Andrea De Carlo, Ein fast perfektes Wunder. Diogenes

Die Figuren aus der Showwelt, ihre fiesen Charaktere haben es Andrea De Carlo angetan. Ähnlich wie in dem furiosen Roman „Villa Metaphora“ geht es auch diesmal um die beiden Gegenwelten: Auf der einen Seite die schlichte, herzergreifende Gelateriabesitzerin Milena. Sie begegnet ungebremst dem irren Haufen der Bandgruppe „Bebonkers“ und ihrem verführerischen, charismatischen Leadsänger Nick. Der hat eine Riesenvilla, Security, Autos, Flugzeuge und eine zu Recht eifersüchtige Noch-nicht-Ehefrau, die gerade mit wütender Akribie die Hochzeit vobereitet. Doch Milena mit ihrem einmalig guten Eis funkt dazwischen. Und so geschieht ein fast perfektes Wunder: Der Star Nick verliebt sich in die „kleine Eisverkäuferin“ und sie sich in ihn. Das wäre der beste Bratenfond für einen Kitschroman – nicht so bei Andrea De Carlo. Durch seine punktgenaue Analyse der Fan- und Musikwelt, des Größenwahns und Irrsinns, der in dieser Welt herrscht, verflüchtigt sich der Kitsch auf gleich Null. Auch Milena wird nicht allzu sehr mit Romantik ausgestattet. Sie lebt in einer lesbischen Beziehung. Die beiden Frauen haben beschlossen, ein Kind zu bekommen. Milena soll es mittels künstlicher Befruchtung zur Welt bringen.

So die Fakten, als Nick und Milena wie zwei Meteore aufeinanderprallen. Das kann nur schrecklich enden! Meint man. Und tatsächlich fliegen die Vasen, die Beleidigungen durch die Räume der Villa. Der Show-down könnte nicht herrlicher sein. Kein Stein, keine Vase bleibt ganz. Körper wälzen sich auf dem Boden.  Doch leise, leise schleicht Nick aus dem Haus, leise, leise Milena aus ihrer Wohnung. Sie gehen wie Schlafwandler aufeinander zu. – Am Flughafen, wo natürlich das Flugzeug Nicks steht, treffen sie aufeinander. So viel Ironie schützt vor Kitsch. Aber dennoch genießt der Leser den Hauch von Romantik, der über dem Ende liegt. Die hauchdünne Nahtstelle zwischen Kitsch und Ironie weiß Andrea De Carlo genauestens zu orten und zu nutzen.

 

„Weibsbilder“ im Theater Akzent

Angelika Kirchschlager (am Klavier begleitet von Arabella Cortesi), Maria Happel und Ulrike Beimpold  entwarfen verschiedene Bilder vom Weib. Da leider kein Programmzettel vorlag, wusste man zu Beginn nicht so recht, wo der Weg hingehen sollte. So langsam entkernte sich ein Thema: Der Blick auf „Frau“, die endlich auch „offiziell  zur  Gattung Mensch  gezählt wird“, reicht vom naiven Weibchen, das von treuer Liebe träumt und mit dem Erwachesenenwerden zur heiter-witzigen Kritikerin ihrer einstigen Träume wird – diese Rolle stand Ulrike Beimpold großartig – über das pointiert-ironische Bild auf die WEiblichkeit -bestens interpretiert von Maria Happel. Gustostückerln waren etwa Gedanken über die  Zeit, das Altern oder die Magerkeit der Models – „wo haben die ihre Organe? – im Handtaschl? fragt Happel, denn im ausgemergelten Körper ist dafür kein Platz. Dazwischen sang Angelika Kirchschlager – ja was? Nur einiges war zu erkennen, weil eben allgemein bekannt: Gretchens trauriges Lied „Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer“ und die „Habanera“  aus Bizets „Carmen“. Beides nicht ganz überzeugend, aber es gefiel. Die restlichen Lieder???

Zum Schluss – der altbekannte „Rausschmeißer“ : „Wenn die beste Freundin mit der besten Freundin“..Und er wirkte, wie immer: Begeisterter Applaus

Die Serie der tüchtigen, selbstbewussten Weibsbilder wird mit Tini Kainrath, Nina Proll, Kerstin Heiles und Helen Schneider im Jänner und Februar 2018 fortgesetzt.

www.akzent.at

 

Alexander Ostrowskij, Schlechte Partie. Burgtheater

Der Regiesseur Alvis Hermanis setzt auf Tragikkomödie, Trash und Slapstick. Auf der Drehbühne entfaltet er ein Kaleidoskop bürgerlicher Szenarien: Sofas, Vitrinen, Fauteuils, jede Menge Familienfotos  und Pistolen als Wandschmuck. Die Bühne als Spiegelbild der Gesellschaft – gut. Auf den Sofas schnarchen betrunkene Kaufleute, Beamten. Und einige im Puplikum schließen sich an und machen ihr Weihnachtsnickerchen. Denn leider ist vor allem der erste Teil ziemlich langweilig. Das liegt vor allem an der mangelnden Wortdeutlichkeit. Von Michael Maertens ist man ja das verschwulte Dahinnuscheln schon gewohnt. Als einfältiger Beamter, der um die schöne Larissa (Marie-Luise Stockinger) saufend und stotternd wirbt , übertreibt er manchmal bis zur Unverständlichkeit. Saufen ist überhaupt  die Hauptaktion in diesen 3 Stunden. Das imaginierte Betrunkensein hat aber fast alle Schauspieler sprachlich beeinträchtigt. Unerträglich übertrieben  muss der arme Fabian Krüger einen torkelnden, speienden, nuschelnden, stotternden Trottel mimen. Eine peinliche Übertreibung!

Die interessanteste Figur in dem ganzen Torkeldrama ist die junge Larissa. Sie ist zum äußeren Zeichen ihrer Naivität in bäuerliche Buntheit gekleidet, meist wirkt sie darin dümmlicher, als die Figur selbst es erlaubt. Die Männer schielen alle nach ihr. Sie  aber  wird von der Mutter (Dörte Lyssewski) an eben den unerträgichen Julij verkuppelt.  Sie jedoch hofft auf die Gunst des reichen Unternehmers Sergej Paratow – gut widerlich von Ofczarek gegeben -. Der gaukelt ihr Liebe vor und als er am Ziel seiner Wünsche ist, seilt er sich ab. Übrig bleibt eine verzweifelte Larissa. Es gibt einige starke Szenen, etwa wenn die gierigen Blicke der Männer die kindlich tanzende Larissa verschlingen. Und die Schlussszene: Larissa hat verstanden – sie ist nicht mehr als ein Objekt, um das gestritten und verhandelt wird. Als Individuum ist sie abgemeldet.

Leila Slimani, Dann schlaf auch du. Aus dem Französischen von Amelie Thoma. Luchterhand

Es beginnt mit einem Paukenschlag, der dem Leser den Atem nimmt. Ganz langsam wird der Tragödie Urgrund aufgerollt, um letzten Endes doch nicht 100% aufgeklärt zu sein. Mit einem hauchfeinen Sprachpinsel zeichnet Slimani die Charaktere: Myriam und Paul sind das Bilderbuchpaar à la Bobos: guter Mittelstand, beide im Beruf tüchtig. Myriam ist Mutter zweier Kinder – zu Beginn ist sie eifrige Mutter, bis der Eifer immer mehr nachlässt und sie sich nach einem Beruf sehnt. Die Gelegenheit bietet sich und sie greift zu. Doch wohin mit den Kindern? – Ach, was haben sie doch für ein Glück mit Louise! Zuverlässig, pünktlich, sauber! Der Haushalt hat noch nie so gut funktioniert, die Kinder vergöttern sie und sie die Kinder. Alles perfekt! Man nimmt Louise mit in den Urlaub  auf die griechische Insel Sifnos. Und Louise träumt von einem Zuhause, das ihr Pul und Myriam geben könnten. Könnten, aber nicht wollen. Denn Abstand muss sein -trotz aller Sympathie. Wie und wo Louise ihre Abende und freien Wochenenden verbringt, interessiert Paul und Myriam nicht. Dass sich Louise oft seltsam benimmt, den gesellschaftlich geforderten Abstand zu ihren Arbeitgebern nicht einhält oder besser: als nicht existent übergeht, nehmen sie wahr, aber fragen nicht weiter. Bis die „Zudringlichkeiten“ immer heftiger werden.Als  Louise fürchtet, ihren Arbeitsplatz  und die  von ihr so ersehnte Zugehörigkeit zur Familie zu verlieren, wird sie immer absonderlicher…Es geschieht das Fürchterliche….

Slimanis Sprache ist schlicht, aber tief gehend: Kurze Sätze, keine Sprachspielerein, keine literarischen Turnübungen. Sie liefert eine beinharte Analyse der Gesellschaft: Hier die Gutverdiener, da die Dienenden. Dabei wertet sie nicht. Sie beobachtet, hält fest, ganz ohne Vorurteile und Vorverurteilungen.

Eiin großartiges literarisches Kleinod!

Unbedingt lesen!!!

Ballettabend in der Staatsoper: „Verklungene Feste und Josephslegende“

Da kamen alle Ballettfans und freuten sich über ein Wiedersehen mit einem typischen John Neumeier-Festabend! Und über ein Wiedersehen mit Vladimir Shishov und Mihail Sosnovschi! Beide tanzten schon 2015in den „Verklungenen Festen“ mit unglaublicher Eleganz und Finesse. Die Elegie und Melancholie der Atmosphäre spiegelt sich ganz und gar in der Choreographie – viele sehr langsame, durchaus erotische Figuren. Starker Applaus für die Tänzer, was besonders hoch zu werten ist, da viele im Publikum eigentlich nur auf die „Josephs Legende“ warteten. Doch die „Verklungenen Feste“ sind ideal, um sich von den eigenen Erinnerungen an „verklungene Feste“ einspinnen zu lassen.Die Musik von  Richard Strauss unter dem subtilen Dirigat von Gerrit  Prießnitz tat alles dazu.

Nun denn – zum furiosen 2. Teil des Abends:

Denys Cherevychko tanzte wie schon 2015 den gar nicht so keuschen Joseph – sein eher spärliches Kostüm musste ja Potiphar dazu verleiten, es ihm runterzureißen. Aber erst mal langsam: Joseph wird von Sklavenhändlern an den Hof Potiphars verschleppt. Dort langweilt sich Mrs. Potiphar – herrlich Rebecca Horner – zu Tode und straft ihren erotisch aufgeladenen Ehemann _ Eno Peci – mit Missachtung. Obwohl der eigentlich über weitaus mehr Sexappeal verfügt, ist sie von dem armen – ach so unschuldigen – Joseph total begeistert, umtanzt ihn mit einer Rasanz, scheint ihn dann endlich unter ihren kräftigen Armen zum ersehnten Coitus gebändigt zu haben, als -Pech für beide – der Ehemann dazukommt. Nun wird Joseph ziemlich hergebeutelt, aber bevor er total erschöpft tot umsinkt, holt ihn sein Engel  in himmlische Gefilde. Einst tanzte Kirill Kourlaev bravourös diesen Engel – wo ist dieser Startänzer jetzt? Doch nicht schon in Pension???????????? Jetzt ist es Jakob Feyferlik – sein Engel ist ätherischer, kindlicher -halt eher ein Schutzengerl. Und Potiphar? -Sie tanzt alleine einen wunderbaren Trauertanz. Gerrit Prießnitz führte das Orchester in wahre Furioshymnen und ließ die Musik von Richard Strauss einmal mehr nach allen Regeln aufleuchten.

Ein wahrer Sturm an Applaus brach los. Am Ende gab es standing ovations!

 

Roméo et Juliette. Volkoper

Soll ich schreiben „Oper mit Ballett“ oder „Ballett mit Oper“?  Im Programmheft heißt es lakonisch: „Ballett in zwei Teilen“. Aber Hector Berlioz, von dem die Musik stammt, liebte es, verschiedene Gattungen zu vereinen. Deshalb ist „Roméo et Juliette“ mehr als nur ein Ballett, sondern eben ein Ballett mit Chor und zwei großen Arien – die der Amme über die erste Liebe und die des Priesters San Lorenzo. Und der Anteil des Chores ist auch nicht unerheblich. Deshalb wunderte ich mich, dass die Gesangsstücke nicht übertitelt wurden. Denn es wäre vor allem am Schluss nicht uninteressant zu verstehen, was der Priester nach dem Tod von Romeo und Julia singt. So viel ich verstanden habe, geht es um die Bitte des Priesters, dass Gott den beiden verfeindeten Familien eine friedliche Gesinnung eingebe und diese ihren blutigen Zwist begraben mögen.  Denn in der interessanten Inszenierung, wenn auch manchmal etwas langweiligen Choreografie von Davide Bombana geht es zwar auch um die Liebesgeschichte – sie bleibt der Kern -, aber vor allem um eine Auseinanderseztung zwischen zwei Gesellschaftsschichten:

Die Capulets gehören in dieser Inszenierung eindeutig der reichen, herrschenden Schicht an, die Montagues sind die Unterlegenen. Das wird besonders in den Kostümen deutlich: Die Montagues sind wie Kinder der Straße, wie Gangs gekleidet, die Capulets edel. Der Kampf zwischen den beiden entzündet sich immer wieder, der Hass scheint unüberwindbar. Die Kampfszenen gehören zum Besten in diesem Stück.

Die große Liebesszene zwischen Romeo (Masayu Kimoto) und Julia (Maria Yakovleva) gelingt nur bedingt, da vor allem Romeo noch nicht über die nötige Bühnenpräsenz verfügt. Er tanzt brav, fehlerlos, aber letzten Endes seelenlos.  Maria Yakovleva hingegen ist eine bezaubernde Julia, mit Elan und Leichtigkeit sürzt sie sich in die junge Liebe.

Was am meisten beeindruckt, sind das Bühnenbild, die Lichtregie und die Kostüme. Alles von Gudrun Müller, alias rosalie. Sie starb während der Arbeit für dieses Stück. Ihre Pläne wurden von Thomas Jürgen und Angelika Berger finalisiert. rosalie stellte einen Raum durch Leuchtstäbe her, die sich je nach Stimmung und Ort farblich veränderten. So entstand ein  fast irrealer Raum, passend zu der irrealen Musik von Berlioz und dem Geschehen auf der Bühne.

Eine interessante Figur ist die Königin Mab, getanzt von Rebecca Horner. Mit einer zu Hörnern geformten Perücke, einem Tütü in Blau tanzt sie diese Figur wie ein böses Tier, das, gierig nach Blut und Zwietracht, zwischen den Figuren umherhuscht. Wenn der Priester Lorenzo nach dem Tod der beiden Liebenden die verfeindeten Familien um Frieden anfleht, dann ist sie es, die die sich zögernd bildende Eintracht zerstört und Hände, die sich mit dem Nachbar verbinden wollen, voneinander trennt.

Sehr zum Verständnis der Stückintention tragen die Texte im Programmheft bei. Durch sie versteht man wenigstens teilweise, worum es in den Arien und Chorstücken geht.

Weitere Vorstellungen: 19., 22. und 27. Dezember 2017

www.volksoper.at

 

Great Voices: Rolando Villazon und Ildar Abdrazakov. Wiener Konzerthaus

Ein Raunen ging durch den Saal – er wird absagen!!! Nein, nicht ganz, er – Rolando Villazon – ließ sich nur „ansagen“ – die vornehme Art, dem Publikum verstehen zu geben, dass die Stimme nicht ganz voll da sei.

