André Uzulis, Hans Fallada, Biografie. Steffen Verlag

Eine gut recherchierte Biografie, die trotz ihrer überpeniblen Genauigkeit nicht trocken oder langweilig wirkt. Fallada, mit bürgerlichem Namen Rudolf Dietzen (1993 -1947) lebte wahrlich in schweren Zeiten. Als Sohn eines gutbürgerlcihen Beamten (Richter) rebellierte er in der Jugend gegen ihn und das allzu geregelte Leben, plante mit einem Freund einen Doppelselbstmord, wobei er den Freund erschoss und sich selbst schwer verwundete. Dem ersten Aufenthalt in einer Nervenklinik sollten bis zu seinem Tod noch unzählige folgen. Alkohol- und Morphiumsucht machten ihm das Leben zeitweise zur Hölle, aus der ihn nur eines rettete: Schreiben, schreiben, schreiben. Gefängnisaufenthalte – er hatte Geld unterschlagen, um sich Morphium zu beschaffen – nutzte er für einen Entzug, der nicht lange anhielt. Seine Ehe mit Anna Dietzen war die ersten Jahre recht glücklich, weil sie sich ihm unterordnete und seine häufigen Zornausbrüche verzieh. Dann hatte es den Anschein, dass er zu sich fand. Seine Bücher hatten manchmal große Erfolge, dann wieder wurden sie von der Kritik in Grund und Boden gestampft. Doch der Verleger Ernst Rowohlt half ihm, so viel und oft er konnte. Auch in der schwierigen Zeit des Nazionalsozialismus. Da „lavierte“ sich Hans Fallada durch, biederte sich an, zog sich zurück – er wollte nur eines: unbehelligt schreiben. Als Ernst Rowohlt emigrierte und der Verlag beschlagnahmt wurde, bekam Hans Fallada die ganze Härte der Nazibürokratie zu spüren. Doch er verließ Deutschland dennoch nicht. Nach Kriegsende ließ er sich von den Russen, die er als „Befreier“ bezeichnete, vor den Werbekarren spannen, hatte mit seinem letzten Werk „Jeder stirbt für sich allein“ nochmals einen großen Erfolg. Doch da war er körperlich und geistig schon am Ende – er stirbt in einer Nervenklinik. Der Autor schreibt: an einer Überdosis Schlafmittel, die ihm seine 2. Frau Ulla unwissentlich verabreicht hat. Sehr mysteriös.

Seine Werke: „Kleiner Mann was nun?“, „Wer einmal aus de Blechnapf frißt“ und „Jeder stirbt für sich allein“ gehört zum Besten, was in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschrieben wurde. Fallada schildert minutiös die Ängste, kleinen Freuden, Bedrohungen im Alltag, Neid, Hass – eben das Leben „von unten“, das er aus eigener Erfahrung bestens kannte.

Melanie Raabe. Die Falle. btb

Melanie Raabe kann Spannung erzeugen, den Leser fesseln. Der Trick: kein  Dedektiv forscht endlos langweilig, sondern die Zeugin eines Mordes sucht den Mörder in eine Falle zu locken. Dann beginnt ein Katz- und Mausspiel, in dem der Mörder den Spieß umdreht und der Zeugin suggeriert, sie wäre die Mörderin! Ein genialer Einfall der Autorin. Durch diesen Dreh der Perspektive wird der Leser stark verunsichert und die Spannung intensiviert. Aus der Zeugin wird über eine kurze Strecke die mögliche Mörderin. Sie fragt sich, ob nicht sie es war, die mit zahllosen Messerstichen ihre Schwester umgebracht hat. Sie forscht, horcht in ihr Inneres, hinterfragt ihr Verhältnis zu ihrer Schwester und hält es zunächst durchaus für möglich. Bis sie  das gefakte Alibi des Mörders aufdecken kann. Leider retardiert die Autorin den Gang der Handlung und die Spannung durch Einschübe eines Romans im Roman, der aber keine neuen Perspektiven einbringt.

Auf jeden Fall ist dieser Thriller eine ideale Urlaubs- und Sommerlektüre. Perfekt, um voll abzuschalten und ein wenig aus dem Alltag auszusteigen.

 

DDelphine de Vigan, Das Lächeln meiner Mutter. Droemer. Aus dem Französischen von Doris Heinemann

