

Man erkennt den Stil der Autorin nicht wieder. Wer etwa die Romanbiografie „Konzert für die linke Hand“ über Paul Wittgenstein gelesen hat, der glaubt es kaum, dass „Die Poesie der Hörigkeit“ von derselben Autorin stammt. Sprachlich absichtlich bis manchmal zum Unverständnis verknappte Satzstrukturen machen dem Leser Mühe, die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Sätzen zu verstehen. Dazu kommen sprachliche Unsinnigkeiten, wie etwa „Benn hatte mit Freiraum geaast“. Man hat den Eindruck, Lea Singer hat zu viel Gedichte von Gottfried Benn gelesen und wollte es ihm an Vieldeutlichkeit bis zur Undeutlichkeit gleichtun. Nur: Gottfried Benn schrieb Gedichte, Lea Singer eine Romanbiografie.

Das Thema: Die Tochter von Carl und Thea Sternheim – Mopsa genannt – verliebt sich schon als Kind in den hässlich – vierschrötigen Gottfried Benn, Arzt und damals in den 20er Jahren schon berühmten Dichter. Doch der Haken ist der: Auch ihre Mutter liebt ihn – mit mehr Erfolg als Mopsa. In diesem ewigen Dreiecksverhältnis spielt sich das Leben ab. Mopsa ist besessen von Benn. Auch als er sich den Nazis anbiedert, sie und die Mutter nach Pars fliehen, sie in ein Lager deportiert wird, dort lebend wieder herauskommt, hat sie nur eines im Sinn: Benn zu sehen und von ihm auch nur ein einziges Mal zu hören: Ich liebe dich. Der hat jedoch andere Frauen, heiratet eine bequeme Ilse, ist nach dem Ende der Nazizeit wieder hoch gelobter Dichter. Mopsa stirbt an Krebs, ohne von ihm ein Liebeswort gehört zu haben.

In jedem Sinn – schwere Kost.

Dennis Lehane: Der Abgrund in dir
Aus dem Amerikanischen von Steffen Jacobs und Peter Torberg. Diogenes Verlag

Der Autor packt in den 500-Seiten starken Krimi alles hinein, was gerade im Krimi- und Belletristikgenre en vogue ist:

1. Die Protagonistin Rachel geht nach dem Tod ihrer Mutter auf Vatersuche – nicht sehr logisch, warum nicht zu Lebzeiten der Mutter.? Das Waisenkind, der Jugendliche ohne Vater – ein beliebtes Motiv in der amerikanischen Literatur.

2. Ihre Vatersuche dauert bis auf Seite 300 – da beginnt  der Leser die Hauptfigur  als sehr nervig zu empfinden und steigt schon teilweise aus.

3. Natürlich darf das in der Belletristik überstrapazierte Motiv „Frau sucht Mann“ nicht fehlen. Rachel findet sehr schnell einen Ehegespons und ist auch sehr schnell wieder geschieden.

4. Rachel macht Karriere. Als berühmte Fernsehreporterin berichtet sie über das große Erdbeben in Haiti, wird aber bald von dort abgezogen, weil ihre Reportagen zu „gefühlig“ sind. Sie selbst kann das Elend, das sie gesehen hat, nicht vergessen, fühlt sich irrationaler Weise für den Tod eines Mädchens schuldig und erleidet so heftige Panikattacken, dass sie sich nicht mehr aus dem Haus traut. Die Panikattacken werden ausführlich – zu ausführlich – beschrieben.

5. Der Leser fragt ungeduldig: Wann beginnt der Krimi?

6. Wie so das Leben spielt: Rachel verliebt sich in einen charismatischen Mann, die beiden heiraten und führen eine glückliche Ehe. Noch immer kein Krimi, aber der Leser beginnt zu ahnen, dass das Glück bald bröckeln wird.

7. Ab Seite 377 wird es wüst – die Welt um Rachel zerbröselt, ist ihr Ehemann ein Krimineller, ein Bigamist?  2 Kriminelle dringen in die Wohnung ein, schießen Rachel ins Rückenmark. Da heißt es: „Die Knochensplitter trieben in ihrem Blutkreislauf“ – doch Rachel marschiert unversehrt aus der Wohnung! Wie geht das????

8. Es kommt noch wüster: Rachel erschießt ihren Ehemann und wirft die Leiche ins Meer. Doch oh Wunder, als sie den Leichnam mit Steinen beschweren will, ist er pfutsch. Denn er lebt….Da spätestens verließ ich die Story.

Petra Piuk: Toni und Moni. Verlag Kremayr & Scheriau

Heimatromane, Dorfgeschichten haben eine lange Tradition. Zu den besten zählen wohl die Novellen von Marie Ebner von Eschenbach. Sie war eine genaue Beobachterin und kritisierte vor allem die Herzlosigkeit der Oberschicht. Einen liebevoll-verständnisvollen Blick hatte sie für die „kleinen Leute“, deren Nöte sie nur allzu gut verstand. Einen ähnlichen Blick mit Herz und Verstand und wacher Kritik für Strömungen des aufkommenden Nationalsozialismus im ländlichen Österreich hat Theodora Bauer in ihrem Debütroman „Chikago“ (sic!). Juli Zeh wiederum entwirft in ihrem 600 Seiten starken Roman „Unterleuten“ ein kritisches Bild eines Dorfes, das die Zeiten der DDR bis heute nicht vergessen konnte. Mord, Bestechung, Spekulation und Neid sind an der Tagesordnung.

Nun also „Toni und Moni“. Kremayr & Scheriau hat es sich zur dankenswerten Aufgabe gemacht, junge Autoren und Autorinnen besonders zu fördern. Petra Piuk ist eine davon. Sie stammt aus dem Südburgenland und kennt „ihre Pappenheimer“  Im Untertitel „Anleitung zum Heimatroman“ wird die Stoßrichtung deutlich: Mit Witz, Humor und Satire nimmt sie ländliches Denken, Handeln aufs Korn. Da werden Familienidyllen zerstört – : „wie ich der Mama den letzten Verstand raubte“. Seite für Seite wird die Idylle des fiktiven Dorfes Schöngraben an der Rauscher aufgebaut und sukzessive demontiert. Ein Mord geschieht, ohne ihn kommt ja keine Dorfgeschichte aus!  Die Leiche wird zerstückelt und auf dem Viehfriedhof des Dorfes verscharrt. Die Moni heiratet den Toni, bekommt das Kind. Dann vergiftet sie den Toni, erstickt das Kind und erschießt alle Dorfbewohner. Die Heimatidylle als volles Fiasko! Man lacht, weil die Autorin sich in schrägen Ideen überschlägt, dauernd die Erzählperspektiven ändert und überhaupt wie der Puck im Sommernachtstraum ihr Unwesen im Dorf und im Roman treibt. Wer finsteren Humor mag, dem sei das Buch empfohlen.

Verena Stauffer: Orchis. Verlag Kremayr&Scheriau

Ein Romanerstling, der einiges verspricht., Wenn die Autorin einmal ihre ausufernde Sprachphantasie in etwas kontrolliertere Bahnen lenkt, dann darf man in Zukunft einige aufregende Texte von ihr erwarten.

Deutschland, Mitte des 19. Jh., im Erzgebirge. Dort wohnt der Orchideenforscher Anselm – noch immer bei seinen wohlhabenden Eltern. Er ist von der Idee besessen, die seltene Orchidee, den „Stern von Madagaskar“, als Erster zu finden und zu botanisieren.  Dabei treiben ihn wissenschaftliche Neugier und die Sucht nach Ruhm an. Also bricht er zu der Insel im Indischen Ozean auf. Auf dem Schiff findet er einen Interessensgenossen, den Engländer Lendy. Gemeinsam starten sie die gefährliche Expedition in den Osten der Insel. Dabei hat der Leser genügend Gelegenheit, die blühende Phantasie der Autorin zu bewundern. Wie sie die Insel in aller Exotik, Buntheit und Gefährlichkeit schildert, das zeugt von eindrucksvoller poetischer Kraft  Allerdings werden einzelne Passagen ermüdend lange ausgedehnt – eine Kritik, die für das ganze Buch gilt-. Anselm findet wie in einem totalen Sinnesrausch die Orchideen in der vollen Blühphase, dazu noch die seltene Sobralia, die eine ganze Wiese bedeckt. Er verfällt in einen totalen Rausch, den Lendy nicht nachvollziehen kann. Mühevoll kehren sie mit den seltenen Exemplaren beladen in den Hafen zurück und besteigen das Schiff, das sie nach Deutschland zurückbringt. Auf dem Schiff gehen einige wertvolle Exemplare der Orchideen verloren und Anselm wird durch den Schock schwer nervenkrank. Nach der Entlassung aus der Nervenheilanstalt und einer kurzen  Zwischenzeit als Professor an einer deutschen Universität fährt er zu einem Orchideenkongress in London, wo ihn geheimnisvoller Botaniker auf die Fährte einer seltenen Orchidee in China setzt. Dass das alles nur eine Finte war, um Anselm zu blamieren und aus London wegzulocken, erfährt er zwar später. Doch da ist er schon auf dem Weg nach China. Dort gelangt er in ein abgelegenes „Färberdorf“, wo die Bewohner aus einer seltenen Orchidee Stoffe blau färben. Es hat den Anschein, als ob der Wirrkopf und Phantast Anselm endlich angekommen ist.

Der Stil ist ein Gemisch aus banalen Schilderungen (Kutsche besteigen, Koffer packen), langen wissenschaftlichen Abhandlungen und phantasievollen Schilderungen von Landschaften und Traumsequenzen.