Also gut, das sind wir schon gewöhnt, Hauptsache, er singt überhaupt. Also Erleichterung. Zur Beruhigung und Einstimmung spielte die „Janacek Philhamronie Ostrava“ unter dem temperamentvollen Dirigenten die Ouvertüre zu „Donna Diana“ von Reznicek. Ein Ohrwurm mit Schwung! Spannung – jetzt kommt Rolando, wie ihn die zahlreich anwesenden Fans nennen. Er strahlt, konzentriert sich und singt die berührende Arie „L´Esule“ von Verdi. Erleichterung im Publikum, das ging ja noch mal gut. Nicht glanzvoll gut, nur gut. Dann – Ildar Abdrazakov, der Urmann, il fusto, wie die Italiener sagen würden. Er singt die Arie des Attila aus der gleichnamigenn Oper Verdis.Ein Sturm an Stimme und Temperament, dieser Attila. Mit wenigen Gesten ist Ildar Attila, schon mit den ersten Tönen hat er das Publikum in seinen Bann gezogen. Und so bleibt es den ganzen Abend: Das Publikum honoriert Rolandos Arien mit freundlichem, manchmal auch mit mehr als freundlichem Applaus, steigert den Applaus nach den Auftritten Ildars ins Enthousiastische. Besonders nach der Arie des Mefisto „Son lo spirito che nega“ von Arrigo Boito. Er fegt mit seiner Stimme über unsere Köpfe hinweg, pfeift als Geist, der stets verneint, auf Gott und alles, was heilig ist. Er pfeift wirklich, fordert das Publikum auf, gegen ihn anzutreten – einige versuchen es, aber sein Pfiff bleibt der stärkste. Längst schon ist klar: Ildar Abdrazakov ist der Star des Abends, das Zugpferd.

Nach der Pause kann Rolando seine Stärke besser einsetzen: Er darf  mit seinem Partner um die Wette spaßen, man überhört gerne, wenn er nicht „voll“ singt, wie etwa in dem Ohrwurm „Musica proibita“.  Mit „Schmalz mit Humor“ servieren beide das bekannte Lied „Schwarze Augen“  und gänzlich reißen sie das Publikum von den Sesseln, als sie mit Witz und Ironie „Granada“ schmettern“. Die 5 Zugaben werden mit standing ovations, Blumen, Vanillekipferln und anderen Liebesgaben belohnt,

Die nächsten „Great-Voices“ -Konzerte – s. unter www.konzerthaus.at

Henrik Ibsen: Ein Volksfeind. Burgtheater

Eigentlich müsste es heißen: „Ein Volksfeind. NACH Ibsen“. Denn Frank -Patrick Steckel schrieb eine- faszinierende – Neufassung in deutscher Sprache, und seine Tochter Jette Steckel setzte sie congenial um. Als Dr. Stockmann, Querdenker und meinungsunabhängiger Kämpfer gegen Korruption, agiert Joachim Meyerhoff. Wie immer – ein exzellenter Einzelgänger, wie das Publikum ihn kennt und schätzt.

Das Regiekonzept von Jette Steckel wirkt zunächst befremdend, doch mit fortschreitender Spielzeit geht es mehr und mehr auf und wird verständlich, ja zwingend. Da steht auf einer schwarzen Bühne eine Gruppe von Riesenzwergen, die je nach Bedarf unbeweglich aus dem Hintergrund das Geschehen beobachten oder langsam und bedrohlich vorrücken, Personen einkreisen, fast erdrücken. Sie stellen die öffentliche Meinung, das „Volk“, wenn man so will, den Gemeinderat, die Aktionäre und nicht zuletzt das stumm dasitzende Theaterpublikum dar.Im Programmheft, das mit interessanten Beiträgen die Neufassung Steckels akkompagniert, werden die Zwerge mit einem Zitat von Karl Kraus begründet: „Wenn die Sonne der Kultur niedrig steht, werfen selbst Zwerge lange Schatten.“ Zwerge sind wir alle, die wir tatenlos dem Ausverkauf unserer Natur, des Wassers, der Bodenschätze und aller Resourcen zusehen. Jette Steckels zweiter interessanter Regieeinfall: Sie lässt alle Personen, die ihre Meinung nach Bedarf ändern, allen voran den Bürgermeister und natürlich auch die Medienvertreter, auf Schlittschuhen laufen. Einzig Dr. Stockmann und seine Familie dürfen mit festen Schuhen über das glatte Meinungsparkett stapfen.

Dr. Stockmann wird zum Volksfeind erklärt, weil er den Fortschritt und den Reichtum, den die neu entdeckte Heilquelle verspricht, in Gefahr bringt.  Das „Heilwasser“ ist durch die Abwässer der nahen Gerberei vergiftet. Schuld daran ist das hexavalente Chrom, auch Chrom VI genannt, mit dem die Häute geschmeidig gemacht werden. Das Gutachten, das Stockmann mittels eingesendeter Wasserproben erstellen ließ, beweist eindeutig die Gefährlichkeit dieses Mittels. Gelangt es ins Wasser, dann vergiftet, tötet es die Menschen.

Wie sieht das heute aus, frage ich mich während der Vorstellung. Woher kommt das Leder, mit dem die Berge von Schuhen zu Billiglöhnen und -preisen hergestellt werden? Während ich diesen Text schreibe, frage ich eine Expertin: Silvia Proy hat ein kleines Taschengeschäft in Wien Hietzing, wo sie Taschen und Gürtel aus eigener Produktion verkauft.Auf meine Frage, woher sie das Leder bezieht, nennt sie einen italienischen Hersteller, der nur Pflanzen zur Färbung verwendet, und eine deutsche Firma, die ein weit weniger giftiges Chrom als das  Chrom VI. einsetzt. Das sei, so Silvia Proy, nicht gesundheitsgefährdend.  Leder aus China, Bangladesch oder Marokko verwende sie hingegen niemals. Dass ihre Produkte natürlich preislich nicht mit den Billigerzeugnissen mithalten können und daher nur von einer potenten Käuferschicht erstanden werden, lässt mich zur Hauptfrage des Dramas zurückkehren, in dem es immer nur um Gewinnmaximierung  um jeden Preis geht. „Wie kann ich aus dem Nest, dem ich als Bürgermeister vorstehe, einen reichen Ort machen, mit Flughafen und allen Annehmlichkeiten der schönen, neuen Welt?“ lautet die Frage des Bürgermeisters (exzellent in dieser Rolle: Mirco Kreibich), der sich zur Wiederwahl stellt. Als aalglatter Politiker (im blauen Anzug!) scheut er sich nicht davor, seinen eigenen Bruder, der als unbestechlicher Kurarzt seine Karriere gefährdet, zu feuern. Denn er will wiedergewählt werden. Um jeden Preis, und sei es auch um die Gefahr, dass Menschen durch das vergiftete Wasser zugrunde gehen. Seine Rede vor den Medienvertretern ist einer der  Glanz- und Höhepunkte in dieser Aufführung: Elegant legt er passend zu seinen Versprechungen eine Kür aufs glatte Parkett hin, Sprünge,elegante Walzerdrehungen, Stopps,  gerade so, wie es die passende Musik und die hochfliegenden Versprechungen verlangen.

Die Neufassung von Steckel ist voll von Anspielungen auf die prekäre aktuelle Weltlage und auf die politische Situation in Österreich. Politikerzitate, wie wir sie in letzter Zeit immer wieder hörten, Umweltkatastrophen, die Gier der Weltkonzerne und die Tatenlosigkeit der Wähler  – alles findet seinen Platz. Gegen Ende wird die Botschaft noch einmal direkt in die Gesichter des Publikums hineingepaukt. Da waren wir schon etwas müde der Rügen. Wie immer: Weniger wäre mehr gewesen. Schade ist auch, dass Steckel statt des harten Schlusses, wie ihn Ibsen schrieb – Dr. Stockmann verlässt mit seiner Familie das Land – einen positiven Ausgang wählte: Der Gerbereibesitzer entpuppt sich als deus ex machina, als Saulus, der zum Paulus mutiert: Er wird kein Chrom mehr verwenden, die Abwässer filtern und so dafür sorgen, dass das Wasser der Kuranstalt tatsächlich ein Heilwasser und kein Grifttrank ist. Dem zukünftigen Wohlstand steht daher nichts mehr im Wege. Ein ironischer Schluss??????

Begeisterter Applaus des Publikums.

Meine Empfehlung: Unbedingt anschauen und das Programmheft kaufen, das aufschlussreiche Beiträge zum Thema und zur Inszenierung beinhaltet.

www.burgtheater.at

Thilo Wydra, Ingrid Bergman. Ein Leben. DVA

Eine minutiös recherchierte Filmografie, das Biografische wird in der ersten Hälfte nur angerissen.  Über politische und private Probleme in Ingrid Bergmans Leben geht der Autor  anfangs elegant hinweg. Etwa über ihre Einstellung zu Hitler und den Nazis. Vielleicht um ihr Image zu retten, stellt Thilo Wydra sie als politisch naiv und uninteressiert dar, als eine Frau, die nur an ihrer Filmkarriere interessiert war. Ihre Ehen und Liebesaffären haben zwar weltweit für Aufsehen gesorgt, aber sie „sei für ihre Courage zu bewundern“, mit der sie sich über gesellschaftliche Schranken hinweg setzte. Durch die Reduktion auf eine fast reine Filmografie entsteht im ersten Teil des Buches in den wenigen privaten Einschüben der Eindruck, dass sie sich über Menschen, die für sie arbeiteten, die mit ihr lebten, ohne Skrupel hinwegsetzte. Kurzsichtigkeit in Sachen Weltpolitik ist ihr jedenfalls nicht abzusprechen.

Fans, die sich ausschließlich für ihre filmische Karriere interessieren, finden ausreichende Informationen. Interessant ist zum Beispiel  die Casablanca-Story, weil es davon viele Versionen gibt. So wurde etwa in Deutschland lange Zeit eine politisch gereinigte Version gezeigt, in der das Nazi-Deutschland nicht vorkommen durfte.

Ab der zweiten Hälfte des Buches widmet sich Thilo Wydra mehr dem Biographischen.

Sieben Jahre war Ingrid Bergmann unter Vertrag des Filmbosses David O. Selznick, der sie wie eine Arbeits- und Erfolgsmaschine an andere Produzenten verlieh und den Großteil der Gagen einstrich. Für viele Jahre arbeitete sie unter Alfred Hitchcock, bevor sie schließlich 1949 Roberto Rosselini kennen lernte.  Diesem schmerzvollen Abschnitt im Leben der Schauspielerin widmet der Autor viele Seiten. Ausführlich schildert er den Kampf der Schauspielerin -damals noch  verheiratet mit Petter Lindström –  um die Scheidung, dann um das Sorgerecht der Tochter Pia, die turbulente Zeit vor der Ferneeheschließung mit Roberto Rossellini, die Geburt ihres Sohnes und die Trennung von Pia. All diese Skandale zu überstehen, erforderte die ganze Kraft Ingrid Bergmans. Doch sie schaffte es, trotz aller Widrigkeiten, in Hollywood mit dem Film „Anastasia“ wieder Triumphe zu feiern. Sie wird bis zu ihrem Tod 2015 noch viele Erfolge feiern, sich von Rossellini scheiden lassen, Lars Schmidt heiraten und sich auch von ihm trennen. Das alles ertrug sie, weil sie ihre Arbeit hatte, die ihr alles bedeutete. Sympathie und Hochachtung, die der Autor der Schauspielerin und dem Menschen Ingrid Bergman entgegen bringt, ist deutlich zu spüren.

Wertvoll sind die Anhänge: Anmerkungen zu den Zitaten, Filmregister, Filmographie, Personenregister, Zeittafel und Bibliographie.

 

 

 

 

 

Shakespeare: Richard III. Im Bronski & Grünberg Theater

Ein neues Theater mischt auf! Klein, verwinkelt , in der Atmosphäre an die wunderbare Zeit der progressiven  Kellertheater erinnernd. Es geht in die zweite Saison und schon spricht die Theatergemeinde von ihm: „Warst du schon im Bronski?“ fragt einer den anderen. Alexander Pschill legt als einer der Leiter und Ideengeber das Konzept auf der Homepage dar: „Wir – Kaja Dymnicki, Julia Edtmeier, Salka Neber und Alexander Pschill wollen der Stadt ein neues Theater bieten, einen Ort frisch interpretierter, künstlerischer Unabhängigikeit.“ Was voll und ganz aufgeht! Die Inszenierung von Richard III. verblüfft, erheitert, reißt mit und ist – ganz neu gesehen!

Die Wände der Guckkastenbühne sind gleichsam Memos für Schauspieler und Zuschauer. Alle lebenden und schon lange toten Mitglieder der Yorks und Lancaster, Grafen und Bürgermeister sind auf der Wand mit ihrem jeweiligen Bühnenattributen aufgelistet. Dieses intelligente Bühnenbild von Daniel Sommergruber, der auch die Kostüme entwarf, spielt quasi mit, als Infotafel, die Tote und noch Lebende auflistet. Wenn Richard wieder einen lästigen Gegenspieler auf seinem Weg zum Thron um die Ecke gebracht hat, dann wird der Name mit roter Farbe ausgestrichen. Am Ende bleiben nur er und Bosworth über. Es kommt zum Showdown, das „Monster“, wie Richard von allen genannt wird, ist tot. So weit der Inhalt – sehr vereinfacht, in Wirklichkeit sehr kompliziert ( Den Inhalt von Verdis Troubadour zu durchschauen  ist dagegen ein Klax).  Nun kommt diese Aufführung mit sage und schreibe nur vier Personen aus. Josef Ellers ist Richard, großartig einfach: ein Monster, von dem man sich wünscht, er stürbe so rasch wie möglich. Mitleid hat niemand mit ihm, weder die Figuren um ihn, noch das Publikum. Josef Ellers spielt den Richard mit leichtem Buckel und verkrüppelter linker Hand, kriechierisch, schleimig und sehr überzeugend! Dann ist da noch David Jakob, der abwechselnd Frauen, den Bruder Georg, den Lord Buckingham großartig hinlegt. Ebenso großartig Sophie Aujesky und Johanna Rehm, die Männer, die beiden Prinzen (eine köstliche Parodie!), Bürger, Bürgermeister und Richmond und die beiden Frauen Elisabeth und Anne spielen, In Sekundenschnelle können sie von einer Rolle in die andere umsteigen. Immer ganz drin in der Rolle, kein „Danebenstehen“ oder „Deklamieren“. Man sieht Tränen der Trauer, Augen voll Zorn, Verachtung. Alle vier Darsteller von gleicher Intensität!

Für die intelligente Regie und Übersetzung ist Helena Scheuba zuständig. Sie bricht Shakespears Sprache sehr oft in die Niederungen unseres Alltags hinunter, um sie gleich wieder in poetische Ausschweifung à la Shakespeare zu heben. Das sorgt für intensive Spannung, ohne die Aufmerksamkeitsbereitschaft des Publikums zu überfordern.

Fazit: Richard III. sollte man nicht verpassen. Weitere Termine: 29., 30. November, 8., 9., 10. Dezember.