Es ist eines der Hauptthemen, das Delphine de Vigan immer wieder beschäftigt: Die Frage, wieviel in einem Roman, einem literarischen Werk jeglicher Gattung Fiktion, wieviel reine Berichterstattung sein darf. In dem vorliegenden Fall eine besonders heikle Frage, da es sich um die Aufarbeitung der Krankheit (Schizophrenie) ihrer Mutter, die sich dasLeben nahm, handelt. „Anfangs, als ich den Gedanken, dieses Buch zu schreiben….akzeptiert hatte, dachte ich, es würde mir ganz leicht fallen, Fiktives einzubauen. …Stattdessen kann ich an nichts rühren, …voller Schrecken bei dem Gedanken, ich könnte Verrat an der Geschichte üben, mich in den Daten, Orten, Altersangaben irren.“ Diese Gewissensfrage durchzieht den Text und den Fortlauf der Erzählung. Immer wieder unterbricht die Autorin, stockt, fragt sich, ob es richtig ist, die Familienmitglieder mit Fragen nach Erinnerungen zu belästigen, sie im Text miteinzubeziehen. Das macht das Buch in der ersten Hälfte schwerfällig. Erst mit dem voranschretend Erzählfluss scheint de Vigan es mit ihrem Gewissen vereinbaren zu können, über die intimsten Situationen und Gefühle der Mutter, ihrer Geschwister und Freunde, über ihre eigenen Gefühle und die ihrer Schwester nach dem Selbstmord zu berichten. Dann immer wieder die Frage: Ist diese Krankheit erblich? Wird der Hang zum Selbstmord an die nächste oder übernächste Generation weitergegeben? Eine Frage, die sich auch Charlotte Salomon in ihrem Buch stellt. (siehe auch meinen Beitrag: Marget Greiner, Charlotte Salomon). Eine andere Frage ist ebenso wichtig: Hat sie als Tochter, als Autorin  das Recht, die Geheimnisse ihrer Familie aufzudecken, zu schreiben, dass der allgegenwärtige Vater (ihr Großvater) ihre Mutter sexuell missbraucht hat? Hat sie das Recht, den Mythos der heilen Familie zu zerstören?Das Werk ist kein Roman, sondern eine Aufarbeitung, eine literarische Familienaufstellung, bei der  Verwundungen, Freuden,  Leiden,  Probleme, aber auch so manch schöne Erinnerungen an ihre kluge, überaus schöne Mutter Lucile wie Luftblasen aus dem Teich aufsteigen und vor dem Verschwinden durch Sprache, Schreiben festgehalten werden. Letztendlich ist es eine Liebeserklärung an eine Frau, die ihre Krankheit mit allen Mitteln bekämpft, immer wieder ins Leben zurück findet. Dann aber, erschöpft von den Kämpfen, den Zeitpunkt ihres Todes selbst bestimmt, als letzte große Freiheitsgeste.

Jean-Luc Seigle, Ich schreibe Ihnen im Dunkeln. C.H.Beck

Andrea Spingler verdanken wir die ausgezeichnete Übersetzung eines literarisch hochinteressanten und faszinierenden Werkes. Jean-Luc Seigles Sprache ist hart-realistisch und zugleich sehr poetisch. Ihre starke Sogwirkung zieht den Leser in das Geschehen hinein, auch in die grausamsten Stellen, wie etwa die Vergewaltigungsszene.

Einmal mehr geht es um eine wahre Geschichte! – Es scheint, dass in der Gegenwartsliteratur die Neigung sowohl bei Autoren, Verlagen und wahrscheinlich auch bei Lesern für wahre Begebenheiten oder Biografien zunimmt und das Interesse an der rein fiktionalen Literatur abnimmt. (Siehe auch meine Besprecheung von de Vigan, Eine wahre Geschichte) Vielleicht liegt es an der allzu subjektiven sprachlichen Nabelschau, die besonders der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nachgesagt wird.

Pauline schreibt ihre Geschichte in ihrem Haus in Essaouira auf. Dorthin ist sie aus Frankreich geflohen, um ihrer Erinnerung zu entgehen und mit neuem Namen ein neues Leben zu beginnen. Ihre Kindheit in Frankreich während des 2. Weltkrieges war geprägt von Trauer: Zwei ihrer Brüder sind im Krieg gefallen, die Mutter verweigert sich monatelang dem Leben und ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Kochen. Da sendet der Vater die junge, hübsche Pauline als Krankenschwester zu einem deutschen Arzt, in der berechtigten Hoffnung, dass ihre Schönheit diesen betören und er sie mit ausreichend Lebensmittel versorgen wird. Dieser perfide Plan geht auf – Pauline wird nicht nur die Assistentin, sondern auch seine Geliebte. Und sie bringt Lebensmittel nach Hause. Was der Vater hoffte, passiert:: Die Mutter beginnt wieder zu kochen und sich dem Leben zuzuwenden. Doch bei Kriegsende wird Pauline vom Pöbel aus dem Haus gezerrt, als Deutschhure geschoren und grausam vergewaltigt. In letzter Minute kann der Vater aus sie aus diesem Albtraum heraus holen. Er bringt sie in ein Dorf, wo niemand sie kennt und sie sich in seelischer Dunkelheit verkriecht. Doch der Vater fordert ihre Intelligenz und ihren Lebensmut heraus – sie beginnt Medizin zu studieren, verliebt sich über alle Maßen in einen Studenten aus gutem Haus. Als er von ihrer Vergangenheit erfährt, wendet er sich ab und beschimpft und verspottet sie. Sie erschießt ihn im Affekt. Ihr Prozess wird eine Show – man stellt sie als Monster hin, verurteilt sie zu Tode, dann jedoch zu lebenslänglicher Gefängnisstrafe, aus der sie nach 9 Jahren frei kommt. Inzwischen ist ihre Geschichte auch verfilmt worden und sie entzieht sich dieser Qual, immer wieder ihrer Geschichte zu begegnen, und beginnt ein neues Leben in Essaouira( Marokko). Dort verliebt sie sich in einen Marokkaner, der sie heiraten möchte. Für ihn schreibt sie die Geschichte auf. Doch als er die „Wahrheit“ über sie erfährt, wendet er sich von ihr ab.