Mit diesem Roman muss man Geduld haben, ihn „kommen lassen“ oder besser: sich auf ihn einlassen. Eilige Leser werden ihn bald weglegen.

 

 

Liessmann: Die kleine Unbildung. Gezeichnet von Nicolaus Mahler. Zsolnay Verlag

Eine köstliche Kurzfassung von Liessmanns Scheltensammlung: Bildung als Provokation (ebenfalls Zsolnay).

Da beutelt uns Liessmann ganz schön her, packt unser eingerostetes Denken beim Schopf.. Unterstützt von Nicolaus Mahlers Zeichnungen, der uns Lesern die Dummheit in der Welt und die eigene Dummheit mit kräftigen Strichen vor Augen führt. Witzig, provokant, unterhaltsam allemal. Liessmann weckt uns auf, wenn wir bei den Kultursendungen im ORF 2 und III  über der kritiklosen Berichterstattung eingeschlafen sind. Amüsant, aber eigentlich zum Weinen, wenn er die Bildung als hinschwindendes Gespenst, das es bald nicht einmal mehr als Gespenst geben wird, einmahnt Eine pure Freude hat man, wie er sich auf Begriffe wie „Kompetenz“, „Reformbedarf“, „Evaluierung“ einschießt. Mahler nimmt sie auf die zeichnerische Schaufel, und tut sie als gewogen, aber für zu leicht befunden ab. Man möchte das Büchlein allen Politikern, besonders den für Schule, Kultur und Bildung zuständigen, aufs Nachtkasterl oder den Schreibtisch legen!!

Meine Lieblingszeichnung finde ich auf Seite 73. Anschauen! Ich verrate nicht, was und warum.

Meine Empfehlung: Das Büchlein immer mit sich tragen und bei guten Gelegenheiten daraus zitieren – besonders in „bildungsbeflissener“ Gesellschaft.

Barbara Rieger, Bis ans Ende, Marie. Kremayr&Scheriau

Barbara Rieger wird zur so genannten jungen Literatur gezählt. Und in mir entsteht der Verdacht – nach einigen Romanen dieses Genres und vielen Stunden, die ich mit Lesen dieser verbrachte, dass junge Literatur zumeist sich  aus folgenden Verben zusammensetzt: ficken, kotzen, saufen, kiffen.

Nun aber etwas ernster: Die Icherzählerin -jeder 2. Satz beginnt mit „Ich“ – ist nach ihrer Scheidung ziemlich haltlos. Sie studiert, aber nur pro forma. Verliebt sich in einen Studenten, der sie aber nicht beachtet . So lässt sie sich in die Welt von Marie fallen, die nur eines will: Sex, egal mit wem, möglichst oft. Die verklemmte Icherzählerin bewundert Marie, möchte mit ihr gleichziehen. Säuft – das tut ihr nicht gut – sie kotzt, kifft – das tut ihr nicht gut – sie kotzt und wird krank, nur eines kann sie noch nicht: ficken. Doch am Ende kommt es doch zu einem „Dreier“: Sie, Marie und deren Freund Tom. Ende gut, alles gut, als Tom das Kondom aus ihr herauszieht, kann sie endlich lachen und findet alles o.k. Ob es ein befreites oder verzweifeltes Lachen ist, bleibt unklar.

Nur um dem Vorwurf entgegenzuwirken, dass ich prüde wäre. Nein, als geübte Leserin habe ich schon mehr verdaut als dieses Anfangswerk. Aber es ist eben ein Anfangswerk – Sprache simpel, Inhalt simpel, auch wenn sich die Autorin bemüht, die Story mit wilden Träumen aufzumotzen.

Evelyn Waugh; Expedition eines englischen Gentleman. Diogenes. Aus dem Englischen: Matthias Fienbork

Der Autor und Reisejournalist Evelyn Waugh reiste im Oktober 1930 nach Addis Abeba, um über die Krönung Haile Selassies zum König von Äthiopien zu berichten. Für mich ist dieses Buch eine Reise in die Vergangenheit meiner eigenen Vergangenheit. Nein, ich bin noch nicht so alt, dass ich dieses Ereignis hätte miterleben können. Aber die beschriebenen Orte: Addis Abeba, Harar, Aden und dieInsel Sansibar habe ich in um die Jahrtausendwende selbst bereist. Daher war es für mich interessant zu lesen, wie Evelyn Waugh sie sieht und beschreibt.

Addis Abeba war für mich eine blick- und charakterlose Stadt, es gab kein ausgewiesenes Zentrum, jemanden aufzusuchen war nur mit einem erfahrenen Taxler möglich. Die Regierung übte strenge Kontrollen auf die Medien aus – die erste Redaktion, die ich besuchen wollte, war geschlossen: Alle Redakteure waren am Vortag ins Gefängnis gesteckt worden. Der Grund war nicht nachvollziehbar. Dieses Chaos – nur anders gelagert – beherrschte schon 70 Jahre vorher die Stadt. Die Krönung schildert Evelyn Waugh eher wie eine Disneyverfilmung, nichts ist ernst zu nehmen. Man schmunzelt über die aufgeblasenen Zeremonien und das Protokoll, das ewig aus dem Ruder läuft. Harar habe ich als faszinierende Stadt in Erinnerung – geheimnisvoll und wunderschön. Er sieht sie eher als disaströs. Die Hafenstadt Aden war bei meinem Besuch nur eine Anhäufung von dreckigen Straßen und kaputten Häusern, Waugh hingegen gefiel sie. Vor allem wegen der gemütlichen Clubs, in denen sich die buntesten Gestalten trafen. Nun, die sind wohl alle schon längst Geschichte. In Sansibar, wo ich  ich begeistert zwischen den alten Häusern der Hauptstadt umherstrich, langweilte er sich entsetzlich, weil es keine politischen Debatten gab und alles seinen gemächlichen, langweiligen Gang ging.

F ür Leser, die noch keinen der genannten Orte besucht haben, ist Waughs „Expedition“ -der Titel ist eine ironische Übertreibung – wahrscheinlich  einschläfernd. Wer diesen Teil Afrikas ein wenig kennt, der kann interessante Vergleiche ziehen-.

Lucía Puenzo, Die man nicht sieht. Wagenbach

Dem Wagenbach-Verlag muss großes Lob gespendet werden, weil er sich um junge Literatur, insbesondere um lateinamerikanische Erzählerinnen bemüht. Lucía Puenzo, geboren 1976 in Buenos Aires, gehört zu den erfolgreichsten Schriftstellerinnen Argentiniens. Als Filmemacherin heimste sie beim Filmfestival in Cannes für ihren Debütfilm „XXY“ viele Preise ein. Auch als Romanautorin ist sie äußerst erfolgreich.

Mit dem Roman „Die man nicht sieht“ (sehr gut übersetzt von Anja Lutter) hat sie treffsicher ein brennendes Problem spannend aufgegriffen: Die Straßenkinder von Buenos Aires. Man sieht sie überall: Als Kartonsammler, als Blumenverkäufer, als Autoscheibenwäscher an den Kreuzungen und als Bettler. Puenzo schildert in diesem Roman das Schicksal dreier Kinder, die von einem gewissenlosen Boss für Hauseinbrüche eingesetzt werden. Ismael ist 15 und kennt alle Tricks, Enana ebenfalls 15 und kennt keine Furcht, ihr Bruder Ajo ist gerade einmal 6 und auf Grund seiner Wendigkeit ein wichtiges Mitglied der Gruppe. Sie sind so erfolgreich, dass sie der Boss nach Uruguay verkauft, wo sie unter unmenschlichen Bedingungen, nur auf sich allein gestellt, nach Anweisungen per Handy in die Villen von Superreichen einbrechen sollen. Dass das nicht lange gut geht, ahnen sie bald…

Puenzo kennt sich in dieser Szene aus, weiß, wie bestechlich die Securitymänner, wie korrupt die Reichen sind und wie hilflos die Kinder ihren Ausbeutern ausgeliefert sind. Ihr Stil ist trocken, nie Mitleid heischend, nie sozialvoyeuristisch. Man liebt diese drei Kinder von Anfang an, folgt ihnen atemlos durch ihre Einbrüche und Abenteuer und kann sie erst loslassen, wenn die letzte Zeile gelesen ist. Puenzo gelingt es, kritische Blicke in die Gesellschaft der Reichen von B.A. und Uruguay zu werfen, ihren überbordenden Luxus mit einem Schuss Humor zu schildern. Köstlich die Szene, als die Kinder in das Schlafzimmer eines Hauses eindringen und die nackte Ehefrau mit nacktem Liebhaber mitsamt wenig erstauntem Ehemann – der allerdings im Anzug – antreffen.  Wenn sich Ajo über das Spielzeug der Kinder mit Lust hermacht und in seinen Rucksack einpackt oder Ismael sich nicht genug über selbst schließende Sportschuhe wundert, wenn dieses fremde Luxusleben den Kindern so fern erscheint, wie der Mond.

Das Buch gehört gelesen!!! Es steht ganz oben auf der Silvia-Matras-Bestsellerlist!!!

www.wagenbach.de

Elsa Ferrante, Die Geschichte des verlorenen Kindes.Suhrkamp

Eine Enttäuschung! Nach den spannenden und gut geschriebenen ersten 3 Teilen ist der Autorin offenbar die Erzählluft ausgegangen. Die Geschichte umfasst die 70er -bis 2000er Jahre. Wenig politisch, eher leicht hysterische Nabelschau. Die Erzählerin erreicht als Schriftstellerin ein gewisses Maß an Bekanntheit, ihre Scheidung von Ehemann, ihr Scheitern der neuen Beziehung mit Nino, das Erdbeben in Neapel, die Probleme mit den Kindern – all das wird sehr langatmig erzählt. Besonders ausführlich aber ergeht sich Ferrante über die Schreibprobleme der Protagonistin – sieht ganz danach aus, als wären es ihre eigenen.