Und noch ein Fazit: Bronski ist ein Newcomer, den sich Theaterfans merken sollten.

www.bronski-gruenberg.at

Oscar Wilde: Bunbury. Theater Akzent

Ein herrlicher Spaß! Ich konnte mich nur wundern, wie aus der eher langweiligen Salonkomödie eine  e c h t e Komödie geworden ist. Das ist einerseits dem quirlig-energiegeladenen Ensemble und andrerseits dem Regisseur Hubsi Kramar zu verdanken. Der lässt nämlich, so erzählte er mir, bei der Probe jeden noch so absurden Einfall gelten und ins Spiel einsetzen. So entstand eine frische, auch in der Sprache (Textanpassung ebenfalls Hubsi Kramar) klug  runderneuerte Komödie. Aus der steifen Salonangelenheit wurde ein Superspaß. Wir im Publikum wurden über die selbstverliebten Sprachspielerein Oscar Wildes mit einer Leichtigkeit und frecher Subtilität getragen. Unterstützt wurde diese Art von Regie durch einfallsreiche Kostüme (von wem erfährt man leider im Programm nicht), die zwischen einst und jetzt mit witziger Übertreibung beider Stile sich einpendelten und einer Bühne, die aus einer  herrlichen Kitschromantik ausgiebig schöpfte (Markus Liszt). In diesem stimmigen Rahmen durfte Stefano Bernardin in einem seiner Lieblingsoutfits – dem Pyjama – frech und respektlos als Algernon agieren. In dieser Figur stecken ja die meisten Zitate Oscar Wildes, sie ist so zusagen sein Sprachrohr. Und Bernardin  macht daraus eine Kunstfigur, die eher im Heutigen angesiedelt ist. Der Sprachwitz wird durch eine heutige  Gestik und überschäumende Choreografie verstärkt, manchmal sogar überdeckt, was aber nicht stört, im Gegenteil. Ähnlich agieren auch Maddalena Hirschal als vorsichtig aufmüpfige Gwndolen und Dagmar Bernhard als verspielte Cecily. Star des Abends ist aber ganz sicher Lucy McEvil als Lady Bracknell. Lucy, eine der schillerndsten Bühnenfiguren der Wiener Theatersezne, kann hier ihre Stärken voll ausspielen: Als Lady Bracknell ist sie Frau, aber in Bewegung und Aktion ein Mann. Herrlich, wie sie im 2. Teil das Bühnengeschehen körperlich und geistig überragt: Sie dirigiert, weiß die Fäden zu ziehen und den Knoten zu lösen..

Aufführungen noch am 2. und 5. Dezember. Nicht versäumen! www.akznt.at

Susanna Ernst: Der Herzschlag deiner Worte. Knaur

Mhmmm, schwierig zu besprechen. Susanna Ernst ist nicht Rosamund Pilcher, aber auch nicht Elsa Ferrante oder Julie Zeh. Auch nicht Charlotte Link. Für mich, die ich gar keine Scheu vor Kitsch habe, ist dieser Roman doch  zu kitschlastig. Eines steht fest: Susanna Ernst kann ganz gut schreiben, der Plot fließt nur so. Aber so viel Tod, Krankheit, Liebe und vor allem Tote, die auf die Erde runtergucken und ihren Lieben beim Leben zuschauen, das muss man aushalten.

Ein Mann -Vincent – stirbt plötzlich auf dem Golfplatz. Bei der Beerdigung sind sie alle versammelt: Sohn Alex, der gar nicht sein Sohn ist, Tochter Cassie, seine Exfrau und die geheimnisvolle „Tante Jane“, die im Rollstuhl sitzt und an einer todbringenden Krankheit leidet. Sie kann nicht mehr sprechen, nur mehr durch ihre Augen mit einem Computer kommunizieren. Aber sie hat die Fäden der Vergangenheit in der Hand. Nur sie kann die vielen Rätsel lösen und Alex zu seiner großen Liebe namens Maila führen. Der Leser ahnt sehr bald: Diese Maila ist sicher die Tochter von Jane und Vincent – beide werden sich als Untote, später Ganztote im Jenseits finden. Als alle Rätsel gelöst und Hindernisse beseitigt sind, da sieht man Alex mit Maila glücklich lächelnd im Bett liegen. Zwischen ihnen seine zweijährige Tochter, die während einer kurzen früheren Beziehung gezeugt wurde. Auf die drei Glücklichen blicken Vincent und Jane aus dem Jenseits, nein eher Halbjenseits. Klingt komplizerter als es ist.

 

 

Adriana Lecouvreur (Francesco Cilèa) an der Wiener Staatsoper

Ein Abend der höchsten Qualität! Anna Netrebko als Adriana: Wenn sie die berühmte Arie „Ecco: respiro appena“ singt, dann vergißt man, dass man in der Oper sitzt- sie ist die Magd, die sich der Kunst und dem Künstler, der sie schafft, unterordnet, eine bescheidene Interpretin. In dieser zarten, innigen Arie setzt Netrebko ihr höchstes Können ein: feine, zarte Töne, tiefe, warme, um dann zu strahlenden Höhen aufzusteigen. Ihre zweite große Arie „Poveri fiori“ ist geprägt von Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, – ganz wunderbar wechselt sie zu intensiver Lebenslust, als  Maurizio, Conte di Sassonia, voller Reue zu ihr zurückkehrt und ihr seine Liebe gesteht. Doch zu spät  – Adriana stirbt in seinen Armen nach einem hinreißend schönen Liebesduett. Keine stirbt so schön wie Anna!

Piotr Beczala ist ihr congenialer Partner, mit strahlendem Tenor und sicherern Höhen singt er den Conte.

Die herrlichen Melodien dieser Oper brachte das Wiener Staatsopernorchester unter Evelino Pidò voll zur Geltung.

Blumenregen und minutenlanger (12?, 15?) Applaus.

www.wiener-staatsoper.at

Stephanie Butland, Ich treffe dich zwischen den Zeilen. Knaur Verlag

Mit viel sprachlichem Einfühlungsvermögen erzählt die Autorin von einer jungen Frau, die mit 10 Jahren von einem Moment auf den anderen beide Eltern verliert: Der arbeitslose Vater quält und schlägt seine Frau. Das Kind mit dem ungewöhnlichen Namen Loveday liebt ihn trotz allem, fürchtet zugleich um ihre Mutter. Als sie eines Tages von der Schule nach Hause kommt, hat die Mutter aus Notwehr den Ehemann mit der Bratpfanne erschlagen. Von da an wird das Leben für Loveday zur Qual. Die Mutter kommt ins Gefängnis, sie zu einer Pflegemutter, die sich alle Mühe mit dem Kind gibt, das sich von der Umwelt verschließt, kaum spricht und keine Kontakte, auch nicht mit der Mutter, will. Erwachsen geworden arbeitet sie in einem Buchladen, den der schrullige Archie führt. Loveday liebt Bücher, lässt sich die Anfangssätze ihrer Lieblingsbücher in die Haut tätowieren. Um ihr Äußeres kümmert sie sich nicht, rennt in alten Klamotten durch die Gegend. Einmal lässt sie sich auf eine kurze Beziehung ein, doch Rob ist wegen Gewalttätigkeit in Behandlung. Loveday verlässt ihn, er aber lässt nicht locker. Aus Angst vor körperlicher Nähe lässt sie auch Nathan, den liebenswerten Zauberer und Slum-Poet nicht an sich heran. Sie zieht sich vom Leben zurück, nur mit ihrem Chef  Archibald versteht sie sich einigermaßen. Der nämlich lässt sie gewähren.

Als eines Tages Bücher ihrer Mutter vor dem Laden garagiert werden, kocht die ganze Vergangenheit auf.

Wie aus der äußerst fragilen Person mit allen Ängsten und Aggressionen eine Frau wird, die wieder lieben kann, beschreibt die Autorin großartig. Ihre Sorache ist frech, aufmüpfig und hochsensibel zugleich.

„Dionysien“. Das Landestheater Salzburg im Festspielhaus Salzburg

Carl Philip v0n Maldeghem, seit 2009 Intendant des Salzburger Landestheaters, hatte den genialen Einfall, das antike Fest des Gottes Dionysos,  die so genannten „Dionysien“ nach Salzburg zu verlegen. Dazu mietete er sich im Festspielhaus ein und lud das Publikum zu einem vierstündigen grandiosen Fest ein.Dionysos war der Gott des Weines, des Rausches, des Frühlings und der Ekstase. Für ihn wurden alljährlich mehrtägige Feste mit Tragödien, Komödien und Satyrspielen aufgeführt. In Thrakien, von wo der Dionysoskult seinen Anfang nahm, soll es ja besonders wild zugegangen sein. Im Frühjahr, wenn die Natur erwacht, zog er mit seinem Frauengefolge, den Mänaden, durch die Lande. Kein Mann durfte den Mänaden und den Frauen, die sich diesem Festzug anschlossen, seine sexuellen Dienste verweigern!

So wild und ungezähmt ging es natürlich im Festspielhaus nicht zu. Aber doch waren Grenzen, Normen, Gebräuche gebrochen. Gemäß dem antiken Fest sah man Tragödien und am Ende eine Komödie, die in ERinnerung an  die dionysische Ekstase in eine wilde Tanzparty ausufern sollte. Eben nur „sollte“. Denn leider zog es die meisten Leute nach Hause vor den Fernseher und nicht auf die Bühne, wo die Darsteller die Zuseher zu einer schaumgebremsten Art des Dionysostanzes aufforderten.

Alles begann sehr tragisch: Prometheus – wir sind in der Tragödie des Aischylos -, der eigentlich im Götterstreit auf der Seite von Zeus stand, wird gerade von diesem dazu verurteilt, auf ewig an einen Felsen im Kaukasus gekettet, sein Leben auszuhauchen. Denn im Kampf um die absolute Weltmacht gefiel es Zeus überhaupt nicht, dass Prometheus den Menschen das Feuer brachte  und sie verschiedene Überlebenskünste lehrte. Da könnten ja die Menschen mächtiger als die Götter werden, war die Angst des Potentaten. Zeus selbst hat genug mit seinen Frauengeschichten zu tun: Als  göttlicher Stalker stellt er der schönen Io nach. Weil diese nicht willig ist, verwandelt er sie in eine Kuh, die von einer Bremse dauergeplagt wird. Wem fallen da nicht die Parallelen zu heute ein? Der Mann bleibt ungeschoren, das Opfer wird von der Umwelt stigmatisiert (gestochen). Prometheus jedoch weiß sich zu retten. Unter Blitz und Donner kommt er frei. Über bleibt die arme Io mit ihren Hörnern und ihrem Quälgeist. Unter der Regie des Intendanten spielt Christoph Wieschke einen beeindruckend starken Helden, Nikola Budle eine komisch-tragische Io. Auch die anderen Figuren dieser antiken Tragödie sind stark besetzt. Maldeghem, der hier selbst Regie führt, weiß, wie man einen antiken Stoff in die heutige Zeit transportiert. Auch das Bühnenbild von Stehanie Seitz ist in seiner monumentalen Schlichtheit beeindruckend: Prometheus hängt an einer glatt gehämmerten, silbrig glänzenden Aluwand. Unter ihm streiten Götter, Halbgötter und Menschen. Man könnte auch in der Interpretation noch ein Stück weiter gehen und in Prometheus einen Christus sehen, der gekreuzigt und dann befreit, den Menschen ihre Würde bringt.

Auf die Tragödie folgte ein stark wirkungsvolles Handlungsballett: Medea – der Fall M. Nach der Tragödie von Euripides gestaltete der neue Ballettdirektor des Salzburger Landestheaters, Reginaldo Oliveira,  eine gewaltige, sehr sensible Choreographie, die niemand im Zuschauerraum unberührt ließ! Anna Yanchuk tanzte eine zarte, vom Schicksal gebeutelte Medea, die aus Eifersucht Creusa umbringt, um die Liebe Jasons vergeblich bettelt und die Kinder erwürgt, um Jason besonders tief zu verletzen. Nervenaufreibend sind die Pas de deux zwischen Medea und Jason (Flavio Salamanka). Fast unerträglich  anzusehen der Schmerz Medeas nach der ERmordung ihrer Kinder. Gefangen in einem riesigen Stuhl, wie in einem Folterinstrument, überlässt sie sich ihren Qualen. Fast schon dem Tode nahe wird sie von Jason aufgehoben. Diesen Abschiedstanz zwischen den beiden muss  man durchaus zu den Sternstunden des modernen Balletts zählen.

Danach brauchten Darsteller und Publikum eine Pause! Es gab griechische Schmankerln frei Haus! Bei Feta, OLiven und Weintrauben wurde heftig über die Stücke diskutiert.

Nach der Pause war „Oedipus Rex“, das Opernoratorium nach Sophokles zu erleben. Strawinsky komponierte die Musik zu dem Libretto von Jean Cocteau. Jean Daniélou übertrug das Drama ins Lateinische. Der Intendant Maldeghem inszenierte ein Gesamtkunstwerk aus Oper, Schauspiel und Tanz, choreographiert von Oliveira. Ödipus im weißen Anzug ist ganz der eitle und selbstbewusste Politker, der liebend gerne die Hände seiner Anhänger schüttelt, sich dann sofort seine eigenen desinfiziert. Alles lobt und preist ihn – eindrucksvoll der Chor der Thebaner, die in ihm den Retter der Stadt sehen. Doch die Pest geht um. Schuld daran ist der Mörder des König Laos.  Dass Ödipus seinen eigenen Vater umgebracht, die Mutter Jokaste geheiratet, mit ihr Kinder gezeugt hat, wissen wir längst, lange vebor er selbst erfährt, dass er der Mörder seines Vaters ist. Die Überheblichkeit des Menschen, der alles für machbar hält, nannten die Griechen Hybris. Um die geht es. Und um die Einsicht, dass der Mensch gegen  (damals göttliche, heute menschliche) Gewalt der Mächtigen nichts ausrichten kann.

Nach so viel schwerer Kost kam in der Antike der Komödienschreiber Aristophanes auf die Bühne und erheiterte die Zuschauer mit Zoten und Witzen weit unter der Gürtellinie. Das wurde so gefordert. Das Spiel „Frieden“ nach Aristophanes fiel in Salzburg etwas weniger derb aus. Wieder führte Maldeghem Regie und er ließ keine noch so große Peinlichkeiten aus. Und zwar bewusst und herrlich provokant.Der Bauer Trygaios (Tim Obrließen) hat genug vom Krieg. Er reist mit seinem Mistkäfer – einem ausrangierten VW in Kleinformat -in den Olymp, um sich bei den Göttern über den Krieg zu beschweren und die Göttin des Friedens mit auf die Erde zu nehmen. Doch leider, leider sind die Götter ausgeflogen, sie haben vom Krieg und den Menschen genug. Keiner Zu Hause im Götterhimmel. Pax, die Freidensgöttin, hat sich in einen Keller verkrümmelt und keine Lust, auf die Erde zu kommen. Doch der tapfere Trygaios hieft sie gewaltsam auf die Erde – und eine Riesenparty beginnt. Unter dem Geklatsche, Gelächter des Publikums wird getanzt bs in den Abend hinein (Das Stück begann zm 15h) Wann Ende war, weiß ich nicht, da ich den letzten Zug der Westbahn um 20h erreichen musste.

Meine dringende Anfrage an die Festspielpräsidentin Rabl-Stadler: Könnte man diese tolle Inszenierung nicht in das Festspielprogramm 2018 aufnehmen? Da geht es seit dem Abgang von Alexander Pereira ohnehin viel zu bierernst zu!