In einer Sprache, die den Skandal und die Effekthascherei scheut, zieht der Autor den Leser in die Tiefen einer gequälten Seele hinein. Man folgt ihr, widerstrebend bis in die tiefste Erniedrigung der Vergewaltigung. Ohne sich dabei des Voyeurismus zu bezichtigen. Man muss ihr folgen. Wie um mit ihr durch einen Reinigungsprozess zu gehen. Das Buch hat die Kraft einer Wiederbelebung: Pauline wird stellvertretend für viele Frauen, die solch ein Schicksal erlitten, durch ein literarisches Reinigungsritual von jeglicher Schuld der „Konspiration mit dem Feind“ frei gespochen. Die Schuld trifft die Menschen, die solche Racheakte vollzogen.

Delphine de Vigan, Nach einer wahren Geschichte. Aus dem Französischem von Doris Heinemann. Dumont

Die Autorin stellt die Frage: Wieviel Autobiographisches, wieviel Reales soll, darf ein Roman enthalten. Es gab eine Ära in der Literaturwissenschaft, da galt es als verpönt, nach biographischen Fakten in dem jeweiligen Werk zu fragen. Nun scheint eine Kehrtwende um 180 Grad eingetreten zu sein. „Das Wahre, die Wahrheit“ – siehe Titel – spielt eine Hauptrolle -fragt sich nur : Wahrheit über wen und was, und : Gibt es diese Wahrheit? Mit diesen Fragen spielt Delphine de Vigan geschickt und intelligent, mit enormer Sprachbegabung. Der Forderung nach Wahrheit bis zur Bloßstellung kommt zum Beispiel der Autor Thomas Melle in seinem schonungslosen Bericht über seine Krankheit nach. Ob so ein Buch dann noch Roman genannt werden kann?

Delphine de Vigan packt diesen Fragenkomplex in einen Thriller. Die Ich-Erzählerin ist eine gefeierte Autorin, die von den Lesereisen, dem Erfolg ihres Buches ermüdet ist, sich zurückziehen möchte, um das vom Verlag so dringend geforderte neue Buch zu schreiben. Doch sie hat eine totale Schreibhemmung, kann weder einen Bleistift halten noch sich an den Computer setzen. Da tritt L. in ihr Leben – eine Frau ihres Alters. Sie hat keinen Namen, nur L. Mehr und mehr übernimmt L. die Führung im Leben der Erzählerin, tritt sogar als diese auf. Im Zusammenleben der beiden geht es nicht immer friedlich zu. L. verlangt von der Erzählerin, dass sie das „ultimative Buch“ schreiben soll, wobei in den Diskussionen nicht klar wird, was sie darunter versteht. Doch taucht immer wieder die Frage auf, wieviel persönliches Leben in ein Werk einfließen soll oder darf. Fiktion allein genüge nicht mehr, das hätten die Leser zur Genüge gehabt. Reales, Wahres ist gefordert. Die Diskussionen um die Relevanz eines Romanes bilden die Metaebene, die Handlung selbst ist spannungsgeladen. Der Leser fragt sich, wann und wie kann sich die Icherzählerin aus den Fängen von L. befreien?

 

 

 

 

 

Elena Ferrante, Die Geschichte eines neuen Namens. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp

Sie hat es wieder getan! Elena Ferrante hat uns mit dem 2. Band ihrer „Neapolitanischen Saga“, wie sie ihr Werk selbst nennt, wieder völlig in den Bann geschlagen. Lila hat geheiratet, von allen wegen ihres „Reichtums“ beneidet, zieht mit ihrem Ehemann Stefano in ihre blitzblanke neue Wohnung ein und schon beginnt der Kampf zwischen ihr und ihrem Mann. Sie ist – wie immer – die Überlegene. Lenu – die Icherzählerin beneidet ihre Freundin um diesen „Aufstieg“. Wie die Jugendjahre zwischen 17 und 24 sich entwickeln, ist spannend, lässt an eigene Kämpfe in der Jugendzeit erinnern.

Der Rione ist heruntergekommen, wie ganz Neapel. Das Zentrum nur äußerer Glanz, Korruption und Mafia, Streit, Rauferein, Intrigen beherrschen den Alltag. Lila ist über ihren neuen Namen – Carracci – unglücklich, fühlt sich beschmutzt. Er frisst ihr Inneres auf. Deshalb zerstört sie auch ihr Foto im Schuhgeschäft, übermalt es und zerlegt es bis zur Unkenntlichkeit. So fühlt sie sich.

In einem Sommer auf Ischia droht die Freundschaft zwischen Lila und Lenu zu zerbrechen: Lila schnappt sich den von Lenu angebeteten Freund, schläft mit ihm, bekommt ein Kind. Zieht von Stefano weg. Lenu beginnt ein Studium in Pisa, macht ihr Doktorrat, ihr erstes Buch wird veröffentlicht. Die Kluft zwischen ihr und Lila könnte nicht größer sein. Doch sie erkennen, dass trotz der Kluft zwischen ihnen die Freundschaft weiter bestehen wird.

Ferrantes Erzählkunst ist einmalig: Immer wieder überrascht sie mit treffenden, detailreichen Szenen, die Milieu und Menschen treffend charakterisieren. Beispielsweise entlarvt sie gekonnt das Partygeplapper der so genannten Gebildeten, die politische Parolen und literarische Neuigkeiten einander wie Pingpongbälle zuwerfen, um damit zu prahlen.

Faszinierend schildert sie den Kontrast der beiden Freundinnen: Lila ist ein gefährliches Tier, unberechenbar, kann jederzeit zubeißen, kümmert sich nicht um das Gerede rund um sie. Lenu – schüchtern, unsicher, orientiert sich immer wieder an der Kraft der von ihr so bewunderten Freundin, bemüht, es ihr gleichzutun, wenn nicht gar sie zu überflügeln.