Olivia Elkaim, Modigliani, mon amour. Verlag Ebersbach & Simon.

Elkaim beschreibt die furiose Liebe zwischen dem Maler Modigliani und der um 14 Jahre jüngeren „Hobbymalerin“ Jeanne Hébuterne.  Sie stammt aus einem bigotten, tiefbürgerlichen Haus, verlässt ihre Eltern und zieht ins Atelier Modiglianis. Erlebt die Pariser Kunstszene gegen Ende des 1. Weltkrieges. Wird schwanger, erleidet Hunger, Verlustängste, Modigliani lässt sie immer wieder im Stich. Als er todkrank wird, pflegt sie ihn bis zu seinem Tod. Dann stürzt sie sich aus dem 5. Stock der elterlichen Wohnung. Man fasst es nicht, was diese junge Frau, fast noch ein Mädchen, alles auf sich genommen hat, sich selbst und ihr Maltalent total verleugnend, Spott, Armut und Schmerzen ertrug, und dennoch an dieser schier tödlichen Liebe festhielt.

Die Autorin findet eine rasante, furiose und dennoch kühl-distanzierte Sprache, ohne je ins Klischee abzugleiten. Ein mitreißendes Buch. Die Übersetzung von Judith Petrus ist kongenial.

Jürgen-Thomas Ernst, Schweben. Braumüller Verlag

Für mich eine Neuentdeckung! Jürgen-Thomas Ernst hat , unbemerkt vom Feuilleton, eine kleine Kostbarkeit geschrieben. Seine bewusst einfache, klare Sprache ist angepasst an das Tun und Denken der beiden Protagonisten Josef und Rosa. Beide sind nicht mit Reichtümern gesegnet, arbeiten unter widrigen Umständen in einer Fabrik. Aber sie haben einander – schon allein der Gedanke und das Wissen um den anderen macht sie glücklich. Josef träumt oft vom Schweben und das Glücksgefühl, das er dabei empfindet.  Er weiß auch, dass Rosa die Ursache für diese Träume  ist. Es ist ein Roman vom Glücksgefühl, das Menschen empfinden, die nicht vom Leben verwöhnt werden, und dennoch in ganz alltäglichen Situationen zufrieden mit dem. wie es ist, sind. Immer wieder ist es Rosa, die Josef auf solche Moment hinweist. Beim Lesen dieses zauberhaften Romans denke ich  an Robert Seethalers Buch „Ein ganzes Leben“: Andreas Egger hat ein hartes Leben, er überlebt Krieg und Katastrophen. Und hadert nie mit seinem Schicksal. Beide Schriftsteller schreiben über Menschen, die unaufgeregt leben und gerade darin ihre Stärke beziehen.

Ich empfehle allen dieses Buch zu lesen, besonders dann, wenn sie gerade „auf höchstem Niveau“ ihr eigentlich gutes Leben bejammern. Vielleicht mag der eine oder andere Leser meinen, die Art, das Leben zu betrachten, wie es Rosa und Josef tun, sei unrealistisch, kindlich oder kitschig. Für solche Lebensskeptiker empfehle ich das Buch doppelt und dreifach!

Anthony McCarten: Jack. Diogenes Verlag

Ich gehöre einer Generation an, die sich aus den „Beatniks“ nicht viel gemacht hat. Für mich war diese Strömung der Wilden, Drogensüchtigen, Rauschdichter etc passé. Ich habe die Literatur dazu einfach nicht beachtet. Nun bekomme ich McCartens Roman „Jack“ in die Hand. Gleich einmal entstand für mich die Frage: Ist das nun ein Roman, eine Romanbiografie oder eine Pseudoromanbiografie? Ich musste erst einmal nachschlagen, ob es den Dichter Kerouac überhaupt gegeben hat. Und ob es ihn gab!! Er soll ja den Begriff „Beatniks“ geprägt haben. Sein Roman „Unterwegs“(1959) war und ist für viele die Bibel, eine Anleitung zum ungeordneten, aufmüpfigen Leben. Und dann denke ich: Kerouac könnte auch der heutigen Junggeneration, die als „lost Generation“ gerne bezeichnet wird, Antrieb zum Umtrieb geben.

Doch zum Roman: Der einst so berühmte Dichter Jack >Kerouac (1922-1969) ist in der Versenkung verschwunden und die Literaturstudentin Jan Weintraub stöbert ihn auf. Es gelingt ihr, sein Einverständnis für eine Biografie zu bekommen. O.k, – bis hierher ein häufiger Trick in Gegenwartsromanen: Einer, eine macht sich auf die Suche nach einem wirklichen oder erdachten Autor, Musiker, Genie etc auf und entdeckt dabei sich selbst. Oder entdeckt, dass er/sie doch anders ist, als sie/er von sich bisher geglaubt hatte. Aber McCarten strickt ein anderes Muster: Er liefert mehrere Möglichkeiten des Ichs, die Figuren führen nicht ihr eigenes Leben, sondern ein vorgetäuschtes. Die alte philosophische Frage nach dem Ich wird immer wieder neu aufgerollt, neu bespiegelt. Am Ende ist Kerouac nicht fassbar, die Literaturstudentin nicht diejenige, als die sie sich ausgibt.

Ein geschickt gebauter Roman rund um die Frage: Wer bin ich? Nicht als Krankheitsbild oder als philosophischer Diskurs behandelt – die Antwort bleibt natürlich aus.

Tipp: Anthony McCarten schrieb auch das Drehbuch zu dem Film: „Die dunkelste Stunde“ – spannend und absolut sehenswert!

Joachim Missfeldt, Sturm und Stille. Rowohlt

Joachim Missfeldt schrieb eine feinsinnige Geschichte über den Dichter Theodor Storm und seine Liebe zu Doris Jensen und  zugleich auch ein Zeitporträt. Schon als junges Mädchen verliebt sich Doris in den arrivierten Rechtsanwalt und bekannten Dichter Theodor Storm. Sie schwärmt ihn an und er nimmt die Schwärmerei wohlwollend wahr, fördert sie mit kleinen Gesten. Für Doris ist es eine ausgemachte Sache, dass Storm ihre große Liebe ist, an der sie auch festhält, als Storm seine Verlobte Constanze heiratet. Im März 1847 bricht über Husum ein Sturm los und bald darauf Stille. Eine Stille, die der jungen Doris gut tut. Eine vollkommene Stille, wie sie sonst nie das Haus erfüllt. Da hört Doris, wie jemand über die Efeuranken zu ihrem Fenster emporklettert. Es ist Storm. Sie öffnet ihm Fenster und Herz und eine lange, für sie ein Leben lange Liebe beginnt. Aber die Affäre wird bald publik, Doris verlässt ihr Elternhaus. Storm heiratet seine Constanze, die ihm sieben Kinder schenken wird. Die Ehe ist glücklich. Als Constanze stirbt, flammt die Liebe wieder auf – für Doris war sie nie erloschen. All die Jahre hat sie geduldig ausgeharrt, Storm lange Zeit nicht gesehen. Nach einem Trauerjahr heiraten die beiden…

Das ist in großen Zügen die Geschichte. Doch wie Joachim Missfeldt sie beschreibt, zeigt die große Kunst eines Biographen, der tief in das Seelen- und Gedankenleben einer Frau einzusteigen wagt. Er erzählt aus ihrer Sicht, verknüpft geschickt die Wetterbeobachtungen, die Doris getreulich in ihr Tagebuch einträgt, mit dem Seelenleben. Sturm und Kälte, Regen, ein heißer Sommer, die Landschaft und das Leben der Menschen in ihr und mit dem Wetter sind agierender Teil des Romans, den man wohl eher Romanbiografie nennen sollte. Es verblüfft, wie sich der Mann Joachim Missfeldt in die Seele einer Frau hineinversetzen kann. Noch dazu in die einer Frau, die viele Jahre ohne zu klagen oder aufzubegehren auf „ihre Liebe“ wartet. Das mag aus heutiger Sicht unverständlich sein, aber so war es eben. Und diese fast unwahrscheinliche Liebe glaubhaft zu schildern ist dem Autor sehr gut gelungen.

Christoph Poschenrieder: Kind ohne Namen. Diogenes Verlag

Wer Poschenrieder kennt, der weiß, was ihn erwartet: Nix ist fix, alles ist möglich, die Abenteuer sind im Kopf. Die Phantasie regiert. So auch in diesem Roman. In einem Dorf, ganz ohne Handyempfang, kann sein in Deutschland, Schweiz, Österreich, kann aber auch überall sein, passiert Gespenstisches. Ein geheimnisvoller Burgherr herrscht über die Bewohner, tyrannisiert die Mutter von Xenia, hat ihren Sohn zu seinem persönlichen Sklaven gemacht. Xenia kehrt aus der großen Stadt zurück ins Dorf. Sie erwartet ein Kind, will aber es weder die Mutter noch die Dörfler wissen lassen. Da werden Flüchtlinge in der aufgelassenen Schule einquartiert. Und es kommt, wie erwartet: Sie werden von den Bewohnern gemobbt, ja sogar gehasst. Nur Xenia und ihre Mutter suchen die Kontakte und die Deeskalation. Xenia verliebt sich sogar in den Flüchtling Ahmed, hofft, sie kann mit ihm ein Leben aufbauen. Das Kind kommt zur Welt. Der Burgherr erhebt aufgrund eines mysteriösen Vertrages mit der Mutter Xenias Anspruch auf dieses Kind, solange es nicht getauft ist. In einer Nacht- und Nebelaktion lässt Xenia das neugeborene Mädchen taufen. Damit ist dieser ziemlich verwirrende Erzählstrang abgehandelt. Den Leser lässt er etwas ratlos zurück. Aber so ist Poschenrieder….Er schreibt und phantasiert, nicht immer an seine Leser denkend. Der geschäftstüchtige Burgherr plant Container im Dorf aufzustellen, um noch mehr Flüchtlinge unterbringen zu können und mit ihnen gutes Geld zu machen. Doch da explodiert der Volkszorn. Ahmed flieht. Xenia lässt den Burgherren in den Tod fahren—–eine wilde Story. Am Ende scheint sich alles zum Guten zu wenden – die Dörfler machen ihren Frieden mit den Flüchtlingen.