Noch zu sehen bis 21. November 2017. www.salzburger-landestheater.at

 

Matthias Goerne/ Alexander Schmalcz: Winterreise. Festspielhaus St. Pölten

Der Liederzyklus nach den wunderbaren Texten von Wilhelm Müller ist für jeden Liedsänger eine Herausforderung. Matthias Goerne, zur Zeit einer der besten, wenn nicht überhaupt der beste Interpret der „Winterreise“, bewies wieder einmal seine hohe Liedkunst und sensible Interpretation. Begleitet von dem hervor-ragenden Pianisten Alexander Schmalcz führte er sein Publkum in die tiefsten Tiefen, dort der Tod das Leben bedroht, vielleicht auch sanft in eine andere Zeit und in ein anderes Sein hinüberführt. Doch etwas lief irgendwie unrund. Ich hatte gleich das Gefühl, Goerne steigt nicht voll ein. Dann -vor dem „Lindenbaum“ – unterbricht er, weil er sich von dem Geräusch der Klimaanlage gestört fühlt und er sich nicht konzentrieren könne. Er eilt hinaus, kommt lange nicht wieder, tritt auf, horcht, nein, es passt immer noch nicht. Geht wieder ab. Dann endlich war er zufrieden und konnte sich voll auf die Interpretation konzentrieren. So beginnt er den Lindenbaum zärtlich, unpathetisch, um dann die „kalten Winde“ um so härter blasen zu lassen. Fast schon überirdisch zart  erklingt  das „Irrlicht“. Goerne  spielt mit dem leisen, hohen Ton des I, wenn er das Leben als eines „Irrlicht Spiel“ an den Zuhörern vorbeiziehen lässt. Der abrupte Wechsel von zarter, zärtlicher Imagination und dem Wechsel in die Kälte des Lebens liegt Goerne ganz besonders, etwa im „Frühlingstraum“. Stark und fast frohlockend beginnt „Die Post“. Wenn zunächst das  Herz hoffnungsfroh „aufspringt“, dann bricht es an der Hoffnungslosigkeit, um am Ende nur noch in einer Frage nach der verlorenen Liebe ganz leise zu schlagen. Eine lange Pause leitet das Lied „Die Krähe“ ein. Es rauscht die Todesahnung im Gefieder des Vogels, und die Einsamkeit schlägt über dem Sänger zusammen. Diese unerträgliche Einsamkeit verbindet ihn mit dem „Leiermann“, dessen von niemandem gehörte Melodie durch Matthias Goerne zum Gebet des Lebens wird.

Ein unvergesslicher Abend!

Macmillan/Mcgregor/Ashton – Ballettabend an der Wiener Staatsoper

Der dreiteilige Ballettabend ist ganz der Tradition des britischen Balletts gewidmet und bietet für jeden Geschmack etwas: Den schwungvollen Auftakt macht Kenneth Mac Millan mit seiner Choreographie „Concerto“ nach  Schostakowitsch, Klavvierkonzert Nr.2. Dirigent : Valery Ovsyanikov. Am Klavier hervorragend: Igor Zapravdin, der langjährige Ballett-Korrepetitor an der Wiener Staatsoper.. Ein Reigen in Blau und Lila, interessante Abstraktionen, bei denen es vor allem um die exakte Gleichheit der Gruppe und die tänzerischen Qualitäten der Solisten geht. Denys Cherevychko zeigt seine  ausgezeichnete Sprungkraft,  Nina Polakova und Roman Lazik brillieren mit romantischen Hebefiguren, Alice Firenze legt ein spannendes Solo hin.

„Es folgte“Eden“ -Musik von Steve Reich aus der Konserve – ist ein interessantes Projekt von Wayne McGreor aus 2006. Eden ist kein Paradies, die Menschen sind kaputte Engerlinge, die sich in ihrer Existenz winden. Ein dürrer Baum auf der Bühne, ein Kreis, in dem die Tänzer gefangen sind, alles ein wenig verwirrend.

Den Abschluss bildete das einst vom Publikum favorisierte und durch das Traumpaar Nurejew -Fonteyn zu Weltruhm gelangte Ballett: “ Marguerite and Armand“ – eine Kurzversion des Romans „Die Kameliendame“ von Alexandre Dumas. Jakob Feyferlik ud Liudmila Konovalova tanzten nach der Musik von Franz Liszts Klaviersonate h-Moll das Liebespaar mit voller Hingabe. Dennoch haftet der Inszenierung und der Choreografie etwas leicht Altmodisches an. Aber was soll`s – Liebestragödien sind immer ein Garant für Erfolg.

Lang anhaltender Applaus und begeisterte Bravorufe!

www.staatsoper.at. Nächste Vorstellungen: 10. November 2017 und 8. Juni 2018.

Aischylos: Die Perser. Akademietheater

Michael Thalheimer gilt als radikaler Regisseur, der tief in das Fleisch eines Stückes schneidet. Seine Inszenierungen an der Burg – Elektra von Hofmannsthal oder Jelineks Schutzbefohlene – tragen den Stempel eines unerbittlichen Regisseurs, der bis an die Grenzen geht. So auch in „Die Perser“ von Aischylos. Auf der kahlen Bühne (Olaf Altmann) schreitet Atossa, die Mutter des König Xerxes und Witwe des Darius, (Christiane von Poelnitz) in einem Goldgewand mit langer Schleppe langsam an die Bühnenrampe. Dort verharrt sie lange, reglos. Sie strahlt Macht aus, schließlich ist sie die Mutter des Perserkönigs Xerxes. Dann beginnt der Chor des Ältestenrates -gesprochen von nur einer Person, nämlich Falk Rockstroh, die Lage des Reiches zu bejammern: Nur mehr Frauen, Alte und Kinder sind über, alle wehrfähigen Männer des Reiches sind mit Xerxes in den Krieg gezogen. Noch immer bleibt Atossa ruhig, fragt nicht. Steht, wartet, wissend, dass das Schicksal – oder die Götter – bitter zuschlagen wird. Ihre Ahnung bestätigt sich: Ein Bote (Markus Hering) bringt die Kunde von der Vernichtung des Heeres. Nur wenige sind davongekommen, darunter auch Xerxes. Nach einer Klage des toten Darius (Branko Samarovski) über die Hybris seines Sohnes, der durch sein unbedachtes und überhebliches Handeln das Heer in den Untergang geführt hat, erscheint Xerxes. Nackt, blutüberströmt schleppt er sich vor zur Mutter, die ihn in sprachloser Starre auf ihren Schoss nimmt. Unter langandauernden Neinrufen des Altenrates versinkt das Bild der Pietà vor den Augen des Publikums.

Was diese Aufführung so besonders auszeichnet, ist die grandiose Sprachdisziplin aller Schauspieler. Die Bearbeitung-Übersetzung von Durs Grünbein erfasst sehr gut den Rhythmus, sagen wir salopp den Sound der griechischen Tragödie. Diesen aufzunehmen und immer verständlich zu bleiben, ist der eine große Verdienst der  Aufführung. Dass die Schauspieler den Text bis an die Grenze des Erträglichen ausspielen, ohne in hohles Pathos zu verfallen, wie das oft bei griechischen Tragödien passiert, ist der zweite große Verdienst. Dass keine moralischen Floskeln über Gut und Böse gedroschen werden, sondern der Krieg in seiner unfassbaren Wucht dargestellt wird, ist der dritte Verdienst – des Regisseurs. Ob das nun von Aischylos als Antikriegsdrama geschrieben wurde oder nicht, wie im Programmheft heftig diskutiert wird, ist nicht wirklich von Belang. Der Krieg, ausgelöst von einem unberechenbaren Herrscher wie Xerxes einer war, lässt an andere politische Figuren – vergangene wie Hitler oder gegenwärtige wie Trump – denken.

Sehr sehenswert.

www.burgtheater.at

 

Igor Stravinsky: Petruschka,Movements und der Feuervogel. Ballettabend in der Wiener Volksoper

Ein Abend, an dem das Ensemble des Wiener Staatsopernballetts mit tänzerischer Überzeugungskraft und choreographischen Einfällen brillieren konnte. David Levi, an der Volksoper häufiger Gast, dirigierte mit viel Einfühlungsvermögen die Musik Stravinskys.

Petruschka – Ballettmusik Igor Stravvinsky, 1911

Eno Peci, seit 2009 Solotänzer des Balletts der Wiener Staatsoper und erfolgreicher Choreograph, formte die ursprüngliche Choreographie von Michael Fokin congenial zu einem Thema unserer Zeit um: Aus dem armen Schausteller Petruschka, der an der Grausamkeit des Gauklers und des Jahrmarktpublikums leidet, wird der Lehrer, der von seinen Schülern attackiert, von der Direktorin verhöhnt und schließlich von Frau und Kind verlassen wird. Er verschwindet ins Nichts, aufgelöst und gemartert. Andrey Teterin war ein überzeugender Lehrer, furios in seinem Kampf gegen die wilde und aggressive Horde der Klasse, die  ganz exzellent eine toll gewordener Breakdance – Performance hinlegte. Natascha Meir tanzte die zarte, hilflose Ehefrau des Lehrers, die an dem Berufsstress und der Existenzangst ihres Mannes verzweifelt. Weniger überzeugte Nikisha Fogo als Direktiron. Trotz ihres gelbschwarzen Kostümes (Pavol Juras), das sie als giftig- gefährliches Tier auswies, blieb dieser Effekt aus.

Movements to Stravinsky

Dem ungarischen Trio Andras Lukacs (Choreographie, Bühnenbild), Monika Herwerth (Kostüme), Attila Szabo (Licht) gelang ein außergewöhnlich inniges, ganz auf die Schönheit der Bewegung und des Tanzes ausgerichtetes Ballett. Vor einem silbergrauen Hintergrund schritten, tanzten oder bewegten sich in bewusster Langsamkeit Paare oder vereinzelte Tänzer. In den schwarzen Kostümen, die Teile des Körpers frei ließen, wurden die Tänzer zu emblematischen Figuren. Hell angeleuchtet vor einem schwarzen Hintergrund wurde der Effekt dann farblich umgedreht. Die sehr meditativen Musikstücke (z.B. Pulcinella Suite oder Suite Italienne) wurde von David Levi mit aller Achtsamkeit dirigiert.

Der Feuervogel -Stravinsky 1910

Es durfte auch gelacht, zumindest geschmunzelt werden, obwohl das Thema bitterernst ist. Andrey Kaydanovskiy machte aus dem russischen Volksmärchen eine aktuelle Parodie, Groteske auf das Ringelspiel der Macht. Ivan, in dem lächerlichen Kostüm eines Huhns, verteilt Flyer zur Eröffnung eines Kaufhauses. Verwundert und fasziniert von der Welt hinter den Scheiben des neuen Einkaufstempels, dringt er mit Hilfe des Feuervogels ein und wirbelt Putztrupp, Verkäuferinnen und Waren durcheinander. Schließlich tötet und entmachtet er den grausamen Boss. Aber statt eine neue, menschenfreundliche Führung  einzuläuten, übernimmt er mit dem Mantel des Getöteten seine Strategien: Unmenschlichkeit und Grausamkeit. Der Feuervogel, der ihm bis dahin geholfen hat, verschwindet. Andrey Kaydanowskiy übernahm selbst den Part des Bosses. Sein Tanz drückte Gier, Herrschsucht und am Ende die Verzweiflung des Verlierers aus. Massyu Kimoto entwickelte die Figur des Ivan: aus dem tumben Tor wird der Machtpolitiker. Kaydanovskiy machte aus dem Märchen eine aktuelle Analyse über das Scheitern aller Revolutionen: Niemand ist frei von Korruption, sobald er die Macht in den Händen hält. Für Heiterkeit sorgt der furiose Tanz der Putzfrauen und die traurige Phalanx der Verkäuferinnen. Die Groteske am Rande des Abgrundes erschreckt am Ende durch ihre Aktualität.

Begeisterter Applaus und Bravorufe!

Mein Rat: Unbedingt die Kommentare im Programmheft lesen. Hilft für das Verständnis!

Wiederaufnahme im April 2018. Infos zum Spielplan: www.volksoper.at

 

 

 

 

 

Joseph Lorenz las die Novelle „Lenz“ von Georg Büchner.

Anlässlich des 180. Todestages von Georg Büchner las Joseph Lorenz die Novelle „Lenz“ im Alumni Club der Medizinischen Universität Wien. Wer sonst als Lorenz könnte es wagen, diese poetische Analyse eines beginnenden Wahns zu lesen? – Nein nicht lesen, leben, erleben lassen. Sich in die Person des vom Wahn getriebenen jungen Dichters Lenz hineinwerfen, mit ihr verschmelzen. Seinen Kampf mit der Sprache, wenn ihm die Worte fehlen, er den Anfang eines Wortes nicht findet, sucht, aufgibt –  schreit,  mit Grimmassen der Verzweiflung seine Umgebung in Schrecken versetzt – all das nicht nur lesen, sondern leben. Wie kein anderer kann Joseph Lorenz das Publikum vergessen lassen, dass es sich um eine Lesung handelt. Es ist Schauspiel, das in seiner Unmittelbarkeit zum EReignis wird. Präzise zuerst die Beschreibung der Natur, die dem Dichter Lenz mehr Bedrohung als Trost ist. Dann die ersten Worte Lenz` an den Pfarrer – ein Suchen, ein Stottern, lange Pausen, in denen es im Hirn des Dichters arbeitet, er nach Klarheit sucht. Klarheit, die nimmer mehr sein wird. Verzweiflung und viele Versuche, sich zu Tode zu bringen. Sie gelingen nicht. Schließlich der Rücktransport in der Kutsche – zurück in ein Leben, das keines ist. „und so lebte er dahin..“ Mit diesen Worten – ganz ruhig und langsam gesprochen – entlässt Joseph Lorenz ein Publikum, dem er fast in Trance diese traurige Figur des Dichters vor Augen führte.

Styne-Laurents-Sondheim: Gipsy. Volksoper

Was kann man anderes über diese Aufführung sagen als: GROSSARTIG! Unter der intelligenten Regie von Werner Sobotka wirbelt ein exzellentes Ensemble in witzigen Kostümen (Elisabeth Gressel) über eine schlichte, aber passend eingerichtete Bühne (Stephan Prattes). Die Musik von Jule Styne ist mitreißend, leider sehr oft von Lorenz Aichner zu laut dirigiert, so dass Maria Happel in ihren Soli die Stirnadern hervortreten und der Schweiß in Strömen rinnt. So sehr muss sie sich plagen, um das Orchester der Volksoper Wien zu übertönen. Dennoch: Maria Happel ist das Zugpferd des ganzen Ensembles, das durch die Bank perfekt besetzt ist.

Rose (Maria Happel) ist eine ehrgeizige Mutter, die ihre beiden Töchter Louise und June zunächst als Kinderstars groß herausbringen will. Livia Ernst als Baby June singt und tanzt wie eine Große, Sophie-Maria Hoffmann spielt gut Baby Louise, die im Schatten ihrer Schwester steht. Doch aus den Babys werden junge Damen, eine neue Show muss her. Verzweifelt reist die Gruppe wie die „Zigeuner“ ( „Gipsy“) von Stadt zu Stadt zu diversen Castings, begleitet vom getreuen Agenten Herbie (großartig Toni Slama), bis schließlich June (als Erwachsene: Marianne Curn) die Truppe verlässt und heiratet. Nun „managt“ Rose ihre unbegabte Tochter Louse (sensibel und beeindruckend : Lisa Habermann). Wenn Rose ihren Song anhebt: „Ich hatte einen Traum“, dann erinnert man sich an den Mann von La Mancha. Beide Figuren verbindet die Verweigerung der REalität und das unbeirrbare Festhalten an einem Traum. Auch musikalisch fühlt man sich an dieses wunderbare Musical aus den 60er Jahren erinnert.