Ganz leichtfüßig erfährt der Leser von den Problemen Italiens, von der politischen Lage der 60er Jahre. Da sind keine langen Belehrungsszenen, alles wird über Gespräche, Ereignisse transportiert. Aktion und Reflexion sind geschickt ineinander verwoben und ergeben den zupackenden Fluss, der uns in das Geschehen hineinzieht. Da heißt es im Buch über das Buch, das Lenu geschrieben hat: „Da ist Ehrlichkeit, Natürlichkeit und etwas Gehaltvolles im Stil, wie man es nur in wahren Büchern findet.“ (S594) – Damit hat Ferrante wohl ihren eigenen Stil und Erfolg erklärt. An diesem Erfolg ist die Übersetzerin Karin Krieger sicher nicht ganz unbeteiligt. Ihr gelingt es, den Schwung, die Atmosphäre  und die Klangfarbe des Dialektes gut ins Deutsche hinüber zu transportieren.

 

 

Michela Murgia, Chirú.Übersetzung aus dem Italienischen: Julia Brandestini. Wagenbach Verlag

Der Roman lässt mich etwas ratlos zurück: Ich weiß nicht, ob ich dieser ziemlich abgehobenen und selbstverliebten Hauptfigur auch nur ein Fünkchen Sympathie entgegen bringen kann, soll oder müsste. Eleanora ist achtunddreißig Jahre alt,  Sardin und eine erfolgreiche Theaterschauspielerin. Gerne nimmt sie junge Burschen so zwischen 16 und 18 als „Schüler“ an – und da beginnt mein Dilemma: Was lehrt sie diese Burschen? Sich richtig benehmen und kkleiden, im Kreis illustrer VIPs die richtigen Leute zur richtigen Zeit ansprechen? – Agentin ist sie keinesfalls, auch nicht wirklich „Lehrerin“. Der Verdacht kommt auf, dass sie diese Jungs  als Adoranten holt, um  sich in deren Bewunderung zu bestätigen. Einen „Schüler“ hat sie unwissentlich in den Selbstmord getrieben, weil sie nicht erkennen wollte und auch nicht erkennen konnte, dass er in sie schwer verliebt war.

Nach diesem „Unfall“ vergehen Jahre, bis sie – nun achtundreißig – den achtzehnjährigen Geiger Chirú kennenlernt und sich ihm als „maestra“ anbietet. Doch dieser Junge übt eine starke Anziehungskraft aus, mit der sie  zuerst nicht gerechnet hat, dann aber kokett spielt. Erotische Spiele sind erlaubt, Küsse, Streichelgaben, aber nicht mehr. Gerade so viel, dass sie sich ihrer Wirkung sicher sein kann. Denn sie hat sich inzwischen in einen berühmten Dirigenten verliebt, den sie am Ende auch heiratet. Eine Wiederbegegnung mit Chirú nach einigen Jahren gibt ihr immerhin einen Stich ins Herz, aber ganz ohne Schuldgefühl.

Tja, wo liegt nun genau mein Problem? – Dass die Autorin die Figur ganz sicher als eine kluge, gebildete Frau schildern möchte, die sich Gedanken über menschliche Beziehungen macht. Keinesfalls – so denke ich wenigstens – soll Eleonora als eine Frau erscheinen, die junge Burschen braucht, um sich in der deren Jugend zu sonnen. Das war ganz sicher nicht die Intention von Michela Murgia. Denn sie überträgt auf Eleonora wohl ihre eigenen Gedanken, philosophischen Überlegungen zur Welt und zu dem, was richtig und falsch ist. Nur leider – der Faden der Erzählung läuft gegenteilig. Ich staunte immer mehr über die Selbstgefälligkeit der Hauptfigur, ihre arrogante Art, mit diesen „Schülern“ umzugehen. Also ich hätte nie sie als „maestra“ akzeptiert. Wie sagen die Wiener zu einer Person wie Eleonora eine ist? – Zicke oder Tussi.

Jochen Schmidt, Zuckersand. C.H. Beck Verlag

Schmidt ist ein Autor mit Humor und genauer Beobachtungsgabe. Er sieht die Welt aus den Augen eines zweijährigen Kindes, das im Begriffe ist, die Umgebung zu erobern. Karl, so heißt das neugierige, willenstarke Kerlchen, hat seinen eigenen Kopf, seine eigenen Vorstellungen. Egal, ob im Supermarkt, wo er großen Gefallen an der Maschine für Flaschenretouren findet und sie mit allerlei Waren füttert oder sonst irgendwo „Unordnung“ in die allzu geordnete Welt der Erwachsenen bringt, der Vater hat dafür Verständnis. All die kleinen Aktionen seines umtriebigen Karl erinnern den Vater an seine eigene Kindheit. Mit viel Humor gelingt  es Jochen Schmidt, das Bild einer  allzu organisierten Gesellschaft, zu hinterfragen.  Von der Mutter Karla, die dieser perfekten Welt anhängt,  kommen aus ihrem Büro per SMS Anweisungen, wie Karl zu erziehen sei.  Sie ist das Urbild der überbehütenden Mutter, die ihr Kind zwar nicht selbst erzieht, da sie den ganzen Tag arbeitet, aber genaue Vorstellungen von Erziehung hat. Karl und der Vater unterlaufen diese ständig, obwohl sich der Vater redlich bemüht, ein „ordentlicher“ Vater zu sein.