Poschenrieder handelt in dem Roman subtil die ganze Skala der Fremdenfeindlichkeit und der allzu häufig gehörten Meinungen der Gutmenschen ab und versucht dabei als objektiver Erzähler zu wirken. Was ihm nicht gelingt, denn seine Sympathien sind eindeutig  bei Xenia, der mutigen „Retterin“.

Helmut Lethen: Die Staatsräte. Elite im Dritten Reich. Rowohlt Berlin

DaNach der politischen Idee aus der Zeit der Weimarer Republik wurden 1933 neue „Staatsräte“ ernannt. Ihr offizieller Aufgabenbereich: „Sie stehen dem Führer mit Rat, Anregung und Gutachten zur Seite“ – so die Definition des Juristen Dr. Carl Schmitt, einer der vier Staaträte, die Helmut Lethen in seinem Buch beschreibt.  Ihre politische Wirkungsmacht ist zweifelhaft. Man kann eher von Scheinwirkungen sprechen. Die Idee kam von Hermann Göring: Es wurden Männer ausgesucht, die nichts im Staate zu sagen hatten, aber doch bedeutende Namen trugen, wie  Gustav Gründegens, Schauspieler und Intendant des Staatlichen Schauspielhauses, der Dirigent Wilhelm Furtwängler, der Chirurg Ferdinand Sauerbruch und der Jurist Dr. Carl Schmitt. HelmuthLethen lässt die vier Staatsräte viermal zu geheimen Gesprächen zusammenkommen. Diese Treffen fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt ohne irgendeinen politischen Auftrag. Übrigens hielt Hitler selbst nichts von der Idee der Stadträte, kam zu keinem Treffen und fragte auch keinen dieser Herren um Rat.

Lethen „rekonstruiert“ nun diese vier Gesprächsrunden. Da es keine Aufzeichnungen gibt, nennt er sie „Geistergespräche“. Die Erfindung dieser Gespräche ist zugleich die Crux des Buches: Die Gespräche geraten dem Autor allzu theoretisch. Gründgens spricht über den Schein, die drei Zuhörer (und der Leser) langweilen sich. So nebenbei erfährt der Leser etwas über die Prunksucht des Schauspielers, sein riesiges Anwesen und seinen luxuriösen Lebensstil. Beim zweiten Treffen, das auf dem Landgut Görings stattfindet, spricht der Jurist Carl Schmitt über den Begriff „Feind“. Auch er stößt nicht auf allzu viel Interesse. Im dritten Treffen brilliert der „große Chirurg“ Sauerbruch über den Vorteil des Krieges, der ihm die Möglichkeit gab, ganz neue Prothesen zu entwickeln. Zynisch lässt er Kriegsverletzte mit Prothesen als Schauobjekte auftreten. Das vierte Gespräch findet im Dirigentenzimmer Furtwänglers statt. Die vier überhören die Sirenen, die britische Bomber ankündigen. Es ist zu spät, um in den Luftschutzkeller zu rennen. Furtwängler spricht gelassen weiter über die Harmonie in der klassischen Musik und wettert gegen die „Neutöner“.

Die vier Männer hatten im politischen System nichts zu sagen und zu entscheiden. Sie wähnten sich sicher während der ganzen Nazizeit und nach dem Zusammenbruch genau so sicher vor gerichtlicher Verfolgung. Und tatsächlich kam es nur zu einem kurzen Karrierestopp. Nach einigen eher ungemütlichen Verhören konnten alle bis auf Schmitt ihre Karriere ungehindert fortsetzen. Schmitt wird dreimal verhaftet und verhört, verliert seine Professur an der Berliner Universität. Gründgens steht 1947 schon wieder auf der Bühne – ausgerechnet als Orest in Sartres Résistancedrama „Die Fliegen“. Sauerbruch bleibt auch nach Kriegsende Chef der Chirurgischen Klinik der Charité. Furtwängler wird 1946 von einer Berliner Untersuchungskommission von jeglicher Schuld freigesprochen, Zitat: „Bis zu seinem Tod geistert Furtwängler als heiliggesprochener Dirigent durch die Konzertsäle Europas.“

Was war das Ziel des Autors? – vielleicht aufzuzeigen, wie es sich so manche im Dritten Reich richten, ihr Gewissen beruhigen und sich mit der Macht arrangieren konnten. Doch der Autor strapaziert die Geduld des Lesers durch theoretische Exkurse allzu sehr.

Andrea DeCarlo: Das Meer der Wahrheit. Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Diogenes Verlag.

Andrea DeCarlo ist für ganz Italien, was Donna Leon für Venedig ist: Er wählt brisante, aktuelle Themen, packt sie in ein spannendes Sujet mit dazu passendem Umfeld. Diesmal geht es um das heikle Thema der Empfängnisverhütung, die ja immer noch vom Vatikan aus verboten ist. Doch es gibt – so im Roman – eine brisante Aufforderung eines gewissen Kardinals Ndionge, der vor seinem Tod noch ein eindringliches Schreiben an den Vatikan richtet. Doch das Dokument ist verschwunden. Wurde von Mitgliedern der Mitte-Links Partei „Mirto Democratico“ im Interesse und Auftrag des Vatikans vernichtet.

Geschickt baut Andrea DeCarlo in der Geschichte zwei Lebensformen, typisch nicht nur für Italien, auf: Da ist Lorenzo, der erfolgreiche Politiker, der nur für seine Karriere lebt, kämpft und sogar morden lässt, und auf der anderen Seite sein Bruder Fabio, der typische Aussteiger. Er hat sich in ein einsames Dorf im Apennin zurückgezogen aus Sehnsucht nach „einem nicht besetzen Raum“.  De Carlo stellt in dem Roman die Frage, wie Lebenstentscheidungen entstehen: Ist es sinnvoll, alles abzubrechen und unter primitiven Bedingungen zu leben? Ist es sinnvoll, in der hektischen Stadt durch Beruf und Ehrgeiz gestresst zu leben?

FAzit des Romans: Die italienische Politik – und nicht nur die italienische – liegt im Argen. Dass die Jagd nach der letzten noch vorhandenen Kopie des Dokuments ein eher hollywoodähnliches Ende nimmt, mag man dem Autor gern verzeihen. Denn der Roman ist faszinierend und bis zum Schluss spannend.

Hans Pleschinski, Wiesenstein. C.H.Beck Verlag

Auf 544 Seiten lebt der Leser das langsame Sterben Gerhart Hauptmanns mit. Der Verlag nennt das Buch einen Roman. Passender wäre „Romanbiografie“. Denn Pleschinski hat genauestens recherchiert und nur wenig der Phantasie überlassen. Diese Genauigkeit ist das Plus und das Minus des Werkes. Denn offenbar wollte der Autor auf kein einziges Detail seiner  Forschungen verzichten. Was teilweise zu einer abundanten Information führt, vor der so mancher Leser kapitulieren könnte. Wer sind die intendierten  Leser dieses „Romans“? – Einerseits Germanisten, die sich für das letzte Lebensjahr des Dichters interessieren. Andrerseits Historiker, die Genaueres über die letzten Kriegsmonate nach der Zerstörung Dresdens und das Schicksal Schlesiens wissen wollen.

Der schwer kranke Gerhart Hauptmann kann dem brennenden Dresden entkommen. Er will in seine geliebte Villa Wiesenstein im Riesengebirge, in der Hoffnung, dort in Frieden sterben zu können. Begleitet wird er von seiner (2.) Ehefrau Margarete, einem Heilmasseur, einer Sekretärin und einer Zofe. Trotz der immer schwieriger werdenden politischen Lage – in Schlesien weiß niemand, wie es nach dem Zusammenbruch des „tausendjährigen Reiches“ weitergehen wird, wem Schlesien gehören wird – versucht das Ehepaar so etwas wie Normalität zu leben. Dazu gehören karge, aber regelmäßige Mahlzeiten, zu denen der Butler mittels Gongschlag ruft, und Diskussionen über das Werk Hauptmanns. Dabei sucht man eifrig nach Stellen im Werk des Dichters, die seine kritische Haltung gegenüber dem Naziregime bestätigen sollen. Man weiß ja nie, welche Machthaber in Zukunft das Schicksal Hauptmanns bestimmen werden. Dass er Kontakte zu politischen Ungeheuern wie Hans Frank hatte, macht Sorgen. Als die Rote Armee näher rückt, drehen sich die Gespräche nur um ein Thema: Was kann Hauptmann vorweisen, um als politisch unbescholten zu gelten? Und wird allein sein Name ihn und sein Gefolge vor der Wut der Plünderer schützen?