Werner Sobotka gelingt es, einen feinsinnigen Abend auf die Bühne zu bringen, in dem er die Doppelbödigkeit des Stückes zelebriert: Einerseits gibt es Lachnummern zum Brüllen – etwa den Tanz mit der Kuh. Zugleich aber spürt man dahinter die ganze Tragik eines missglückten Kunst- und Lebenskonzeptes und die brutale Härte im Showbusiness.  Über den manischen Hang der amerikanischen Tanzszene zum Kitsch darf ausgiebig geschmunzeltt werden.  Sobotka scheut sich auch nicht, wirklich berührende Szenen bis an die Grenze ausspielen zu lassen, ohne dass es je peinlich wird. Etwa in der Tanzszene zwischen Tulsa (Peter Lesiak) und Louise: Tulsa studiert eine eigene Nummer ein, tanzt auch die fehlende Figur der Frau, merkt nicht, wie sehr Louise diese Partnerin sein möchte. Louises Figur ist neben Rose die zweite großartige Frauenfigur: Vom unbegabten Entlein steigt sie zum erfolgreichen Striptease-Star auf. Die Wandlung gelingt Lisa Habermann mehr als überzeugend. Zum Intensivsten gehören die Szenen zwischen Herbie und Rose: Er liebt sie, hält treu zu ihr und unterstützt ihren „Traum“ so lange, bis sie Louise zwingt, als Stripperin aufzutreten und  ihn im Hochzeitsanzug und mit dem Brautstrauß in der Hand – Rose hat endlich in die Heirat mit ihm eingewilligt – brutal stehen lässt. Die Abschiedsszene gehört ebenfalls zu den berührender Glanzszenen dieser überaus gelungenen Inszenierung. Am Schluss steht Rose in einem schäbigen Mantel vor den Trümmern ihres eigenen Traumes: Was sie von ihren beiden Töchtern abverlangte, nämlich Stars zu werden, war eigentlich ihr Wunsch seit Kindheit an. In verzweifelter Irrealität sieht sie sich am Ende als zukünftigen Star.

Begeisterter Applaus und Bravorufe!

Spielplan und Infos: ww.volksoper.at

Pierre Lemaitre, Drei Tage und ein Leben, aus dem Französischen Tobias Scheffel. Klett-Cotta Verlag

Ein Kriminalroman mit umgekehrten Vorzeichen: Der Mörder ist der 12jährige Antoine. Enttäuschung, Zurücksetzung und Spott seiner heimlich angebeteten Nachbarin machen ihn so wütend, dass er den sechsjährigen Nachbarbuben Rémi mit einem Stock erschlägt. Das erfährt der Leser gleich auf den ersten Seiten. Im rasanten Erzähltempo geht der Autor sofort in medias res. Dann zieht er gleichsam die Notbremse. Langwierige Untersuchungen, Verdächtigungen – Antoine lebt in Dauerangst, als Mörder entlarvt zu werden. Er ist zeitweise froh, dass es einen Verdächtigen gibt und hätte keine Silbe zu dessen Freilassung gesagt. Die Jahre vergehen, er glaubt sich sicher, studiert Medizin und meidet das Dorf seiner Kindheit. Doch dieses holt ihn zurück – widerwillig muss er das Nachbarmädchen heiraten, da sie von ihm schwanger ist. Einem Vaterschaftstest kann und will er sich nicht unterziehen, da man inzwischen die Leiche und an ihr ein Haar des Täters gefunden hat. Anhand des Gentestes könnte er als Mörder entlarvt werden. Sein Leben besteht nun aus der traurigen Routine eines Landarztes und eines lieblosen Ehemannes, bis am Schluss eine neue Wendung eintritt…

Lemaitre ist ein Meister der Charakteranalyse, die er streckenweise all zu sehr auf die Spitze treibt. Durch häufigen Tempowechsel – einmal geschieht viel auf wenig Seiten, dann lange, auf vielen Seiten fast gar nichts – hält er den Leser, der vielleicht schon aufgeben will, bei der Stange. Der Roman ist aber mehr als ein „Landkrimi“. Vielmehr liest er sich als kritische Studie eines Dorfes und seiner Bewohner, die in Bespitzelung, Brutalität und Dumpfheit dahinleben. Jeder mit einer anderen Lebenslüge auf dem Buckel.

 

Ernst Lothar, Der Engel mit der Posaune. Theater in der Josefstadt

Gleich vorweg: Dieses schwierige und gigantische Projekt konnte nur dank der gelungenen Bühnenfassung von Susanne F. Wolf gelingen. Den Roman, der über 500 Seiten umfasst und die Geschichte einer Wiener  Familie von  1889  (Selbstmord des Kronprinzen Rudolf) bis zur Machtübernahme der Nazis,  packend auf die Bühne zu bringen, ist schon eine Meisterleistung. Dazu muss noch gesagt werden: Ohne die wirklich überzeugende und concise Leistung des Ensembles wäre auch die beste Bühnenfassung zum Scheitern verurteilt gewesen.

Im rasanten Szenenwechsel (Regie:Janusz Kiza) läuft das Geschehen ab. Wer den Roman nicht kannte, hatte wahrscheinlich Schwierigkeiten, die schnellen Übergänge richtig einzuordnen.  In der  Annagasse 10, dem düsteren und nicht sehr komfortablen Stadtpalais (das Bühnenbild von Karin Fritz glich aber eher einer schwarzen Fabriksruine) herrscht Empörung, Aufregung: Franz Alt, Chef der Klavierfabrik, heiratet Henriette Stein. Sie ist jung, schön und entspricht so gar nicht der Vorstellung von Ehefrau, die sich die Familie für Franz wünscht. Henriette, die mit Kronprinz Rudolf ein schwärmerisch-romantisches Verhältnis hatte, heiratet aus Vernunftsgründen. Michael Dangl als Franz Alt und Maria Köstlinger als seine Frau Henriette liefern ein subtiles Kammerspiel: der junge Franz, blind verliebt, Henriette kühl, abweisend. Mit den Jahren wächst die Distanz zwischen den beiden. Henriette hat nur Verachtung für ihren Ehemann. Er bleibt ihr treu ergeben, tötet im Duell Henriettes Liebhaber. Doch im Alter – er schwer von einem Schlaganfall gezeichnet – finden sie zusammen und knapp vor seinem Tod erkennt Henriette, wie tief Franz sie trotz allem geliebt hat. Diese Sterbeszene war geprägt von hoher Schauspielkust und tief berührend.

Eingerahmt wird das Familiengeschehen von den politischen EReignissen: Der Selbstmord Rudolfs, der Henriette schwer belastet, die ERmordung der Kaiserin, die Ermordung des Thronfolgerpaares, der Erste Weltkrieg, der Tod des Kaisers, der Zusammenbruch der Monarchie, die Machtübernahme der Nazis in Österreich. Die unterschiedlichen Reaktionen der Familienmitglieder reflektieren stellvertretend die verschiedenen politischen Haltungen und Figuren, wie sie für die Monarchie typisch waren: Otto Eberhard Alt (- sehr gut von André Pohl verkörpert) ist der knöcherne Beamte, dem Gesetzestreue über alles geht. Die Kinder von Henriette und Franz spiegeln die Generation aus der Zeit nach dem Zusammenbruch der Monarchie: Hans  (Alexander Absenger) der Idealist und  Romantiker, letztendlich der einzige, der dem Naziterror Widerstand leistet, Hermann (Matthias Franz Stein), der zum fanatischen Nazi wird, Martha Monica (Silvia Meisterle) ist die Unbekümmerte, die von Politik rein gar nichts wissen und nur das Leben genießen will. Die junge, begabte Selma Hasun spielt die Schauspielerin Selma Rosner, die Hans trotz aller Widerstände der Familie heiratet und von Hermann vergiftet wird.

Tragödie über Tragödie, keiner außer Hans überlebt. Doch es bleibt offen, wie lange. Irgendwann wird die Gestapo seinen Geheimsender entdecken, über den er beharrlich gegen den Naziterror Reden in den Äther schickt.

Es ist auf jeden Fall vorteilhaft, den Roman vorher zu lesen. Im Programmheft finden sich erhellende Aufsätze von Eva Menasse über Ernst Lothar und denRoman und von Iris Sinzinger über das Wien der Jahrhundertwende.

Ein großartiger Theaterabend mit einem gut eingespielten und hoch motivierten Ensemble. Viel Applaus und Bravorufe!

Weitere Termine: www.josefstadt.org

Joseph Lorenz, Spiel im Morgengrauen. Theater Akzent

Wenn Joseph Lorenz liest, dann ist die Studiobühne im Theater Akzent bis zum letzten Platz gefüllt. Diesmal also: „Spiel im Morgengrauen“ von Arthur Schnitzler. Ich kenne zur Zeit keinen Sprecher/Schauspieler, der Schnitzler besser lesen könnte als Joseph Lorenz. Mit hoher Sensibilität für Tempo, Zurücknahme, sich aufbauender Dramatik erzeugt Lorenz atemlose Spannung. Alles beginnt sehr unspektakulär: Leutnant Wilhelm Kasba erwacht an einem Sonntagmorgen – wie immer bringt ihm seine Bursche den Kaffee und meldet Besuch an (köstlich, wie Lorenz vom Schnitzlerdeutsch in den böhmische Dialekt umsteigt und gleich steht vor uns die liebenswerte, treuherzige Figur des Burschen). Der ehemalige Dienstkamerad Otto von Bogner bittet ihn um 900 Gulden, die er aus der Firmenkasse „entliehen“ hat und bis zum nächsten Morgen zurücklegen muss. Klar, dass Wilhelm diese Summe nicht hat, er verspricht aber, sein Glück im Baden beim Kartenspiel zu versuchen. Und ab da wird das Erzähltempo rasant, Lorenz lässt die >Zuschauer  bis unter die Haut spüren, was Spielsucht bedeutet: Ausgeliefertsein einer Lust, die ins Verderben führt, führen muss. Als Verführer und Gegenspieler tritt Konsul Schnabel auf, der den Leutnant genussvoll ins Verderben rennen – spielen – lässt. Atemlos rast das Spielgeschehen dahin bis zu dem Augenblick, als Wilhelm um 3h früh mit einer Spielschuld von 11.000 Gulden das Café verlässt. Diabolisch freundlich verlangt der Konsul die Rückerstattung bis zum nächsten Tag. Absturz in die Hoffnungslosigkeit – auch der vermeintlich begüterte Onkel kann nicht helfen. Der Selbstmord scheint der einzige Ausweg. Doch einen Versuch hat Wilhelm noch: Er erniedrigt sich und bittet Leopoldine, die junge Frau des Onkels, um das Geld. Sie könnte es ihm geben – aber zuvor will sie Rache -Rache für eine lang zurückliegendeLiebesnacht, in der Wilhelm sie wie eine Dirne bezahlte und sich davonmachte. Sie jedoch hat den jungen Leutnant damals geliebt, wollte Zärtlichkeit und Vertrauen . Diese Szene las Lorenz mit  großem Feingefühl für weibliche Verletzlichkeit – man konnte die Rache, die Leopoldine nahm, verstehen und mitempfinden: Nach einer Liebesnacht „bezahlt“ sie ihn mit 1000 Gulden und geht. Der Abgrund tut sich auf. Stille im Raum. Selbstmord. Ironie und doppelte Rache der Leopoldine: Sie übergab ihrem Ehemann die 11.000 Gulden für Wilhelm. Als dieser sie seinem Neffen bringt, ist alles zu spät. Berührend der Schluss: Der Onkel ahnt, dass seine Frau den Leutnant besuchte. Doch der Bursche zerstreut den Verdacht und bestätigt schlau und treuherzig den Besuch eines Kameraden. Am Ende hat Bogner die 900 Gulden (der „Lohn“ für die Liebesnacht), Leopoldine ihre Rache und Wilhelm hat sein Leben sinnlos „verspielt“. In zwei Stunden ließ Joseph Lorenz das ganz Spektrum der Sinnlosigkeit und Orientierungslosigkeit eines Offiziers, dem die Ehre mehr galt als sein Leben, vor uns abrollen.

Elena Ferrante, Die Geschichte der getrennten Wege. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp

Nun begleiten sie uns wieder für eine Weile: Elena und Lila aus Neapel, genauer aus dem heruntergekommenen Viertel Rione. Die späten 60er und die beginnenden 70er Jahre bilden den politische Rahmen. Das Buch ist eine Zeitreise in die eigene Vergangenheit vieler Leserinnen, die sich in der Figur Elenas teilweise wiedererkennen werden.

Lila hat sich von ihrem Ehemann und von ihrem Geliebten getrennt und schuftet in einer Wurstfabrik, wo die Arbeitsbedingungen entwürdigend und gesundheitsgefährdend sind. Sie kann sich und ihren  Sohn Gennaro, von dem sie nicht genau weiß, welcher der beiden Männer der Vater ist, nur mit Mühe durchbringen. Enzo, ein Freund aus den Jugendtagen, hilft ihr selbstlos, wo er nur kann. Den Alltag zu bewältigen und nicht einzuknicken ist ihr einziges Lebensziel. Während alle rings um Lila sich in der Politik engagieren, hat sie dafür keinen Sinn. Doch wird sie gegen ihren Willen zur Ikone der Revolution und des Widerstandes, als sie sich gegen den Chef der Fabrik zur Wehr setzt und die verheerenden Arbeitsbedingungen publik macht. Es kommt zu Schlägerein, es gibt Tote, sie verlässt seltsam ungerührt von den Ereignissen die Fabrik.