Bei all den Aktionen, die der Vater und Karl unternehmen, schmunzelt der Leser, erinnert sich vielleicht an die eigene Kindheit. Der Autor fordert jedoch auch die Geduld des Lesers heraus, wenn er seine skurrilen Einfälle all zu sehr in die Länge zeiht.. Zum Beispiel: Karla und er wollen endlich eine größere Wohnung. Doch die Vorstellungen der beiden über die Einrichtung triften weit auseinander: Er möchte „ein Loch in der Wand, durch das manchmal ein Elefant seinen Rüssel steckt.“ Die Idee ist amüsant, verliert jedoch an Spaßkraft, wenn noch ein langer Katalog von ähnlichen Wünschen angefügt wird. Man hat als Leser oft das Gefühl, der Autor kann mit seiner überbordenden Witz-Phantasie nicht ökonomisch umgehen und will unbedingt den Zettelkatalog aller schrägen Einfälle abarbeiten. Weniger wäre manchmal mehr.

Das zauberhafte Umschlagbild von Line Hoven, das eine Erwachsenenfigur mit einem Kind an der Hand zeigt, die mitten im Dschungel einen Fluss über eine fragile Hängebrücke überqueren, ist eine gelungene Umsetzung und Zusammenfassung des Romans. Ebenso die Vignetten vor den einzelnen Kapiteln.

 

 

Margret Greiner; Charlotte Salomon. Es ist mein ganzes Leben. Knaus Verlag

Charlotte Salomon – eine faszinierende Persönlichkeit, von der Autorin Margret Greiner faszinierend in eine Romanbiografie gefasst. Wieder einmal hat die Autorin bewiesen, dass sie durch intensive Recherchen, hohe Einfühlsamkeit und starke Sprachbilder einen Charakter dem Leser in die Seele schreiben kann. Charlotte Salomons Schicksal wurde während der Salzburger Festspiele  2014 in dem gleichnamigen „Sing-Spiel“ von Marc-André Dalbavie auf der Bühne der Felsenreitschule inszeniert. Im nachfolgenden Jahr zeigte das Rupertinum in Salzburg einen Großteil ihrer Bilder.

Charlotte Salomon wurde 1917 in Berlin in eine großbürgerliche, jüdische Familie hineingeboren. Früh schon wurde ihr Mal- und Zeichentalent erkannt. Wegen anhaltender Diskriminierung und Gefährdung des Lebens schickten ihre Eltern sie 1939 zu den Großeltern nach Villefranche in  Südfrankreich. Hier beginnt sie die Stationen ihres Lebens in vielen hundert Gouachen und Texten aufzuarbeiten. Malen wird zur Lebensbewältigung und hilft ihr, die Angst einzudämmen. 1943 heiratet sie Alexander Nagler. Beide werden noch im selben Jahr verhaftet und nach Auschwitz deportiert, wo sie – im fünften Monat schwanger – ermordet wird. Ihr Ehemann stirbt 1944 im Lager.

Im Leben dieser Künstlerin war der Selbstmord ein alles beherrschendes Thema. Ihre Mutter, Großmutter und eine Tante hatten sich das Leben genommen. Sie dagegen ist entschlossen, diesem Fluch nicht zu erliegen. Auch in der größten seelischen Not in Villefranche, nach dem Selbstmord der Großmutter und dem natürlichen Tod des Großvaters gibt sie sich nicht auf. Sie schließt sich über Monate in eine Kammer ein, geht kaum aus und malt, malt, malt. Malen ist das Heilverfahren, mit dem sie sich vor Ängsten schützt und in dem sie alle Verluste in ihrem kurzen Leben aufarbeitet.

Margret Greiner findet großartige Sprachbilder für den Malprozess selbst und die Interpretation der Bilder.(Dem Verlag sei gedankt, dass ein reiches Bildmaterial abgedruckt werden konnte!)  Sie taucht in die Seele der Künstlerin ein. Ihre Sprachkraft ist der Begabung und dem Charakter Charlottes gewachsen. Deshalb darf sich die Autorin auch die intimsten Gedanken Charlottes aneignen. „Bilder fielen in sie ein..“(S 261) heißt es da, und der Leser erlebt durch die immense Sogwirkung der Sprache haut- und seelennah die Qualen und  Gedanken der Künstlerin mit. Für Charlotte Salomon hieß malen existieren und das Leben verstehen. „Alle Wege lernte ich gehen und wurde ich selbst“ schreibt sie und titelt ihr Werk: „Es ist mein ganzes Leben“.

Silvia Matras empfiehlt dieses Buch allen, nicht nur den Kunstinteressierten. Es kann auch als „Zeitzeugenbuch“ gelesen werden, als lebendiges Zeugnis über die Gräuel der Nazizeit. Wobei Margret Greiner es vermeidet, dem Horror dieser Zeit Sprache zu verleihen . Indem sie diesen ausspart oder nur in nüchternen Fakten bestehen lässt, ist er um so stärker präsent.

Weitere Bücher von

Margret Greiner: Emilie Flöge. Modeschöpferin und Gefährtin Gustav Klimts, K&S Verlag

Margret Greiner: Charlotte Berend-Corinth und Lovis Corinth. Herder Verlag

 

Elena Ferrante, Meine geniale Freundin. Suhrkamp

„Alle Welt liest Elena Ferrante“ soll die FAZ geschrieben haben. So steht es jedenfalls auf der Rückseite des Covers. Das mag eine Übertreibung sein, aber wahr ist: Viele reden über das Buch, über die Autorin, von der man nicht weiß, wer dahinter steckt – angeblich soll ein Journalist das Geheimnis schon verraten haben. Aber das alles gehört in den Bereich „marketinggag“ und Verkaufsstrategie.