Als das Inferno fast schon die Villa Wiesenstein erreicht, da scheint der Autor die Kontrolle über sein Werk zu verlieren. Fast wirkt es, als fände er Gefallen an der Schilderung der maßlosen Gräuel. Mit Akribie schildert er die Not der Flüchtenden, die Toten am Wegrand, zählt die Selbstmorde auf. Als die Russen einmarschieren, wird der Horror neuerlich überdeutlich ausgeführt. Mit dieser Überfütterung an grauenvollen Einzelheiten geht die Gefahr einer gewissen Banalisierung einher. Gekonnte Reduktion wäre mehr!

Gerhart Hauptmann erfährt die Gnade eines raschen Todes. Er darf in seiner Villa Wiesenstein sterben. Danach erfolgt die Evakuierung der gesamten Habe und des Personals.

Margret Greiner: Margaret Stonborough-Wittgenstein. Grande Dame der Wiener Moderne. Kremayr-Scheriau

Die Wittgensteins zählten zu den reichsten Familien Wiens und der Donaumonarchie. Karl Wittgenstein war ein strenger Patriarch, der über seine Ehefrau Leopoldine und seine sieben Kinder ziemlich unbarmherzig herrschte. Dass drei seiner Söhne Selbstmord begingen, ist sicher auch auf die überstrenge Erziehung zurückzuführen. Gretl, wie sie von allen genannt wurde, ließ sich jedoch nicht von ihrem Vater unterjochen, sie wusste sich durchzusetzen und wurde eine starke, selbstbestimmte Frau, die sich neben Kunst auch intensiv mit Naturwissenschaften und Mathematik beschäftigte und sogar ein Semester lang in Zürich studierte. Sie heiratete den Amerikaner Jerome Stonborough und nannte sich fortan Margaret Stonborough-Wittgenstein. Obwohl die Ehe alles andere als gut war, bekam sie zwei Söhne und ließ sich trotz aller Schwierigkeiten von ihrem depressiven Ehemann nie scheiden. Ihren Reichtum verwendete sie nicht nur für sich und ihre Familie, sondern half mit Geld und guten Kontakten in und zwischen den beiden Weltkriegen überall, wo sie Not sah. Ihre letzten Lebensjahre verbrachte sie in der von ihr so geliebten Villa Toscana in Gmunden, wo sie trotz Krankheit bis zum Schluss ein offenes Haus führte.

Margret Greiners Stärke ist die Romanbiografie. In dieser  literarischen Form ist sie zu Hause.  Sie erlaubt es ihr, gleichsam in auktorialer Erzählweise die Hauptfigur zu begleiten, ihre Gedanken zu formulieren und Entscheidungen und Taten mit dichterischer Freiheit zu interpretieren. Diese Erzählweise ist nur durch ein intensives Studium der Briefe, Dokumente aus der Zeit und Interviews möglich. Dadurch werden simple Aufzählungen von Namen und Fakten, die so oft Biografien langweilg werden lassen, ausgespart. Gleich zu Beginn schildert Margret Greiner eine der vielen Einladungen im Hause Wittgensteins. Das gibt ihr Gelegenheit, den Prunk der Räume zu entfalten. Die Gäste, wie Brahms, Alt, Klimt und Josef Hoffmann werden nicht im name-dropping aufgezählt, sondern in lebhaften Gesprächen eingeführt. So entsteht ein buntes Tableau der so genannten „guten Gesellschaft“ Wiens. Man hört Schuberts „Winterreise“ – eine Vorausahnung des Todes streift durch den Raum. Der Tod wird in der Familie ein schrecklicher Gast sein: Die Brüder Hans, Kurt und Rudi werden Selbstmord begehen.

Feiner Humor und leise Ironie sind Greiners bevorzugte Stilmittel der Personencharakterisierung. Gretl komponiert zur „Mordsgaudi“ der Familie ein Couplet, in dem sie sich über die Scheinheiligkeit der Reichen mokiert. Vom Schlussrefrain „Hauptsache, die Fassade bröckelt nicht…“ fühlte sich niemand im Hause Wittgenstein im Geringsten angesprochen“. Mit diesem trockenen Nachsatz wird nicht nur die Familie charakterisiert, sondern mit auch  die Gesellschaft rund um die Jahrhundertwende. Ironie blitzt auch bei der Beschreibung der Hochzeitsnacht und des ehelichen Sexuallebens Margarets durch. Da heißt es: „Alles falsche Überhöhung.“

Immer wieder verblüfft es, mit welcher Feinfühligkeit Margret Greiner  künstlerische Werke  interpretiert: Klimt malt Gretl und „was er entdeckte, war die Eleganz ihrer Erscheinung, ihre unkonventionelle Schönheit , eine Sicherheit im Auftreten, wie sie Bildung und Geld verleihen. Unerschrockenheit, kühlen Verstand.Was er erahnte, war ein Herz, das jederzeit der größten Empathie fähig war.“ Besser könnte man den Charakter Margarets, wie er im Bild Klimts aufscheint, nicht charakterisieren.

Gespür für typisch wienerische Ausdrücke ist notwendig, um den Ton der Gesellschaft zu treffen. Auch darin zeigt sich Margret Greiner firm genug. Da ist die Rede von einem „Gschlader“ für schlechten Kaffee, man sudert, raunzt, zerkugelt sich usw. Es ist erstaunlich, wie gut sich die Autorin in das Wiener Milieu der Jahrhundertwende einfühlt. Ihre Stärke ist und bleibt die Romanbiografie. Das bewies sie ja bereits in dem Buch über Emilie Flöge  „Auf Freiheit zugeschnitten“, das 2015 bei Kremayr & Scheriau erschien. Beide Romanbiografien eröffnen dem Leser ein „Tableau vivant“ der Jahrhundertwende. Ihr punktgenau treffender Stil macht das Buch zum puren Lesegenuss.

Buchpräsentation: Margret Greiner, Margaret Stonborohgh-Wittgenstein.

Margret Greiner hat schon ihre Fangemeinde. Seit ihrer Romanbiografie über Emilie Flöge, die Gefährtin Gustav Klimts, ist sie als Autorin bekannt, die es versteht, die Protagonistinnen in die Zeit zu stellen und lebendig werden zu lassen. Nun ist also im Verlag Kremayr&Scheriau  ihr neues Buch erschienen:“ Margaret Stonborough-Wittgenstein. Grand Dame der Wiener Moderne.“ Schon vor Wochen waren die Karten für diese Lesung in der Klimtvilla ausverkauft. Denn das Publikum weiß: Wenn Margret Greiner liest, dann wird es spannend und auch immer wieder humorvoll. Sie spannte gekonnt den Lebensbogen der „Grand Dame“ von der Kindheit in dem reichen, aber emotional kalten Elternhaus über die nicht sehr glücklichen Ehejahre und die schwierige Zeit unter dem Nationalsozialismus bis hin zu ihren letzten Jahren in der Villa Toscana in Gmunden. Die zahlreichen Fragen aus dem Publikum beantwortete sie aus ihrem reichen Wissensschatz ausführlich und charmant. Eben ein echter Profi!

Trost für alle, die keine Karten bekamen: Margret Greiner wird am 8. März 2018 in der Buchhandlung „tiempo nuevo“, Taborstraße 17a, 1020 Wien um 19h aus ihrem neuen Buch lesen. Rechtzeitig kommen, es gibt keine Reservierungen.

Max Haberich, Arthur Schnitzler. Anatom des Fin de Siècle. Kremayr & Scheriau

Als zweiter Untertitel steht: „Die Biografie“, was etwas irreführend ist. Denn der Autor beschreibt  nicht so sehr das Leben Schnitzlers, als vielmehr anhand der Werke die politische Entwicklung der Zeit, vor allem den immer stärker werdenden Antisemitismus.

Dem informierten Leser, der Schnitzlers Werke und die politische Entwicklung um die Jahrhundertwende einigermaßen kennt, vermittelt das Buch nicht viel Neues. Ein Titel wie zum Beispiel “ Schnitzler und der Antisemitismus“ wäre dem Inhalt gerechter gewesen.  Der Autor zählt in chronologischer Reihe  penibel die Novellen, Romane und Dramen auf, beschreibt ihren Inhalt und die Aufführungen der Theaterstücke und führt genau Buch über die jeweiligen antisemitischen Äußerungen und Strömungen, die Schnitzler in Briefen erwähnt oder in seine Werken einfließen lässt. Diese eher biedere Herangehensweise an den Autor Schnitzler ermüdet mitunter den Leser.

Gerne und ausführlicher schildert Haberich Schnitzlers Beziehungen zu den Mädels aus den weniger vornehmen Kreisen und entwirft ein interessantes Frauenbild, das vom Klischee abweicht: Er führt überzeugend an, dass in vielen Werken Schnitzlers diese Frauenfiguren nicht immer nur die Beute der reichen Nichtstuer sind, sondern sich durchaus behaupten können und eigene Lebensentwürfe haben. Diese Argumentation macht Sinn.

Zu wenig widmet sich Haberich der schwierigen Beziehung zwischen Schnitzler und seiner Ehefrau Olga. Dazu sind im Anhang zwar Briefe zwischen Olga und Schnitzler aus der Handschriftensammlung Marbach abgedruckt. Sie dokumentieren, wie schnell die anfängliche Begeisterung Schnitzlers vom ersten Kontakt bis hin zur (eher widerwillig eingegangenen) Eheschließung und zur Scheidung nachlassen. Aber die Briefe geben nur ein fragmentarisches Bild des Zerwürfnisses. Nur wenige Jahre leben die beiden ohne Streit und Hass.. 1920 trennen sich bereits, 1921 lassen sie sich scheiden. Aber so ging es Schnitzler mit all seinen Beziehungen: Sobald die erotische Anziehungskraft nachließ, flaute auch sein Interesse ab. Denn Schnitzler war in erster Linie Schriftsteller, dann erst Liebhaber oder Ehemann.