Elena hat nach dem Studium in Pisa ein Buch geschrieben, das kurzfristig großen ERfolg hat. Sie verlobt sich mit Pietro, dem Sohn ihres Verlegers. Stolz kehrt sie für kurze Zeit nach Neapel zurück, wo sie sowohl von Lila als auch von ihrer eigenen Familie distanziert behandelt wird. Für ihren Bucherfolg hat man kein Verständnis. Verwirrt muss Elena erkennen, dass sie politisch völlig ungebildet ist. Um sich in den linken Kreisen, zu denen sie gerne gehören möchte, Zutritt zu verschaffen, beginnt sie sich in die „linke Literatur“ einzulesen. Doch ihre Wortmeldungen in dem kämpferschen Kreis von Linken, Kommunisten und anderen Revoluzzern bleiben leere Satzhülsen. Sie heiratet Pietro und zieht mit ihm nach Florenz, wo er einen Lehrauftrag an der Universität hat. Ihre zwei Töchter machen aus Elena eine lustlose Mutter und Hausfrau. Angestrengt versucht sie, an einem neuen Buch zu schreiben, was ihr nicht gelingt. Die Ehe ist eine einzige Enttäuschung, sie denkt an Scheidung. Mit Lila hat sie nur telefonischen Kontakt. Aus dieser Depression rettet sie Nino, der Jugendfreund aus Neapel. Er weckt sie aus ihrem geistigen und sexuellen Dornröschenschlaf. …

Hauptakteur in diesem 3. Band ist die Politik, die Jahre der Jugendrevolten, der Gewalt gegen den Staat und seine Repräsentanten, des Kampfes der Frauen um mehr Rechte. Elena ist die typische Vertreterin zwischen den Fronten: Sie will bürgerlich leben, ist auch stolz auf diesen Status und will zugleich politisch aktiv sein, was aber nicht ihrem innersten Wesen entspricht, das auf Ausgleich und Harmonie ausgerichtet ist. Stachel in ihrem Denken ist immer wieder Lila, die sich um nichts und niemanden kümmert, ihren Weg im Rione geht und auf Elenas Bürgerlichkeit spuckt. Geschickt flicht die Autorin in die Fguren, die sich um Elena und Lila ranken, die Typen der damaligen Zeit ein: Die Kinder der Adeligen und Bildungsbürger proben mit Genuss den Aufstand gegen ihre Eltern, bringen aber außer Drogensucht und Streit nichts Effektives zustande. Es sind die typsichen Möchtegernrevoluzzer. Pietro ist der Professor, der die Zeitentwicklung verpasst und mit seinen Studenten und Kollegen im Dauerstreit liegt. Einige Jugendfreunde Elenas und Lilas engagieren sich in Gewerkschaften, sind Dauerdemonstrierer. Doch gegen die mafiosen Mächtigen im Rione und Neapel haben sie keine Chance.

Elena Ferrante entwirft ein Gesellschaftsgemälde mit allen Figuren, die damals wie heute noch genauso aktiv sind. Und das nicht nur in Italien,

Mehr zur Romantetralogie und der Anonymität der Autorin unter: www.elenaferrante.de

 

André Uzulis, Hans Fallada, Biografie. Steffen Verlag

Eine gut recherchierte Biografie, die trotz ihrer überpeniblen Genauigkeit nicht trocken oder langweilig wirkt. Fallada, mit bürgerlichem Namen Rudolf Dietzen (1993 -1947) lebte wahrlich in schweren Zeiten. Als Sohn eines gutbürgerlcihen Beamten (Richter) rebellierte er in der Jugend gegen ihn und das allzu geregelte Leben, plante mit einem Freund einen Doppelselbstmord, wobei er den Freund erschoss und sich selbst schwer verwundete. Dem ersten Aufenthalt in einer Nervenklinik sollten bis zu seinem Tod noch unzählige folgen. Alkohol- und Morphiumsucht machten ihm das Leben zeitweise zur Hölle, aus der ihn nur eines rettete: Schreiben, schreiben, schreiben. Gefängnisaufenthalte – er hatte Geld unterschlagen, um sich Morphium zu beschaffen – nutzte er für einen Entzug, der nicht lange anhielt. Seine Ehe mit Anna Dietzen war die ersten Jahre recht glücklich, weil sie sich ihm unterordnete und seine häufigen Zornausbrüche verzieh. Dann hatte es den Anschein, dass er zu sich fand. Seine Bücher hatten manchmal große Erfolge, dann wieder wurden sie von der Kritik in Grund und Boden gestampft. Doch der Verleger Ernst Rowohlt half ihm, so viel und oft er konnte. Auch in der schwierigen Zeit des Nazionalsozialismus. Da „lavierte“ sich Hans Fallada durch, biederte sich an, zog sich zurück – er wollte nur eines: unbehelligt schreiben. Als Ernst Rowohlt emigrierte und der Verlag beschlagnahmt wurde, bekam Hans Fallada die ganze Härte der Nazibürokratie zu spüren. Doch er verließ Deutschland dennoch nicht. Nach Kriegsende ließ er sich von den Russen, die er als „Befreier“ bezeichnete, vor den Werbekarren spannen, hatte mit seinem letzten Werk „Jeder stirbt für sich allein“ nochmals einen großen Erfolg. Doch da war er körperlich und geistig schon am Ende – er stirbt in einer Nervenklinik. Der Autor schreibt: an einer Überdosis Schlafmittel, die ihm seine 2. Frau Ulla unwissentlich verabreicht hat. Sehr mysteriös.

Seine Werke: „Kleiner Mann was nun?“, „Wer einmal aus de Blechnapf frißt“ und „Jeder stirbt für sich allein“ gehört zum Besten, was in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschrieben wurde. Fallada schildert minutiös die Ängste, kleinen Freuden, Bedrohungen im Alltag, Neid, Hass – eben das Leben „von unten“, das er aus eigener Erfahrung bestens kannte.

Das Pittsburgh Symphony Orchestra und Matthias Goerne in Grafenegg (31.August 2017)

Wieder einmal hat der Wettergott dreingepfuscht, und das Konzert musste vom Wolkenturm ins Auditorium verlegt werden. Wahrscheinlich hatten die  Musiker des Pittsburgh Orchesters und der Dirigent Manfred Honeck sich auf die Akustik des Wolkenturms eingestellt, wo ja so richtig auf die Pauke gehaut werden darf, ohne dass Wände und Ohren bersten. Das Auditorium hingegen fasst wahrscheinlich ein viel geringeres Klangvolumen. Anders ist nicht zu erklären, dass die „Rusalka Fantasy“ von Anton Dvorak, zusammengestellt und bearbeitet vom Dirigenten Manfred Honeck, so überlaut daherkam. Man hatte den Eindruck, einen Hollywood-Dvorak zu hören. Als hätte der Komponist  für einen Rusalkafilm die Musik geschrieben. So laut, so wuchtig und plakativ wurde gespielt und dirigiert. Erst „Rusalkas Lied an den Mond“, zart und innig von einer Solovioline gespielt, konnte mich versöhnen.

Danach Matthias Goerne, dessen „Winterreise“ mit Markus Hinterhäuser am Klavier legendär geworden ist, trotz der (für mich) so störenden Videos von William Kentridge. Ich möchte dazu ein Zitat aus dem Grafenegger Programmheft anführen: „Mahler bezeichnete es als Barbarei, wenn Musiker vollendet schöne Gedichte in Musik setzen. Das sei für ihn, als ob eine meisterhaft gemeißelte Marmorstatue nachträglich von einem Maler mit Farbe übertüncht würde.“ Im Falle der Winterreise wirkten die Videos wie eine Übertünchung. In Salzburg nochmals ein ähnliches Schicksal: Büchners verstörendes Drama „Wozzeck“ und die wuchtige Musik von Alban Berg waren offenbar den Verantwortlichen nicht wirksam genug – es musste wieder Kentridge her, der die Bühne mit seinen Videos zumüllte.   Aber zurück nach Grafenegg:

Diesmal also Goerne ohne Kentridge. Nur mit dem Pittsburh Orchestra unter Manfred Honeck. Orchester und Dirigent waren nicht wiederzuerkennen. Sie wirkten wie ausgewechselt und erwiesen sich als die idealen Partner für Goernes intensive Interpretation der Mahler Lieder aus „Des Knaben Wunderhorn“. Goerne ist ein Sänger, der den von ihm ausgewählten Liedern auf den tiefsten Grund geht und dabei sich selbst nicht schont, seine Seele und seinen Körper in die Musik einflicht bis zur existentiellen Selbstentblößung. Das kann für die Zuhörer oft hart werden. „Ich zieh‘ in Krieg auf grüner Haid, die grüne Haid die ist so weit. Allwo dort die schönen Trompeten blasen, da ist mein Haus von grünem Rasen“- da wird aus dem zarten Liebeswerber ein Todgeweihter. Das Todesmotiv herrscht vor, schaurig im Lied „Das irdische Leben“: Das Kind verhungert, die Not ist zu groß. An die Grenze irdischer Existenz treibt Goerne sich und uns im LIed „Urlicht“. Die ganze Tiefe seines Baritons legt Goerne in die letzten beiden Lieder „Revelge“ und „Der Tamboursg’sell“. Wenn er die Sterbensworte des Tambourgesellen im Raum verklingen lässt, dann herrscht atemlose Stille im Publikum und auf dem Podium. Goernes Gesangskunst ist existentiell.

Es werden mir hoffentlich alle verzeihen, wenn mir für Beethovens 7. Symphonie, die nach der Pause folgte, die Lobesworte fehlen, ich habe sie alle für Goerne aufgebraucht.

Melanie Raabe. Die Falle. btb

Melanie Raabe kann Spannung erzeugen, den Leser fesseln. Der Trick: kein  Dedektiv forscht endlos langweilig, sondern die Zeugin eines Mordes sucht den Mörder in eine Falle zu locken. Dann beginnt ein Katz- und Mausspiel, in dem der Mörder den Spieß umdreht und der Zeugin suggeriert, sie wäre die Mörderin! Ein genialer Einfall der Autorin. Durch diesen Dreh der Perspektive wird der Leser stark verunsichert und die Spannung intensiviert. Aus der Zeugin wird über eine kurze Strecke die mögliche Mörderin. Sie fragt sich, ob nicht sie es war, die mit zahllosen Messerstichen ihre Schwester umgebracht hat. Sie forscht, horcht in ihr Inneres, hinterfragt ihr Verhältnis zu ihrer Schwester und hält es zunächst durchaus für möglich. Bis sie  das gefakte Alibi des Mörders aufdecken kann. Leider retardiert die Autorin den Gang der Handlung und die Spannung durch Einschübe eines Romans im Roman, der aber keine neuen Perspektiven einbringt.

Auf jeden Fall ist dieser Thriller eine ideale Urlaubs- und Sommerlektüre. Perfekt, um voll abzuschalten und ein wenig aus dem Alltag auszusteigen.

 

Nurejew-Gala 2017. Wiener Staatsoper

Ein rauschendes Fest für Augen und Ohren! Manuel Legris ließ seine „Puppen tanzen“ – und wie! Nach einer eher einschläfernden Introduktion aus Dornröschen ging es in ein „Solo“, das von Kimoto, Szabo und Wielick mit Höllentempo nach Musik von Bach hingetanzt wurde. Man war wach – und das war gut so, denn schon folgte einer der Höhepunkte des Abends: Maria Shirinkina und Vladimir Shklyarow tanzten das Adagio aus „Spartacus“. Nach der intensiven Musik von Chatschaturjan und der Choreographie von Juri Grigorowitsch verschmolzen die beiden in einem innigen-tragischen Liebestanz. Für sie galt kein Gesetz der Schwerkraft, die Liebe trug sie hinweg über das  Leid, der Tanz erlöste sie aus den Qualen alles Irdischen. Selten war ein Paar so aufeinander eingestimmt, es war ein pas de deux der zum Solo für zwei Körper wurde. Beide hatten diese Rollen schon erfolgreich an der Bayrischen Staatsoper getanzt. Berührend war die schlichte Choreographie von John Neumeier. Zur Musik von Bach sang Margaret Plummer ein inniges „Miserere“, es tanzten Nina Tonoli und Jakob Feyferlik. Überschattet wurde die glanzvolle Gala durch den Unfall vonDavide Dato – er stürzte und wurde mit einer schweren Knieverletzung ins Spital gebracht.

IM zweiten Teil sah man Ausschnitte aus „La Bajadère“ (Musik: Marius Minkus). Es gab wohl niemand im Publikum, der von dieser traumhaften Inszenierung nicht begeistert war. So manch einer wünschte, die Wiener Staatsoper würde dieses Ballett wieder einmal komplett auffühen. Wenn Vladimir Shklyraov mit Liudmila Konovalova den Liebestanz im Reich der Schatten tanzt, dann ist man Zeuge, wie der Körper die Schwerkraft besiegt.

Im dritten Teil begeisterten Vladimir Shishov und Elena Vostrotina (als Gast) in der Choreographie von William Forsythe und der Musik von Thom Willems. Als wäre der italienische Futurismus auf die Bühne projeziert worden.  Maschinenmenschen, die nach Berührung gieren. Ganz großes Ballett!

Passend dazu Rebecca Horner in ihrem bereits legendären Solo aus „Le Sacre“ in der Choreographie von John Neumeier.

Der rauschende Schlussbeifall galt jedem einzelnen der Mitwirkenden, dem ausgezeichneten Dirigenten Kevin Rhodes und vor allem dem Chef Manuel Legris.

 

 

 

 

DDelphine de Vigan, Das Lächeln meiner Mutter. Droemer. Aus dem Französischen von Doris Heinemann

Es ist eines der Hauptthemen, das Delphine de Vigan immer wieder beschäftigt: Die Frage, wieviel in einem Roman, einem literarischen Werk jeglicher Gattung Fiktion, wieviel reine Berichterstattung sein darf. In dem vorliegenden Fall eine besonders heikle Frage, da es sich um die Aufarbeitung der Krankheit (Schizophrenie) ihrer Mutter, die sich dasLeben nahm, handelt. „Anfangs, als ich den Gedanken, dieses Buch zu schreiben….akzeptiert hatte, dachte ich, es würde mir ganz leicht fallen, Fiktives einzubauen. …Stattdessen kann ich an nichts rühren, …voller Schrecken bei dem Gedanken, ich könnte Verrat an der Geschichte üben, mich in den Daten, Orten, Altersangaben irren.“ Diese Gewissensfrage durchzieht den Text und den Fortlauf der Erzählung. Immer wieder unterbricht die Autorin, stockt, fragt sich, ob es richtig ist, die Familienmitglieder mit Fragen nach Erinnerungen zu belästigen, sie im Text miteinzubeziehen. Das macht das Buch in der ersten Hälfte schwerfällig. Erst mit dem voranschretend Erzählfluss scheint de Vigan es mit ihrem Gewissen vereinbaren zu können, über die intimsten Situationen und Gefühle der Mutter, ihrer Geschwister und Freunde, über ihre eigenen Gefühle und die ihrer Schwester nach dem Selbstmord zu berichten. Dann immer wieder die Frage: Ist diese Krankheit erblich? Wird der Hang zum Selbstmord an die nächste oder übernächste Generation weitergegeben? Eine Frage, die sich auch Charlotte Salomon in ihrem Buch stellt. (siehe auch meinen Beitrag: Marget Greiner, Charlotte Salomon). Eine andere Frage ist ebenso wichtig: Hat sie als Tochter, als Autorin  das Recht, die Geheimnisse ihrer Familie aufzudecken, zu schreiben, dass der allgegenwärtige Vater (ihr Großvater) ihre Mutter sexuell missbraucht hat? Hat sie das Recht, den Mythos der heilen Familie zu zerstören?Das Werk ist kein Roman, sondern eine Aufarbeitung, eine literarische Familienaufstellung, bei der  Verwundungen, Freuden,  Leiden,  Probleme, aber auch so manch schöne Erinnerungen an ihre kluge, überaus schöne Mutter Lucile wie Luftblasen aus dem Teich aufsteigen und vor dem Verschwinden durch Sprache, Schreiben festgehalten werden. Letztendlich ist es eine Liebeserklärung an eine Frau, die ihre Krankheit mit allen Mitteln bekämpft, immer wieder ins Leben zurück findet. Dann aber, erschöpft von den Kämpfen, den Zeitpunkt ihres Todes selbst bestimmt, als letzte große Freiheitsgeste.

Jean-Luc Seigle, Ich schreibe Ihnen im Dunkeln. C.H.Beck

Andrea Spingler verdanken wir die ausgezeichnete Übersetzung eines literarisch hochinteressanten und faszinierenden Werkes. Jean-Luc Seigles Sprache ist hart-realistisch und zugleich sehr poetisch. Ihre starke Sogwirkung zieht den Leser in das Geschehen hinein, auch in die grausamsten Stellen, wie etwa die Vergewaltigungsszene.