Tatsache ist: Das Buch ist wirklich ausgezeichnet! Und man beendet es nur ungern – aber es gibt ja schon den 2. Teil. Vordergründig geht es um die Geschichte einer Kinder- und Jugendfreundschaft in den 50er Jahren in Neapel. Lila und Lenu sind unzertrennliche Freundinnen. Lila bestimmt, was gespielt wird, Lenu folgt ihr wie ein Hündchen. Ihre Wege trennen sich für kurze Zeit, als Lenu das Gymnasium besuchen darf. Aber sie bleiben dennoch immer im Kontakt, denn zu sehr hängt Lenu von „ihrer genialen Freundin“ ab. Mit der Pubertät tritt Lenu in eifersüchtige Distanz zu Lila, die sich mit einem wohlhabenden jungen Mann verlobt. Der Roman endet mit der Hochzeit Lilas. Dieser Plot klingt banal. Aber der Autorin gelingt es, so ziemlich alle Probleme der Stadt und der Nachkriegszeit ohne moralischen Zeigefinger hineinzupacken: Die Armut der Familien, die Chancenlosigkeit der ungebildeten Eltern und Kinder. Lenu ist eine der wenigen Ausnahmen, die statt irgendeine Lehre zu absolvieren oder gleich zu heiraten, das Gymnasium wählt. Die sprachliche Barriere zwischen der bürgerlichen Schicht, die Italienisch spricht und sich dementsprechend ausdrücken kann, und den Bewohnern des Rione, wo nur Dialekt gesprochen wird, wird immer wieder angeführt, ebenso all die Grenzen und Barrieren, die die Kindern dieses Viertels wahrscheinlich nie in ihrem Leben werden überwinden können. Ein Neapel der Chancenlosigkeit, aber nicht der Lieblosigkeit schildert Ferrante. Denn trotz der Armut haben die Kinder eine fast sorglose Kindheit: sie spüren die Armut nicht, weil alle gleich arm sind. Erst die Ausflüge in die andere Welt der weniger Armen, der Begüterten und der Reichen machen ihnen den Abstand zur Welt des Erfolges bewusst. Dass es unter den Bewohnern des Rione auch weniger Arme gibt, die mit Mafia-Methoden die anderen in der Hand haben, ist auch ein Thema.

Man erfährt viel mehr über Neapel und über die Probleme der Nachkriegszeit als in Curzio Malapartes Roman „Die Haut“, wo die Grausamkeiten um ihrer selbst willen beschrieben werden. Bei Ferrante existiert das Grausame, das Teuflische (sie setzt ja den Auftrag Gottes an Mephisto aus Goethes Faust als Motto voran), aber schreibt es dem menschlichen Charakter als immanent zu, geboren aus den Missständen.

Bruno Pallandini: Dieses altmodische Gefühl. Residenz Verlag

Ein erfrischend unzeitgemäßes Thema: Die altmodische Liebe eines 50 Jährigen zu einer 70jährigen Schauspielerin in Pension. Der Erzähler ist Architekt, mangels Aufträge hat er auf Baumeister umgesattelt. Die Firma läuft bestens, Geld spielt keine Rolle. Er gibt sich den komischen Namen „Ildefons“ – wer denkt da nicht an das Konfekt Ildefonso? – seine Angebetete nennt sich Pernilla.Schon die Wahl der Namen führt dem Leser vor Augen, wie realitätsfern Thema und Personen sind. Er lernt sie kennen, als seine Arbeiter gerade dabei sind, den Plafond ihrer Wohnung zu durchbohren. Pernilla nimmt Chaos und Schmutz mit erstaunlicher Gelassenheit. Ildefons entschuldigt sich für dieses Missgeschick – und da beginnt die Beziehung. Zuerst ist er nicht mehr als begleitender Kavalier. Bei den Einladungen immer an ihrer Seite. Aus der Freudschaft wird von seiner Seite mehr. Sie aber gestattet nur zarte Wangenküsschen, maximal Händchenhalten. Als Ildefons mit ihr schlafen will, zieht sie sich zurück, bleibt für ihn durch Wochen unauffindbar. Er betrinkt sich, baut einen schweren Autounfall und hinkt von dieser Zeit an. Gerührt von seiner Verzweiflung eilt Pernilla herbei, um ihn zu pflegen. Offener Schluss. Alles bleibt in Schwebe.

Pellandinis Figuren könnten aus einem Schnitzlerstück entnommen sein: Ildefons, der sorglose Lebensgenießer. ER hat wenig Bodenhaftung, vergisst über diese aussichtslose Liebe sein Geschäft, schlittert fast in den Konkurs. Pernilla die kaprizierte Schauspielerin, die sich die Freunde wie Lakaien hält. Wien als parfümierte Umgebung: Salons, in denen man zum Diskutieren, Trinken und Intrigieren zusammenkommt. Ja, und natürlich die Liebe, was immer man darunter zu verstehen hat. Denn  genau weiß es Ildefons auch nicht. Obwohl er oft über „dieses altmodische Gefühl“ spricht. Pellandini zieht das heikle Thema – ältere Frau mit viel jüngerem Liebhaber – elegant und mit der angenehmen Würze der Ironie durch, ohne je moralisierend zu werden. Wie die Beziehung in der so genannten guten Gesellschaft Wiens aufgenommen wird, zeigt Pellandini mit lächelnder Distanz.