Etwas eingleisig behandelt  Max Haberich die Stellung des Judentums in Schnitzlers Leben und Werk und  macht es zum Zentralthema. Ohne Zweifel setzte sich Schnitzler mit dem immer stärker werdenden Antisemitismus intensiv auseinander und lässt die diesbezüglichen Sorgen und Probleme in seine Werke einfließen. („Professor Bernhardi“). Aber dass es wirklich das einzig wichtige und alles beherrschende Thema im Leben und Werk Schnitzlers war, ist anzuzweifeln.

Ernst Lothar, Die Rückkehr. Zsolnay Verlag

Ernst Lothar emigrierte 1938 in die USA und kehrte nach Kriegsende nach Wien zurück. In dem Roman verarbeitete er nun eigene Erlebnisse und Eindrücke ,. Seine Figuren legen Zeugnis ab von dem politischen, sozialen und seelischen Chaos, in dem man damals in Wien lebte: Da gab es immer noch die Nazis, die Mitläufer, die Sozialisten und Kommunisten und natürlich die Amerikaner als Besatzungsmacht. In dieses Chaos führt uns der Autor mitten hinein, ohne zu verurteilen. Das Buch ist ein Plädoyer gegen Hass, Wut, Neid und Vernaderei, gegen den nicht auszulöschenden Antisemitismus und gegen Ressentiments, die man in Wien nach 1945  gegen „Rückkehrer“ hatte.

Der Jurist Felix von Geldern und seine Familie sind 1938 in die Staaten emigriert. Nur seine Mutter blieb aus Liebe zu einem Nazibonzen zurück. Felix hat gerade die amerikanische Staatsbürgerschaft bekommen und er macht seiner Freundin Livia ein vages Heiratsversprchen. Er ist also Amerikaner geworden, aber nur auf dem Papier. Im Herzen ist er Österreicher, Wiener geblieben. Als seine Familie ihn beauftragt, nach dem Vermögen und den Immobilien der Familie zu sehen und Rückerstattung zu fordern, ist er sofort bereit, aufzubrechen. Begleitet wird er von der lebensklugen Großmutter Viktoria, die dem Leben gegenüber trotz ihres Alters und Herzleidens sehr positiv eingestellt ist. Sie wird Felix eine tatkräfige und entschlussfreudige Ratgeberin in Wien sein. Denn er selbst verstrickt sich mehr und mehr in alte Liebesgeschichten, Schuldfragen und kommt sogar  in den völlig absurden Verdacht, mit einem ehemaligen Nazi zusammengearbeitet zu haben. Und so erkennt Felix sehr bald: „Nichts passte zu nichts!“ Und er selbst zu niemandem mehr. Aber dennoch  geht er mit offenen Augen und wehem Herzen durch Wien, sieht das Elend der hungernden Kinder, spürt den Hass, der überall lauert und kann sich des Mitleids nicht erwehren mit den Menschen, die zurückgeblieben sind, egal, ob Mitläufer, Täter oder Opfer des Naziregimes. Der Hass, der die Menschen beherrscht, macht einen offenen, unverstellten Zugang unmöglich.

Ernst Lothar erzählt mit Gefühl und Herz. Des öfteren gleitet die Sprache ins Pathetische ab , weil der Autor sich der allzu großen Gefühlsaufwallung nicht erwehren kann. Etwa, wenn er den Spaziergang durch Grinzing oder den Blick auf die Donau und den Kahlenberg schildert. Dieses Abgleiten in starke Gefühle akzeptiert man, weil die Ernsthaftigkeit des Autors dahinter steht.

Der Roman zeigt den Riss, der nach 1945 stärker denn je durch die Bevölkerung Wiens (und Österreichs) geht. Ein Riss, der heute wieder spürbar ist. Deshalb ist „Die Rückkehr“ mehr als nur ein Roman, eher eine Mahnung, achtsam zu sein.. Denn leicht kann es sein, dass man die Kräfte unterschätzt oder gar nicht wahrnimmt, die den Riss verantworten zu haben.

Gloria Goldreich, Die Tochter des Malers, aufbau taschenbuch

Ida Chagall ist die viel geliebte und behütete Tochter des Malers Marc Chagall und seiner Frau Bella. Der biografische Roman konzentriert sich auf das Leben der Tochter, deren konzentrischer Lebensmittelpunkt immer ihr Vater war. So erfährt man viele Details über Marc Chagall als Mensch und als Künstler.

Die Autorin hält sich streng an die Chronologie und an die Fakten, die gut dokumentiert und überliefert sind. Die Geschichte beginnt in Paris. Chagall und Bella leben in gutbürgerlichen Verhältnissen, ohne allzu große Reichtümer. Im Hintergrund ziehen die Kriegswolken auf, Hitler droht in Frankreich einzumarschieren. Ida heiratet sehr früh ihre Jugendliebe. Die Familie flieht nach Südfrankreich, von wo ihr mit knapper Müh und Not und mit Hilfe des mutigen Fluchthelfers Varian Fry und durch  den selbstlosen Verzicht der Schwiegereltern auf ein Visum die Flucht nach New Yor gelingt. Auch dort wird Chagall bekannt und kommt finanziell gut über die Runden. Es ist immer Ida, die alle seine Ausstellungen kuratiert, Verträge macht und für den ganzen Vertrieb der Bilder sorgt. Dabei vernachlässigt sie ihr Privatleben und ihren Ehemann, bis sich die beiden scheiden lassen. In New York stirbt Bella. Marc und Ida kehren nach dem Krieg nach Frankreich zurück. Aufenthalt in Paris und Vence, wo er in der Nähe eine Villa erwirbt. Seine langjährige Gefährtin Virginia Haggard verlässt ihn und nimmt den gemeinsamen Sohn David mit. Ida heiratet den reichen Kunsthändler und Kunsthistoriker Franz Meyer. Ein Sohn und Zwillinge kommen zur Welt. Chagalls „Gesellschafterin“ Valentina Brodsky erreicht es, dass er sie heiratet. Von nun an schwingt sie das Szepter über Chagall, das Haus und die Ausstellungen.

Ein leicht zu lesender Roman, in dem man viel über Chagall erfährt: Eitel und egoistisch, jähzornig und selbstgerecht sind nur einige Eigenschaften, die ihn nicht gerade sympathisch machen. Dass er am Schluss unter der Fuchtel seiner 2. Frau lebt, vergönnt man dem Tyrannen wahrhaftig. Als Maler war er ein „Monster“, wie er selbst sagt: ungeheuer produktiv, von Einfällen nur so sprühend. Die Malerei war ihm das Wichtigste im Leben. Ihr ordnete er alles andere unter.

Einige Einwände sind gegen den oft ausufernden, in den Kitsch abgleitenden Stil zu erheben. Verwunderlich sind schlampige Angaben, etwa dass das Ghetto Nuovo auf der Giudecca liegt. Wünschenswert wären eine Chronologie der Ereignisse und ein Personenregister am Ende des Romans.

Armin Strohmeyr: Geheimnisvolle Frauen. Piper

Im Untertitel umreißt der Autor den Kreis der geheimnisvollen Frauen: Rebellinnen, Mätressen, Hochstaplerinnen. Die Grundgedanken zu diesem Buch liefert das Zitat von Baronin von Berchtesgaden in Theodor Fontanes Roman: Der Stechlin: „…Eine Frau, die nicht rästselhaft ist, ist eigentlich gar keine.“ Ein Satz, den man allen Facebook-Twitter und Blogabhängigen in ihr Hirn schreiben möchte. Wo bleibt heute die Rätselhaftigkeit oder das Geheimnis der Frau? Aber nicht nur der Frau? Auch die Männer verlieren an Charme, Anziehungskraft. Wen interessiert noch ein Mann, eine Frau, der, die jedes Würstel, das sie, er verzehren,  in das Netz stellen? Nicht nur das Würstel, sondern sich selbst dazu beim Verzehren desselben. Die Banalität greift um sich und stilisiert sich hoch zum Alltagsabenteuer.

Nun will ich damit nicht sagen, dass jede Frau eine Filmkarriere wie Greta Garbo anstreben kann oder eine zweite Sissy oder so eine gefährliche Mörderin wie Bonny Parker werden soll oder kann. Denn mit dem Können haperts ja bei den meisten. Aber ein wenig Mut zum Ungewöhnlichen und ein Hauch von Unnahbarkeit täte vielen gut.

Armin Strohmeyrs Auswahl ungewöhnlicher Frauen reicht von der Kaisermörderin Agrippina, die ihren  Ehemann Kaiser Claudius  vergiftete, um ihren Sohn Nero möglichst rasch und sicher auf den Thron zu hieven, über das ziemlich ungewöhnliche Leben der schwedischen Königin Christina bis zur Kaiserin Elisabeth von Österreich. Dabei erfährt man neben viel Bekanntem auch einige verblüffende Details. In der zweiten Riege stehen die Geliebten der Großen, etwa Maria Mancini Colonna, die als junges Mädchen die Geliebte des Sonnenkönigs war. In der dritten Riege findet man die Betrügerinnen, die mit ihrem Charme den Menschen riesige Vermögen abknöpfen. So wie Thérèse Humbert, in deren Salon sich die ganze Pariser Nobelgesellschaft einfand. Weil die charmante Thérèse hohe Zinsen versprach, gab man ihr, fast zwang man ihr hohe Summen auf. Um am Ende zu erfahren, dass sich das Geld in Schall und Rauch aufgelöst hatte. Und in der letzten Riege finden sich auch einige „gute, geheimnisvolle Frauen“,wie die Krankenschwester Edith Cavell, die als Fluchthelferin im Ersten WEltkrieg fungierte und als Spionin von den Deutschen erschossen wurde.