Einmal mehr geht es um eine wahre Geschichte! – Es scheint, dass in der Gegenwartsliteratur die Neigung sowohl bei Autoren, Verlagen und wahrscheinlich auch bei Lesern für wahre Begebenheiten oder Biografien zunimmt und das Interesse an der rein fiktionalen Literatur abnimmt. (Siehe auch meine Besprecheung von de Vigan, Eine wahre Geschichte) Vielleicht liegt es an der allzu subjektiven sprachlichen Nabelschau, die besonders der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nachgesagt wird.

Pauline schreibt ihre Geschichte in ihrem Haus in Essaouira auf. Dorthin ist sie aus Frankreich geflohen, um ihrer Erinnerung zu entgehen und mit neuem Namen ein neues Leben zu beginnen. Ihre Kindheit in Frankreich während des 2. Weltkrieges war geprägt von Trauer: Zwei ihrer Brüder sind im Krieg gefallen, die Mutter verweigert sich monatelang dem Leben und ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Kochen. Da sendet der Vater die junge, hübsche Pauline als Krankenschwester zu einem deutschen Arzt, in der berechtigten Hoffnung, dass ihre Schönheit diesen betören und er sie mit ausreichend Lebensmittel versorgen wird. Dieser perfide Plan geht auf – Pauline wird nicht nur die Assistentin, sondern auch seine Geliebte. Und sie bringt Lebensmittel nach Hause. Was der Vater hoffte, passiert:: Die Mutter beginnt wieder zu kochen und sich dem Leben zuzuwenden. Doch bei Kriegsende wird Pauline vom Pöbel aus dem Haus gezerrt, als Deutschhure geschoren und grausam vergewaltigt. In letzter Minute kann der Vater aus sie aus diesem Albtraum heraus holen. Er bringt sie in ein Dorf, wo niemand sie kennt und sie sich in seelischer Dunkelheit verkriecht. Doch der Vater fordert ihre Intelligenz und ihren Lebensmut heraus – sie beginnt Medizin zu studieren, verliebt sich über alle Maßen in einen Studenten aus gutem Haus. Als er von ihrer Vergangenheit erfährt, wendet er sich ab und beschimpft und verspottet sie. Sie erschießt ihn im Affekt. Ihr Prozess wird eine Show – man stellt sie als Monster hin, verurteilt sie zu Tode, dann jedoch zu lebenslänglicher Gefängnisstrafe, aus der sie nach 9 Jahren frei kommt. Inzwischen ist ihre Geschichte auch verfilmt worden und sie entzieht sich dieser Qual, immer wieder ihrer Geschichte zu begegnen, und beginnt ein neues Leben in Essaouira( Marokko). Dort verliebt sie sich in einen Marokkaner, der sie heiraten möchte. Für ihn schreibt sie die Geschichte auf. Doch als er die „Wahrheit“ über sie erfährt, wendet er sich von ihr ab.

In einer Sprache, die den Skandal und die Effekthascherei scheut, zieht der Autor den Leser in die Tiefen einer gequälten Seele hinein. Man folgt ihr, widerstrebend bis in die tiefste Erniedrigung der Vergewaltigung. Ohne sich dabei des Voyeurismus zu bezichtigen. Man muss ihr folgen. Wie um mit ihr durch einen Reinigungsprozess zu gehen. Das Buch hat die Kraft einer Wiederbelebung: Pauline wird stellvertretend für viele Frauen, die solch ein Schicksal erlitten, durch ein literarisches Reinigungsritual von jeglicher Schuld der „Konspiration mit dem Feind“ frei gespochen. Die Schuld trifft die Menschen, die solche Racheakte vollzogen.

Salzburger Pfingstfestspiele: „La Sylphide“ -Ballett des Mariinsky-Theaters, Petersburg

FürBallettkenner oder auch nur Liebhaber war die Aufführung eine herbe Enttäuschung. Das Petersburger Ballett des Mariinsky-Theaters brachte „La Sylphide“ in der ursprünglichen Fassung aus 1836, nach der Original-Choreografie von August Bournonville. Die Musik des unbekannten Komponisten Herman Severin Lovenskiold (1815-1870) war noch das Beste dieses Abends. Valery Ovsyanikov dirigierte brillant das Mozarteumorchester Salzburg. Nun muss ja nicht jedes Ballett in die Gegenwart und mit einer neuen Choreografie versetzt und getanzt werden. La Sylphide gilt ja als so eine Art „Urballett“ – als die Geburtsstunde einer abendfüllenden Ballettaufführung. Daher hat sich der Besucher auf ein anderes Bewegungs- und Tanzrepertoire einzustellen. Aber es ist halt doch auf die Dauer langweilig und füllt einen Abend nicht aus, wenn die Tänzer Gefühle – und die gibt es in diesem romantischen Ballett zu Hauf – zumeist nur durch Gestik ausdrücken. Da werden die allzu pathetischen  Armbwegungen wichtiger als der Tanz an sich. Zwar sind Kostüme (Irina Press) alle zur Zeit und dem Ort der Handlung (Schottland) passend, die Bühne (Vyacheslav Okunev) spiegelt Romantik pur wider – aber all das genügt heute nicht mehr. Die Handlung ist ein Mix aus Schwanensee und Giselle: Am Abend vor seiner Hochzeit schwebt dem Bräutigam James die Fee Sylphide in den Raum, bezaubert ihn, er vergisst Braut und Hochzeit, folgt ihr in den Wald, erhält von einer hinterlistigen Hexe einen vergifteten Schal, den er Sylphide zum Geschenk macht. Sie stirbt unter Qualen. Trauer und Wehmut am Ende.  Schade – die Tänzer konnten in dieser Choreografie nur einen winzigen Bruchteil ihres Könnens zeigen und hatten sichtlich Mühe mit dem Pathos der Gestik. Olesya Novikova war eine zierliche Sylphide, Philipp Stepin ein etwas biederer James, Igor Kolb eine Hexe aus dem Märchenbuch.

 

 

Delphine de Vigan, Nach einer wahren Geschichte. Aus dem Französischem von Doris Heinemann. Dumont

Die Autorin stellt die Frage: Wieviel Autobiographisches, wieviel Reales soll, darf ein Roman enthalten. Es gab eine Ära in der Literaturwissenschaft, da galt es als verpönt, nach biographischen Fakten in dem jeweiligen Werk zu fragen. Nun scheint eine Kehrtwende um 180 Grad eingetreten zu sein. „Das Wahre, die Wahrheit“ – siehe Titel – spielt eine Hauptrolle -fragt sich nur : Wahrheit über wen und was, und : Gibt es diese Wahrheit? Mit diesen Fragen spielt Delphine de Vigan geschickt und intelligent, mit enormer Sprachbegabung. Der Forderung nach Wahrheit bis zur Bloßstellung kommt zum Beispiel der Autor Thomas Melle in seinem schonungslosen Bericht über seine Krankheit nach. Ob so ein Buch dann noch Roman genannt werden kann?

Delphine de Vigan packt diesen Fragenkomplex in einen Thriller. Die Ich-Erzählerin ist eine gefeierte Autorin, die von den Lesereisen, dem Erfolg ihres Buches ermüdet ist, sich zurückziehen möchte, um das vom Verlag so dringend geforderte neue Buch zu schreiben. Doch sie hat eine totale Schreibhemmung, kann weder einen Bleistift halten noch sich an den Computer setzen. Da tritt L. in ihr Leben – eine Frau ihres Alters. Sie hat keinen Namen, nur L. Mehr und mehr übernimmt L. die Führung im Leben der Erzählerin, tritt sogar als diese auf. Im Zusammenleben der beiden geht es nicht immer friedlich zu. L. verlangt von der Erzählerin, dass sie das „ultimative Buch“ schreiben soll, wobei in den Diskussionen nicht klar wird, was sie darunter versteht. Doch taucht immer wieder die Frage auf, wieviel persönliches Leben in ein Werk einfließen soll oder darf. Fiktion allein genüge nicht mehr, das hätten die Leser zur Genüge gehabt. Reales, Wahres ist gefordert. Die Diskussionen um die Relevanz eines Romanes bilden die Metaebene, die Handlung selbst ist spannungsgeladen. Der Leser fragt sich, wann und wie kann sich die Icherzählerin aus den Fängen von L. befreien?

 

 

 

 

 

Der Feuervogel. Ballettabend in der Volksoper

Tänzer der Wiener Staatsoper und Volksoper stellten ihr Regietalent unter Beweis. Für das Publikum war gleich der 1. Teil „Petruschka“ nach der Musik von Stravinsky (Fassung 1947) eine Herausforderung. Eno Peci, allen Ballettfreunden als hervorragender Tänzer bekannt, zeichnete für die Choreographie und Dramaturgie (gemeinsam mit Pavol Juras) verantwortlich. Und er hatte den Mut, ein ganz neues Konzept auf die Bühne zu bringen. Man kann ruhig von einem Regietheaterballett sprechen. „Vor dem Hintergrund unserer gegenwärtigen WElt sehe ich eine Vielzahl von „Petruschkas“ – Menschen, die aus verschiedenen Gründen (sei es die Situation am Arbeitsplatz oder andere) unglücklich sind. “ (So Peci im Programmheft) Von dieser Prämisse ausgehend ist sein Petruschka ein Lehrer, der mit dem Beruf völlig überfordert ist, die Familie vernachlässigt und die Liebe zu seiner Frau verliert. Ein wenig ist man während der Szenen in der Schulklasse an Nestroys „Die schlimmen Buben in der Schule“ erinnert: Es wird gestritten, gerauft, mit Büchern und anderen Gegenständen umhergeworfen. Petruschka ist hilflos. Es nützt nichts, dass er auf die Tafel groß: Miteinander, Respekt und Liebe schreibt. Das Chaos ist unregulierbar. Gewalt bricht aus, als die junge Frau des Lehrers die Klasse betritt. Fast kommt es zur Vergewaltigung. Die Szene löst sich gespenstisch auf, als die Schuldirektorin die Klasse betritt. Tänzerisch großartig: Davide Dato als Lehrer, berührend Nina Tonoli als seine junge Frau und ganz hervorragend Rebecca Horner als Direktorin: halb Schlange, halb weiblicher Dämon – in einem fantastischem Kostüm (Pavol Juras). Nun könnte man einwenden, dass Peci hier alle nur möglichen Klischees bedient, die man so aus der Schuldiskussion kennt. Das ist wahr, aber zugleich bewahrheitet sich ein Satz: Alle Klischess sind in der Realität verankert.

Im Mittelteil des Abends „Movements to Stravinsky“ kann sich das Publikum an einem klassisch choreographierten Ballett erfreuen: András Lukács, Tänzer und Choreograph seit 1999, lieferte ein sehr innige, unaufgeregte Choreographie, in der 6 Paare ihr Können zeigen. Musik aus verschiedenen Werken Stravinskis.

Den Schluss bildete „Der Feuervogel“. Andrey Kaydanovskiy – seit 2015 Halbsolist der Staatsoper und erfahrener Choreograph – unterwarf das alte Märchen einer sehr eigenwilligen Neudeutung: Ivan (Masayu Kimoto) ist ein armer Student, der sich mit Hilfe des Alterego-Feuervogels (Davide Dato) in ein Einkaufszentrum einschleicht, den Besitzer (Mihail Sosnovschi) entmachtet, sich dessen Geliebte (Rebecca Horner) schnappt. Die Stärke dieser Choreographie liegt in den Massenszenen: Herrlich ironisch der Auftritt der Putzbrigade, der Verkäuferinnen und der Kunden. Alles in allem ein regielastiges Ballett mit vielen skurrilen und witzigen Einfällen.

Nicht unerwähnt darf das exzellente Dirigat von David Levi bleiben. Er brachte alle Nuancen der Musik Stravinskis zum Blühen.

www.volkoper.at

Mein Rat an alle zukünftigen Besucher: Unbedingt vorher das Programmheft lesen! Die drei Choreographen erläutern darin sehr klar ihre Ideen.

Weitere Termine: 11., 16., 21., 22., 23., 28. Mai, 2., 7. Juni 2017

 

„Salon Zuckerkandl. 1938 geschlossen“ im KIP-Kultur im Prückel

Dieses Theater unter dem Café Prückel muss man einfach mögen: Versteckt unter dem immer voll besetzten Café steigt man über Stufen hinunter in eine Welt von gestern, Jugendstilambiente in hellem Grün. Das Theater selbst hat noch das typische Flair eines ehemaligen Kellertheaters – allerdings auf edel: rote Sitze, roter Samtvorhang, die Guckkastenbühne rot ausgeschlagen. Und so passen die Stücke, die hier gespielt werden, zu dieser Vergangenheit. Es ist die österreichische Vergangenheit – Beginn um die Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des 2. Weltkrieges, die im „Salon Zuckerkandl“ gezeigt wird. Verblüffend, wie oft man als Zuseher denkt: Gut, dass dieses mahnende Stück jetzt gespielt wird, es ist genau der richtige Zeitpunkt: rundum in Europa und auf der WElt  wird der Ruf nach dem „starken Mann“ laut. Wohin so ein Wunsch führt, zeigt dieses Stück ganz deutlich.

Berta Zuckerkandl führte ihren Salon in Wien in der Oppolzergasse mit viel Gespür für kulturelle und politische Entwicklungen. Sie floh vor den Nazis 1938 zuerst nach Frankreich und später nach Algerien. Wenige Monate nach Kriegsende stirbt sie in Paris.

Helmut Korherrs Theaterstück ist ein lebendiger Geschichtsunterricht: Im Hintergrund werden Projektionen der jeweiligen Handlungsorte eingeblendet – von der Pariser WEltausstellung 1937 beginnend bis zum Purkersdorfer Sanatorium, wohin sich Berta ZUckerkandl vor den Nazis zurückzog. Dazwischen sieht man die Karikatur des Autors Karl Kraus, der seine kritisch-bissigen Kommentare( gesprochen von Itze Grünzweig) über „die Zuckerkandl“ abgibt. Der Regisseur Kurt Ockermüller kommt mit 4 Schauspielern aus: Ulli Fessl sehr glaubwürdig und besonders im 2. Teil berührend als Berta Zuckerkandl, Roman Kollmer, Kurt Hexmann, Reinhard Steiner in ganz unterschiedlichen Rollen. Jeder wechselt blitzschnell von einer Rolle in die andere, wodurch die Spannung erhalten bleibt. Alle wechseln ohne Pobleme in die verschiedenen Sprachfärbungen und schlüpfen gekonnt in die verschiedenen Charaktere, wie Freud, Hofmannsthal, Schnitzler etc. Schmunzelnd registriert man als Zuseher die typischen Wiedererkennungeffekte. So ist etwa Gustav Mahler gut an seiner exaltierten Gestik zu erkennen, Freud an seinem durch den Zungenkrebs gehinderten Sprechen.

Ein Theaterabend, der zum richtigen Zeitpunkt stattfindet. Interessant gestaltet und gut gespielt.

Weitere Termine: 26., 27., 28. April, 3., 4., 5. Mai 2017 Karten: 01/ 512 54 00 oder: office@kip.co.at

www.kipp.co.at

„Die Welt im Rücken“ nach dem Roman von Thomas Melle. Akademietheater.