Daniela Strigl: Berühmt sein ist nichts. Marie von Ebner-Eschenbach. Eine Biographie. Residenz Verlag

Nun habe ich mich durch Wochen in das Leben von Marie Ebner-Eschenbach hineingelesen.  Je näher das Buch und ihr Leben sich dem Ende zuneigte, desto weniger Seiten las ich pro Tag. Denn ich wollte mich nicht verabschieden – wollte nicht, dass ihr Leben endet, wollte nicht, dass das Buch endet. Ich zögerte den Tod hinaus, wollte die Dichterin nicht loslassen.

Daniela Strigl ist eine bekannte Literaturwissenschaftlerin. Mit dieser Biographie hat sie sich in die Herzen aller hineingeschrieben, die  Marie Ebner-Eschenbach schon immer als Autorin schätzten. Sie beschreibt das Leben einer Frau, die von Kindheit an wusste, sie will Dichterin werden. Ebner-Eschenbach hatte als Frau sich ihren Platz in der Literatur mühsam erkämpfen müssen. Die Familie, ihr Ehemann – sie alle hielten nichts von ihrer „Schreiberei“. Sie sollte sich – wie alle adelige Frauen – um Haushalt und Familie, um Arme und Kranke kümmern und nur eines nicht tun: Dichten. Aber Marie Ebner-Eschenbach ließ nicht nach, schrieb gegen alle Widerstände an, versandte immer wieder ihre Novellen und Dramen – jahrelang mit wenig Erfolg. Zwar wurde hin und wieder eines ihrer Dramen am Burgtheater gespielt, aber der große Durchbruch blieb lange aus. Erst als sie sich entschloss, vom Drama zu lassen, und sich dem Roman zuwandte, stellten sich die Erfolge ein. Mit „Bozena“, „Lotti die Uhrmacherin“ und vielen anderen Romanen  erschrieb sie sich einen Ehrenplatz in der damaligen Literaturszene. Je älter sie wurde, desto mehr Ehrungen erhielt sie, unter anderem auch das Ehrendoktorrat der Akademie der Wissenschaften.

Marie Ebner-Eschenbach war eine Kämpferin für Frauenrechte, gegen den Krieg und gegen jede Gewalt. In ihren Werken kritisert sie den Standesdünkel und die Kälte des Adels im Umgang mit ihren Dienstboten, kritisiert die unterwürfige Rolle der Frau in der Ehe. Sie hilft Armen, wo sie kann. Mit Geldspenden, Briefen und persönlichen Gesprächen. Oft bleibt ihr nur wenig Zeit für ihre eigentliche Arbeit, das Schreiben.

Daniela Strigl gelingt es, die wissenschaftlichen Aspekte gut in eine lebhafte Schilderung zu integrieren. Präzision und Ausführlichkeit gepaart mit einer farbigen Charakterisierung der Personen machen die Biographie zu einem leicht lesbaren und wertvollen Zeitdokument des 19. Jahrhudnerts. Man erlebt nicht nur die Entwicklung der Dichterin, sondern auch die politischen Probleme. Marie Ebner-Eschenbach weiß um den fragilen Bestand der Monarchie und fürchtet, dass nach dem Krieg nichts mehr so sein wird, wie es einmal war. Sie stirbt wenige Monate vor ihrem so verehrten Kaiser Franz Joseph.

Silvia Matras empfiehlt diese Biographie allen, die sich für österreichische Literatur interessiern.

Marie Luise Lehner: Fliegenpilze aus Kork. Kremayr&Scheriau

Ein Lesevergnügen der besonderen Art! Die 22 Jahre junge Autorin erzählt – nein, besser: sie protokolliert – in Stakkatosätzen über ihren recht ungewöhnlichen Vater. Sie erzählt in der Ichform, aus der Perspektive eines Kindes, das seinen Vater (fast) bedingungslos liebt. Die Eltern sind getrennt. Das Protokoll beginnt mit der Stunde Null, der Geburt, und setzt sich über die Jahre bis ins 20. Lebensjahr fort. Die Kapitel heißen: Eins werden, Zwei werden…und so fort. Schon diese Übertiteln lassen einen ungewöhnlichen Erzählstil vermuten, dessen Reiz in dem naiven, unbedingten Glauben an alles, was der Vater tut und sagt, liegt. Der Vater hat – wienerisch gesagt – eine ordentliche Makke. Aber dem Kind gefällt es, findet alles normal, ja genießt dieses Außenseitertum des Vaters, ohne es als solches zu erkennen. Er bringt dem Kind auch allerlei Schmähs bei, zum Beispiel, woran es Kontrollore in der Straßenbahn erkennen kann – denn Schwarzfahren ist Ehrensache. Er bringt ihm bei, wie sie Brötchen im Buffet der Oper klauen können. Aber auch Eislaufen oder Bilder malen. Mit dem Älterwerden entsteht eine gewisse Distanz, der Vater wird immer wirrer, seine Emails immer unverständlicher. Da beginnt sich der Charme des Stils und der Figuren ein wenig abzunützen, als wären dem Vater und der Autorin die Ideen ausgegangen. Insgesamt aber ein viel versprechender Debütroman.