Es entsteht der Verdacht, dass die edlen, empathischen Frauen sich weniger für eine interessante Biografie eignen. Das Böse scheint anziehender, faszinierender zu sein.

 

Andrea De Carlo, Ein fast perfektes Wunder. Diogenes

Die Figuren aus der Showwelt, ihre fiesen Charaktere haben es Andrea De Carlo angetan. Ähnlich wie in dem furiosen Roman „Villa Metaphora“ geht es auch diesmal um die beiden Gegenwelten: Auf der einen Seite die schlichte, herzergreifende Gelateriabesitzerin Milena. Sie begegnet ungebremst dem irren Haufen der Bandgruppe „Bebonkers“ und ihrem verführerischen, charismatischen Leadsänger Nick. Der hat eine Riesenvilla, Security, Autos, Flugzeuge und eine zu Recht eifersüchtige Noch-nicht-Ehefrau, die gerade mit wütender Akribie die Hochzeit vobereitet. Doch Milena mit ihrem einmalig guten Eis funkt dazwischen. Und so geschieht ein fast perfektes Wunder: Der Star Nick verliebt sich in die „kleine Eisverkäuferin“ und sie sich in ihn. Das wäre der beste Bratenfond für einen Kitschroman – nicht so bei Andrea De Carlo. Durch seine punktgenaue Analyse der Fan- und Musikwelt, des Größenwahns und Irrsinns, der in dieser Welt herrscht, verflüchtigt sich der Kitsch auf gleich Null. Auch Milena wird nicht allzu sehr mit Romantik ausgestattet. Sie lebt in einer lesbischen Beziehung. Die beiden Frauen haben beschlossen, ein Kind zu bekommen. Milena soll es mittels künstlicher Befruchtung zur Welt bringen.

So die Fakten, als Nick und Milena wie zwei Meteore aufeinanderprallen. Das kann nur schrecklich enden! Meint man. Und tatsächlich fliegen die Vasen, die Beleidigungen durch die Räume der Villa. Der Show-down könnte nicht herrlicher sein. Kein Stein, keine Vase bleibt ganz. Körper wälzen sich auf dem Boden.  Doch leise, leise schleicht Nick aus dem Haus, leise, leise Milena aus ihrer Wohnung. Sie gehen wie Schlafwandler aufeinander zu. – Am Flughafen, wo natürlich das Flugzeug Nicks steht, treffen sie aufeinander. So viel Ironie schützt vor Kitsch. Aber dennoch genießt der Leser den Hauch von Romantik, der über dem Ende liegt. Die hauchdünne Nahtstelle zwischen Kitsch und Ironie weiß Andrea De Carlo genauestens zu orten und zu nutzen.

 

Leila Slimani, Dann schlaf auch du. Aus dem Französischen von Amelie Thoma. Luchterhand

Es beginnt mit einem Paukenschlag, der dem Leser den Atem nimmt. Ganz langsam wird der Tragödie Urgrund aufgerollt, um letzten Endes doch nicht 100% aufgeklärt zu sein. Mit einem hauchfeinen Sprachpinsel zeichnet Slimani die Charaktere: Myriam und Paul sind das Bilderbuchpaar à la Bobos: guter Mittelstand, beide im Beruf tüchtig. Myriam ist Mutter zweier Kinder – zu Beginn ist sie eifrige Mutter, bis der Eifer immer mehr nachlässt und sie sich nach einem Beruf sehnt. Die Gelegenheit bietet sich und sie greift zu. Doch wohin mit den Kindern? – Ach, was haben sie doch für ein Glück mit Louise! Zuverlässig, pünktlich, sauber! Der Haushalt hat noch nie so gut funktioniert, die Kinder vergöttern sie und sie die Kinder. Alles perfekt! Man nimmt Louise mit in den Urlaub  auf die griechische Insel Sifnos. Und Louise träumt von einem Zuhause, das ihr Pul und Myriam geben könnten. Könnten, aber nicht wollen. Denn Abstand muss sein -trotz aller Sympathie. Wie und wo Louise ihre Abende und freien Wochenenden verbringt, interessiert Paul und Myriam nicht. Dass sich Louise oft seltsam benimmt, den gesellschaftlich geforderten Abstand zu ihren Arbeitgebern nicht einhält oder besser: als nicht existent übergeht, nehmen sie wahr, aber fragen nicht weiter. Bis die „Zudringlichkeiten“ immer heftiger werden.Als  Louise fürchtet, ihren Arbeitsplatz  und die  von ihr so ersehnte Zugehörigkeit zur Familie zu verlieren, wird sie immer absonderlicher…Es geschieht das Fürchterliche….

Slimanis Sprache ist schlicht, aber tief gehend: Kurze Sätze, keine Sprachspielerein, keine literarischen Turnübungen. Sie liefert eine beinharte Analyse der Gesellschaft: Hier die Gutverdiener, da die Dienenden. Dabei wertet sie nicht. Sie beobachtet, hält fest, ganz ohne Vorurteile und Vorverurteilungen.

Eiin großartiges literarisches Kleinod!

Unbedingt lesen!!!

Thilo Wydra, Ingrid Bergman. Ein Leben. DVA

Eine minutiös recherchierte Filmografie, das Biografische wird in der ersten Hälfte nur angerissen.  Über politische und private Probleme in Ingrid Bergmans Leben geht der Autor  anfangs elegant hinweg. Etwa über ihre Einstellung zu Hitler und den Nazis. Vielleicht um ihr Image zu retten, stellt Thilo Wydra sie als politisch naiv und uninteressiert dar, als eine Frau, die nur an ihrer Filmkarriere interessiert war. Ihre Ehen und Liebesaffären haben zwar weltweit für Aufsehen gesorgt, aber sie „sei für ihre Courage zu bewundern“, mit der sie sich über gesellschaftliche Schranken hinweg setzte. Durch die Reduktion auf eine fast reine Filmografie entsteht im ersten Teil des Buches in den wenigen privaten Einschüben der Eindruck, dass sie sich über Menschen, die für sie arbeiteten, die mit ihr lebten, ohne Skrupel hinwegsetzte. Kurzsichtigkeit in Sachen Weltpolitik ist ihr jedenfalls nicht abzusprechen.

Fans, die sich ausschließlich für ihre filmische Karriere interessieren, finden ausreichende Informationen. Interessant ist zum Beispiel  die Casablanca-Story, weil es davon viele Versionen gibt. So wurde etwa in Deutschland lange Zeit eine politisch gereinigte Version gezeigt, in der das Nazi-Deutschland nicht vorkommen durfte.

Ab der zweiten Hälfte des Buches widmet sich Thilo Wydra mehr dem Biographischen.

Sieben Jahre war Ingrid Bergmann unter Vertrag des Filmbosses David O. Selznick, der sie wie eine Arbeits- und Erfolgsmaschine an andere Produzenten verlieh und den Großteil der Gagen einstrich. Für viele Jahre arbeitete sie unter Alfred Hitchcock, bevor sie schließlich 1949 Roberto Rosselini kennen lernte.  Diesem schmerzvollen Abschnitt im Leben der Schauspielerin widmet der Autor viele Seiten. Ausführlich schildert er den Kampf der Schauspielerin -damals noch  verheiratet mit Petter Lindström –  um die Scheidung, dann um das Sorgerecht der Tochter Pia, die turbulente Zeit vor der Ferneeheschließung mit Roberto Rossellini, die Geburt ihres Sohnes und die Trennung von Pia. All diese Skandale zu überstehen, erforderte die ganze Kraft Ingrid Bergmans. Doch sie schaffte es, trotz aller Widrigkeiten, in Hollywood mit dem Film „Anastasia“ wieder Triumphe zu feiern. Sie wird bis zu ihrem Tod 2015 noch viele Erfolge feiern, sich von Rossellini scheiden lassen, Lars Schmidt heiraten und sich auch von ihm trennen. Das alles ertrug sie, weil sie ihre Arbeit hatte, die ihr alles bedeutete. Sympathie und Hochachtung, die der Autor der Schauspielerin und dem Menschen Ingrid Bergman entgegen bringt, ist deutlich zu spüren.

Wertvoll sind die Anhänge: Anmerkungen zu den Zitaten, Filmregister, Filmographie, Personenregister, Zeittafel und Bibliographie.

 

 

 

 

 

Susanna Ernst: Der Herzschlag deiner Worte. Knaur

Mhmmm, schwierig zu besprechen. Susanna Ernst ist nicht Rosamund Pilcher, aber auch nicht Elsa Ferrante oder Julie Zeh. Auch nicht Charlotte Link. Für mich, die ich gar keine Scheu vor Kitsch habe, ist dieser Roman doch  zu kitschlastig. Eines steht fest: Susanna Ernst kann ganz gut schreiben, der Plot fließt nur so. Aber so viel Tod, Krankheit, Liebe und vor allem Tote, die auf die Erde runtergucken und ihren Lieben beim Leben zuschauen, das muss man aushalten.