Es musste so kommen: Joachim Meyerhoff las den Roman „Die Welt im Rücken“ und wusste sofort: Diese Geschichte will ich auf die Bühne bringen! Die Affinität zwischen Meyerhoff und dem Autor Thomas Melle  ist augenscheinlich, was nicht heißen soll, dass Meyerhoff unter derselben Krankheit (manisch-depressiv) leidet, aber dass er seit seiner Kindheit viel Verständnis für außergewöhnliche Ausformungen der menschlichen Seele hat.

Also: Joachim Meyerhoff setzte sich mit Jan Bosse, seinem bevorzugten Regisseur für alles „Ver-rückte“, zusammen und gemeinsam dramatisierten sie Teile des Romans. Heraus kam ein intensiver und beängstigend nahe gehender Abend. Es begann harmlos mit Tischtennis. Pingpongbälle fliegen über die Bühne, man lacht, dann verlässt der Partner die Bühne, Meyerhoff spielt noch eine Weile vor sich hin, dann beginnt er zu erzählen. Im Imperfekt, als wäre schon alles überstanden. Zunächst von seiner Bibliothek, die er in einem Anfall von „alles muss raus“ verkaufte. Das Publikum beginnt zu ahnen, dass mit dem Menschen da oben nicht alles in Ordnung ist. Die ersten Ausbrüche – Meyerhoff wechselt ins Präsens, sein Spiel wird intensiv, aus dem distanzierten Erzähler wird er zum leidenden Autor Thomas Melle. Bis er sich in seine Körperteile auflöst, sich als Fotokopie an die Wand heftet und zu Christus wird. Melle hat ja während seiner manischen Phase den Glauben, er müsse als Christus die Welt retten. Dann die Pause. „Ich muss da jetzt zusammenräumen“, sagt Meyerhoff wieder ganz „nüchtern“. „Zusammenräumen“ meint  die Seele wieder in die Realität zurückholen.

Nach der Pause „erzählt“ er von den Aufenthalten in der Klinik, der Verzweiflung und dann die Hoffnung, dass er/Melle wieder wird schreiben können. Eine riesige weiß-rosa Wolke aus Plastik wird hereingerollt. Meyerhoff zieht sich hinauf – hinein, kriecht darin herum. Als wäre es sein Gehirn, in dem er nach der Ursache seiner Krankheit sucht. Ende. Begeisterter Applaus und standing ovations für die Leistung eines Schauspielers, der körperlich und geistig sich an  dem Abend vollkommen verausgabt.

Im Programmheft stehen Beiträge verschiedener Schriftsteller zum Thema, Auszüge aus dem Roman von Thomas Melle. Oft gestellte  Fragen zu dieser Krankheit werden als Bildgeschichte dargestellt.

Die nächsten Termine: 22. April, 14., 17. Mai, 2. Juni.    www.burgtheater.at

Elena Ferrante, Die Geschichte eines neuen Namens. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp

Sie hat es wieder getan! Elena Ferrante hat uns mit dem 2. Band ihrer „Neapolitanischen Saga“, wie sie ihr Werk selbst nennt, wieder völlig in den Bann geschlagen. Lila hat geheiratet, von allen wegen ihres „Reichtums“ beneidet, zieht mit ihrem Ehemann Stefano in ihre blitzblanke neue Wohnung ein und schon beginnt der Kampf zwischen ihr und ihrem Mann. Sie ist – wie immer – die Überlegene. Lenu – die Icherzählerin beneidet ihre Freundin um diesen „Aufstieg“. Wie die Jugendjahre zwischen 17 und 24 sich entwickeln, ist spannend, lässt an eigene Kämpfe in der Jugendzeit erinnern.

Der Rione ist heruntergekommen, wie ganz Neapel. Das Zentrum nur äußerer Glanz, Korruption und Mafia, Streit, Rauferein, Intrigen beherrschen den Alltag. Lila ist über ihren neuen Namen – Carracci – unglücklich, fühlt sich beschmutzt. Er frisst ihr Inneres auf. Deshalb zerstört sie auch ihr Foto im Schuhgeschäft, übermalt es und zerlegt es bis zur Unkenntlichkeit. So fühlt sie sich.

In einem Sommer auf Ischia droht die Freundschaft zwischen Lila und Lenu zu zerbrechen: Lila schnappt sich den von Lenu angebeteten Freund, schläft mit ihm, bekommt ein Kind. Zieht von Stefano weg. Lenu beginnt ein Studium in Pisa, macht ihr Doktorrat, ihr erstes Buch wird veröffentlicht. Die Kluft zwischen ihr und Lila könnte nicht größer sein. Doch sie erkennen, dass trotz der Kluft zwischen ihnen die Freundschaft weiter bestehen wird.

Ferrantes Erzählkunst ist einmalig: Immer wieder überrascht sie mit treffenden, detailreichen Szenen, die Milieu und Menschen treffend charakterisieren. Beispielsweise entlarvt sie gekonnt das Partygeplapper der so genannten Gebildeten, die politische Parolen und literarische Neuigkeiten einander wie Pingpongbälle zuwerfen, um damit zu prahlen.

Faszinierend schildert sie den Kontrast der beiden Freundinnen: Lila ist ein gefährliches Tier, unberechenbar, kann jederzeit zubeißen, kümmert sich nicht um das Gerede rund um sie. Lenu – schüchtern, unsicher, orientiert sich immer wieder an der Kraft der von ihr so bewunderten Freundin, bemüht, es ihr gleichzutun, wenn nicht gar sie zu überflügeln.

Ganz leichtfüßig erfährt der Leser von den Problemen Italiens, von der politischen Lage der 60er Jahre. Da sind keine langen Belehrungsszenen, alles wird über Gespräche, Ereignisse transportiert. Aktion und Reflexion sind geschickt ineinander verwoben und ergeben den zupackenden Fluss, der uns in das Geschehen hineinzieht. Da heißt es im Buch über das Buch, das Lenu geschrieben hat: „Da ist Ehrlichkeit, Natürlichkeit und etwas Gehaltvolles im Stil, wie man es nur in wahren Büchern findet.“ (S594) – Damit hat Ferrante wohl ihren eigenen Stil und Erfolg erklärt. An diesem Erfolg ist die Übersetzerin Karin Krieger sicher nicht ganz unbeteiligt. Ihr gelingt es, den Schwung, die Atmosphäre  und die Klangfarbe des Dialektes gut ins Deutsche hinüber zu transportieren.

 

 

Orestie von Aischylos. Burgtheater

Gleich vorweg: Eine faszinierender Abend mit großartigen sprachlichen Leistungen. So exakt und deutlich verstehbar hat man noch selten einen antiken Sprechchor erlebt (Leitung: Bernd Freytag)! Da könnten so manche Schauspieler im deutschsprachigen Raum lernen, wie  geschultes Sprechen geht.

Zum Stück: Vor allem ist der Erfolg des Abends der genialen Übersetzung von Peter Stein geschuldet. Ihm gelang es, das Archaische, Wuchtige der Sprache Aischylos‘  so zu übersetzen, dass auch dem nicht mit der verworrenen Familientragödie der Atriden Vertrauten das Geschehen klar wurde. Der Regisseur Antú Romero Nunes – hier in Wien kein Unbekannter – pendelte in der Inszenierung geschickt zwischen Antike und Gegenwart, indem er die Figuren wie aus einem Comicheft oder von einer Graffitiwand herausgeschnitten aussehen ließ. Durch diese „Verfremdung“ entstand eine intensive Spannung zwischen antikem Drama und heute. Sieben Frauen – das zu betonen ist wichtig, denn im antiken griechischen Theater spielten ja nur Männer – waren sowohl Chor, Volk und die einzelnen Figuren. Mit wenigen Handgriffen am Kostüm (entworfen von Victoria Behr), das aus Tüchern und Bandagen in Hautfarbe bestand, verwandelte sich Maria Happel in Agamemnon, Caroline Peters in Klytaimestra. Peters machte aus dieser Rolle ein wahres Kammerstück: Einmal kokett sich in den Hüften wiegend, dann wieder tief betroffen vom (vermeintlichen) Tod ihrer Tochter Iphigenie und dann als rasende Mordende. Dabei fällt auf, dass Nunes die Morde auf der Bühne geschehen lässt, während in der Antike alle Grausamkeiten durch einen Boten oder den Chor berichtet wurden. Man versteht, dass er mit dieser fundamentalen Änderung  das grausame Blutvergießen, das wir in Syrien und weltweit erleben, drastisch nahe bringen wollte. Interessant war auch die Doppelrolle von Barbara Petritsch: Gerade noch Amme, die das Morden in dieser schrecklichen Todesfamilie beklagt, dann gleich der freche und siegessichere Aigisth. Sarah Viktoria Frick als Elektra war etwas nervig – teils der Rolle geschuldet, teils ihre Art zu spielen. Deshalb geht auch die berühmte Erkennungszene zwischen ihr und Orest ziemlich daneben.  Andrea Wenzl als Kassandra war sehr berührend. Aenne Schwarz spielte Orest als unsicheren Sohn und Bruder, der von Elektra aufgehetzt, seine Mutter liebt und sie dennoch umbringen  -muss -. Hier treibt der Nunes die Grausamkeit des menschlichen Wesens auf die Spitze. Der Auftritt von Irina Sulaver als Athene war beeindruckend und führte direkt in die Gegenwart: Sie übergibt die richterliche Macht aus ihren Händen an die menschlichen Richter, die sie zu Einsicht und Menschlichkeit mahnt. Eine Mahnung, die heute genau so wichtig ist wie damals, als die Oligarchen in Athen die Macht an das Volk abgeben mussten. Jüngste Ereignisse lassen jedoch Zweifel aufkommen, ob das Volk immer und überall diese Einsicht hat.

Lang anhaltender Applaus.

Das Programmheft bietet eine intensive Auseinandersetzung mit dem antiken Drama. Eine nützliche, zusätzliche Information!

Weitere Termine: 10., 17. 26. Mai, 5. Juni. www.burgtheater.at

La Wally. Volksoper Wien

Ein großartiger, atemberaubender Abend! Alfredo Catalanis Oper, bisher nicht allzu oft gespielt, wurde in der Volksoper vom Bühnenorchester der Wiener Staatsoper unter dem fast rauschhaften Dirigat von Marc Piollet und der subtilen Regie von Aron Stiehl erfolgreich auf die Bühne gebracht. Beeindruckend wurde Stiehl von dem Bühnenbildner Frank Philipp Schlössmann unterstützt, der mit seinen riesigen Schwarzweiß-Blöcken das bedrohliche Gebirge als auch die einengenden Mauern eines Gebirgsdorfes – in dem Fall Sölden – kitschfrei in Szene setzte. „Kitschfrei“ ist das richtige, zusammenfassende Wort für die gesamte Inszenierung, die nie auch nur in die Nähe eines Heimatdramas gerät. Von der Wally, wie wir sie aus verschiedenen Filmen kennen, ist diese Wally -hervorragend gespielt und gesungen von Kari Postma – meilenweit entfernt. Bis auf Vincent Schirrmacher, der mit der Rolle des Machojägers Hagenbach nicht so wirklich stimmlich und darstellerisch zu Rande kommt, sind alle anderen Rollen hervorragend besetzt: Eindrucksvoll, jung und berührend zart Beate Ritter in der Hosenrolle als Walter. Ihr Lied gleich zu Beginn nimmt den Tod Wallys schon vorweg. Kurt Rydl als Gutsherr und Vater Wallys ist ein brummiger, strenger Vater. Die schwierige Rolle des Gutsverwalters Stromminger, der Wally verzweifelt und hoffnungslos liebt, löst Morten Frank Larsen grandios. Interessant die aufgewertete Rolle des Infantristen, gesungen und gespielt von Daniel Ohlenschläger: Er begleitet als spiritus operae, als Tod, als Schicksal, als böser Geist, ähnlich einem Mesphisto, die Figuren und lenkt das Schicksal Wallys bis in den Tod. Regisseur Stiehl vermeidet den im Original verlangten Lawinentod, sondern lässt Wally in einer berührend gesungenen Liebesvision gemeinsam  mit Hagenbach in einen sanften Tod gehen. In einem ausführlichen Interview im Programmheft  erklärt Aron Stiehl die Notwendigkeit dieser Änderung.

Silvia Matras meint: Diese Aufführung gehört zu den besten der Volksoper in dieser Saison. Man sollte sie nicht versäumen!

Die nächsten Aufführungen: 20., 23. April, 4., 15., 17. Mai 2017 www.volksoper.at

 

Michela Murgia, Chirú.Übersetzung aus dem Italienischen: Julia Brandestini. Wagenbach Verlag

Der Roman lässt mich etwas ratlos zurück: Ich weiß nicht, ob ich dieser ziemlich abgehobenen und selbstverliebten Hauptfigur auch nur ein Fünkchen Sympathie entgegen bringen kann, soll oder müsste. Eleanora ist achtunddreißig Jahre alt,  Sardin und eine erfolgreiche Theaterschauspielerin. Gerne nimmt sie junge Burschen so zwischen 16 und 18 als „Schüler“ an – und da beginnt mein Dilemma: Was lehrt sie diese Burschen? Sich richtig benehmen und kkleiden, im Kreis illustrer VIPs die richtigen Leute zur richtigen Zeit ansprechen? – Agentin ist sie keinesfalls, auch nicht wirklich „Lehrerin“. Der Verdacht kommt auf, dass sie diese Jungs  als Adoranten holt, um  sich in deren Bewunderung zu bestätigen. Einen „Schüler“ hat sie unwissentlich in den Selbstmord getrieben, weil sie nicht erkennen wollte und auch nicht erkennen konnte, dass er in sie schwer verliebt war.

Nach diesem „Unfall“ vergehen Jahre, bis sie – nun achtundreißig – den achtzehnjährigen Geiger Chirú kennenlernt und sich ihm als „maestra“ anbietet. Doch dieser Junge übt eine starke Anziehungskraft aus, mit der sie  zuerst nicht gerechnet hat, dann aber kokett spielt. Erotische Spiele sind erlaubt, Küsse, Streichelgaben, aber nicht mehr. Gerade so viel, dass sie sich ihrer Wirkung sicher sein kann. Denn sie hat sich inzwischen in einen berühmten Dirigenten verliebt, den sie am Ende auch heiratet. Eine Wiederbegegnung mit Chirú nach einigen Jahren gibt ihr immerhin einen Stich ins Herz, aber ganz ohne Schuldgefühl.

Tja, wo liegt nun genau mein Problem? – Dass die Autorin die Figur ganz sicher als eine kluge, gebildete Frau schildern möchte, die sich Gedanken über menschliche Beziehungen macht. Keinesfalls – so denke ich wenigstens – soll Eleonora als eine Frau erscheinen, die junge Burschen braucht, um sich in der deren Jugend zu sonnen. Das war ganz sicher nicht die Intention von Michela Murgia. Denn sie überträgt auf Eleonora wohl ihre eigenen Gedanken, philosophischen Überlegungen zur Welt und zu dem, was richtig und falsch ist. Nur leider – der Faden der Erzählung läuft gegenteilig. Ich staunte immer mehr über die Selbstgefälligkeit der Hauptfigur, ihre arrogante Art, mit diesen „Schülern“ umzugehen. Also ich hätte nie sie als „maestra“ akzeptiert. Wie sagen die Wiener zu einer Person wie Eleonora eine ist? – Zicke oder Tussi.