Ein Mann -Vincent – stirbt plötzlich auf dem Golfplatz. Bei der Beerdigung sind sie alle versammelt: Sohn Alex, der gar nicht sein Sohn ist, Tochter Cassie, seine Exfrau und die geheimnisvolle „Tante Jane“, die im Rollstuhl sitzt und an einer todbringenden Krankheit leidet. Sie kann nicht mehr sprechen, nur mehr durch ihre Augen mit einem Computer kommunizieren. Aber sie hat die Fäden der Vergangenheit in der Hand. Nur sie kann die vielen Rätsel lösen und Alex zu seiner großen Liebe namens Maila führen. Der Leser ahnt sehr bald: Diese Maila ist sicher die Tochter von Jane und Vincent – beide werden sich als Untote, später Ganztote im Jenseits finden. Als alle Rätsel gelöst und Hindernisse beseitigt sind, da sieht man Alex mit Maila glücklich lächelnd im Bett liegen. Zwischen ihnen seine zweijährige Tochter, die während einer kurzen früheren Beziehung gezeugt wurde. Auf die drei Glücklichen blicken Vincent und Jane aus dem Jenseits, nein eher Halbjenseits. Klingt komplizerter als es ist.

 

 

Stephanie Butland, Ich treffe dich zwischen den Zeilen. Knaur Verlag

Mit viel sprachlichem Einfühlungsvermögen erzählt die Autorin von einer jungen Frau, die mit 10 Jahren von einem Moment auf den anderen beide Eltern verliert: Der arbeitslose Vater quält und schlägt seine Frau. Das Kind mit dem ungewöhnlichen Namen Loveday liebt ihn trotz allem, fürchtet zugleich um ihre Mutter. Als sie eines Tages von der Schule nach Hause kommt, hat die Mutter aus Notwehr den Ehemann mit der Bratpfanne erschlagen. Von da an wird das Leben für Loveday zur Qual. Die Mutter kommt ins Gefängnis, sie zu einer Pflegemutter, die sich alle Mühe mit dem Kind gibt, das sich von der Umwelt verschließt, kaum spricht und keine Kontakte, auch nicht mit der Mutter, will. Erwachsen geworden arbeitet sie in einem Buchladen, den der schrullige Archie führt. Loveday liebt Bücher, lässt sich die Anfangssätze ihrer Lieblingsbücher in die Haut tätowieren. Um ihr Äußeres kümmert sie sich nicht, rennt in alten Klamotten durch die Gegend. Einmal lässt sie sich auf eine kurze Beziehung ein, doch Rob ist wegen Gewalttätigkeit in Behandlung. Loveday verlässt ihn, er aber lässt nicht locker. Aus Angst vor körperlicher Nähe lässt sie auch Nathan, den liebenswerten Zauberer und Slum-Poet nicht an sich heran. Sie zieht sich vom Leben zurück, nur mit ihrem Chef  Archibald versteht sie sich einigermaßen. Der nämlich lässt sie gewähren.

Als eines Tages Bücher ihrer Mutter vor dem Laden garagiert werden, kocht die ganze Vergangenheit auf.

Wie aus der äußerst fragilen Person mit allen Ängsten und Aggressionen eine Frau wird, die wieder lieben kann, beschreibt die Autorin großartig. Ihre Sorache ist frech, aufmüpfig und hochsensibel zugleich.

Pierre Lemaitre, Drei Tage und ein Leben, aus dem Französischen Tobias Scheffel. Klett-Cotta Verlag

Ein Kriminalroman mit umgekehrten Vorzeichen: Der Mörder ist der 12jährige Antoine. Enttäuschung, Zurücksetzung und Spott seiner heimlich angebeteten Nachbarin machen ihn so wütend, dass er den sechsjährigen Nachbarbuben Rémi mit einem Stock erschlägt. Das erfährt der Leser gleich auf den ersten Seiten. Im rasanten Erzähltempo geht der Autor sofort in medias res. Dann zieht er gleichsam die Notbremse. Langwierige Untersuchungen, Verdächtigungen – Antoine lebt in Dauerangst, als Mörder entlarvt zu werden. Er ist zeitweise froh, dass es einen Verdächtigen gibt und hätte keine Silbe zu dessen Freilassung gesagt. Die Jahre vergehen, er glaubt sich sicher, studiert Medizin und meidet das Dorf seiner Kindheit. Doch dieses holt ihn zurück – widerwillig muss er das Nachbarmädchen heiraten, da sie von ihm schwanger ist. Einem Vaterschaftstest kann und will er sich nicht unterziehen, da man inzwischen die Leiche und an ihr ein Haar des Täters gefunden hat. Anhand des Gentestes könnte er als Mörder entlarvt werden. Sein Leben besteht nun aus der traurigen Routine eines Landarztes und eines lieblosen Ehemannes, bis am Schluss eine neue Wendung eintritt…

Lemaitre ist ein Meister der Charakteranalyse, die er streckenweise all zu sehr auf die Spitze treibt. Durch häufigen Tempowechsel – einmal geschieht viel auf wenig Seiten, dann lange, auf vielen Seiten fast gar nichts – hält er den Leser, der vielleicht schon aufgeben will, bei der Stange. Der Roman ist aber mehr als ein „Landkrimi“. Vielmehr liest er sich als kritische Studie eines Dorfes und seiner Bewohner, die in Bespitzelung, Brutalität und Dumpfheit dahinleben. Jeder mit einer anderen Lebenslüge auf dem Buckel.

 

Elena Ferrante, Die Geschichte der getrennten Wege. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp

Nun begleiten sie uns wieder für eine Weile: Elena und Lila aus Neapel, genauer aus dem heruntergekommenen Viertel Rione. Die späten 60er und die beginnenden 70er Jahre bilden den politische Rahmen. Das Buch ist eine Zeitreise in die eigene Vergangenheit vieler Leserinnen, die sich in der Figur Elenas teilweise wiedererkennen werden.

Lila hat sich von ihrem Ehemann und von ihrem Geliebten getrennt und schuftet in einer Wurstfabrik, wo die Arbeitsbedingungen entwürdigend und gesundheitsgefährdend sind. Sie kann sich und ihren  Sohn Gennaro, von dem sie nicht genau weiß, welcher der beiden Männer der Vater ist, nur mit Mühe durchbringen. Enzo, ein Freund aus den Jugendtagen, hilft ihr selbstlos, wo er nur kann. Den Alltag zu bewältigen und nicht einzuknicken ist ihr einziges Lebensziel. Während alle rings um Lila sich in der Politik engagieren, hat sie dafür keinen Sinn. Doch wird sie gegen ihren Willen zur Ikone der Revolution und des Widerstandes, als sie sich gegen den Chef der Fabrik zur Wehr setzt und die verheerenden Arbeitsbedingungen publik macht. Es kommt zu Schlägerein, es gibt Tote, sie verlässt seltsam ungerührt von den Ereignissen die Fabrik.

Elena hat nach dem Studium in Pisa ein Buch geschrieben, das kurzfristig großen ERfolg hat. Sie verlobt sich mit Pietro, dem Sohn ihres Verlegers. Stolz kehrt sie für kurze Zeit nach Neapel zurück, wo sie sowohl von Lila als auch von ihrer eigenen Familie distanziert behandelt wird. Für ihren Bucherfolg hat man kein Verständnis. Verwirrt muss Elena erkennen, dass sie politisch völlig ungebildet ist. Um sich in den linken Kreisen, zu denen sie gerne gehören möchte, Zutritt zu verschaffen, beginnt sie sich in die „linke Literatur“ einzulesen. Doch ihre Wortmeldungen in dem kämpferschen Kreis von Linken, Kommunisten und anderen Revoluzzern bleiben leere Satzhülsen. Sie heiratet Pietro und zieht mit ihm nach Florenz, wo er einen Lehrauftrag an der Universität hat. Ihre zwei Töchter machen aus Elena eine lustlose Mutter und Hausfrau. Angestrengt versucht sie, an einem neuen Buch zu schreiben, was ihr nicht gelingt. Die Ehe ist eine einzige Enttäuschung, sie denkt an Scheidung. Mit Lila hat sie nur telefonischen Kontakt. Aus dieser Depression rettet sie Nino, der Jugendfreund aus Neapel. Er weckt sie aus ihrem geistigen und sexuellen Dornröschenschlaf. …

Hauptakteur in diesem 3. Band ist die Politik, die Jahre der Jugendrevolten, der Gewalt gegen den Staat und seine Repräsentanten, des Kampfes der Frauen um mehr Rechte. Elena ist die typische Vertreterin zwischen den Fronten: Sie will bürgerlich leben, ist auch stolz auf diesen Status und will zugleich politisch aktiv sein, was aber nicht ihrem innersten Wesen entspricht, das auf Ausgleich und Harmonie ausgerichtet ist. Stachel in ihrem Denken ist immer wieder Lila, die sich um nichts und niemanden kümmert, ihren Weg im Rione geht und auf Elenas Bürgerlichkeit spuckt. Geschickt flicht die Autorin in die Fguren, die sich um Elena und Lila ranken, die Typen der damaligen Zeit ein: Die Kinder der Adeligen und Bildungsbürger proben mit Genuss den Aufstand gegen ihre Eltern, bringen aber außer Drogensucht und Streit nichts Effektives zustande. Es sind die typsichen Möchtegernrevoluzzer. Pietro ist der Professor, der die Zeitentwicklung verpasst und mit seinen Studenten und Kollegen im Dauerstreit liegt. Einige Jugendfreunde Elenas und Lilas engagieren sich in Gewerkschaften, sind Dauerdemonstrierer. Doch gegen die mafiosen Mächtigen im Rione und Neapel haben sie keine Chance.

Elena Ferrante entwirft ein Gesellschaftsgemälde mit allen Figuren, die damals wie heute noch genauso aktiv sind. Und das nicht nur in Italien,

Mehr zur Romantetralogie und der Anonymität der Autorin unter: www.elenaferrante.de