Sabine Gruber, Daldossi oder Das Leben des Augenblicks. C.H. Beck

Ein Roadmovie der besonderen Art: Bruno Daldossi ist Kriegsfotograf, von sich und seinem Beruf angeekelt, Trinker und überhaupt kaputt. Marlis, sein Beziehungsanker durch Jahre, hat ihn verlassen. Sie kann und will nicht mehr mit seinen schrecklichen Geschichten leben, nicht in all ihrem Tun und Handeln relativiert und in Beziehung zum Leben in den Kriegsgebieten gesetzt werden. Sie zieht zu einem italienischen Gymnasiallehrer nach Venedig. Und Bruno fährt ihr nach, versucht verzweifelt, sie zurückzugewinnen. Doch sie ist von dem betrunkenen und lallenden Kerl nur angewidert. Aus dieser plötzlichen Lebens- Leere heraus beschließt Bruno, Johanna nach Lampedusa nachzufahren.   Johanna ist Journalistin und erhält den Auftrag, in Lampedusa über die Lage der Flüchtlinge zu recherchieren. Doch als Bruno sie findet, ist sie bereits krank, hat hohes Fieber. Er kümmert sich um sie, versucht auch so etwas wie eine sexuelle Beziehung aufzubauen, was aber nicht gelingt. Schließlich organisiert er für sie den Rückflug nach Österreich. Er selbst kauft ein Boot und macht sich auf die Suche nach einem Jungen irgendwo in Afrika. Der Roman endet mit einem Foto, das Brunos Mutter mit diesem Jungen auf einer Parkbank in Meran zeigt.

Ein hartes Lesebrot, dieser Roman. Die Autorin zeigt zwei Realitäten auf: Die von Marlis, die Zoologin ist und sich um Bären kümmert, die von Bruno, der dem ultimativen Foto nachjagt, im Dreck und Elend lebt, um Dreck, Elend und Schrecken im Bild festzuhalten. Nicht aus moralischen Gründen. Er will nichts verbessern, nicht anklagen, er will nur seine Bilder gedruckt und prämiert sehen. Dass ihn dieses Leben kaputt macht, machen muss, ist klar. Aber so lange er Marlis als Anker in der normalen, bürgerlichen Welt hat, zu der er immer wieder zurückkehren kann, hält er den Druck aus und jagt weiter von einem Kriegsschauplatz zum anderen.  Dann aber, nach der Trennung, verliert er den Boden unter den Füßen. Besäuft sich, kotzt sich an – wird widerlich, unerträglich- unerträglich schildert Sabine Gruber diesen Mann und  seine Fotos, die sie als Bildtext in das Geschehen hineinsetzt.

Brauchen wir so einen Roman? Im Feuilleton wurde er hoch gelobt. Leserinnen – ja, vor allem Frauen  – reagieren unterschiedlich. – Reaktionen aus dem Lesekreis: „Auf S 50 aufgegeben, auf S 126 aufgegeben. Nur mehr quergelesen. Doch auch einige positive Stimmen: Gruber führt uns vor, wie voyeuristisch unsere Gesellschaft ist. Sie braucht solche Bilder, um sich nach dem Betrachten/Lesen dann um so wohliger wegzudrehen und sich dem bürgerlich gesicherten Alltag genüsslich zuzuwenden. Das hat übrigens schon Goethe im Faust I gewusst. Das wissen wir alle. Das ist nicht neu. Warum dann der Roman? Vielleicht um ihren 1999 im Kosovo gefallenen Freund, der Kriegsfotograf war, ein Denkmal zu setzen? Oder vielleicht, um allen zu sagen: Seht her, wie kaputt dieser Beruf macht – auch das wissen wir.Am überzeugendsten wirkt der Roman gegen Schluss, wenn Sabine Gruber die Zustände auf der Insel Lampedusa beschreibt – die Überforderung der Bewohner, die sich gegen das Elend durch Gleichgültigkeit abschotten oder daran verdienen.

Sabine Grubers Sprache ist hart, dicht. Sie findet neue Wendungen, wie“ Sehwürmer“ oder „Traumvernichter“ für Fotos, die man nicht aus dem Hiirn raus bekommt. Ohne Beschönigung analysiert sie den Charakter Bruno Daldossis. Wahrhaft ein gnadenloser Roman.

Denton Welch, Freuden der Jugend. Wagenbach Verlag

Den fünfzehnjährigen Orvil muss man einfach mögen. Mit welcher Intensität er die Ferien erlebt! Das Internat hasst er ganz gewaltig. Deshalb kann er es kaum erwarten, von seinem Vater in einem großen, eleganten Auto abgeholt zu werden. Er wird mit ihm und seinen beiden älteren Brüder die Ferien in einem Nobelhotel nahe der Themse in Surrey verbringen. Zu seinem Vater hat er keine besondere Verbindung. Er sieht ihn nur alle drei Jahre. Dass er von ihm Microbe oder Made genannt wird, stört ihn nicht weiter. Orvil durchstreift tagsüber die Umgebung des Hotels, meidet den Kontakt zu seinem ältesten Bruder, vor dem er sich fürchtet. Es sind die kleinen Erlebnisse, das Durchstöbern der Welt um ihn herum, die das Buch so liebenswert machen. Denn Orvil ist trotz seiner fünfzehn Jahre noch immer ein Kind, das sich freut, wenn er sich vom Taschengeld ein kleines Parfumfläschen kauft, wenn er in der Kirche herumstöbert und heimlich still und leise die Madonnenstatue küsst. Als er in ein Gewitter kommt und in einer Hütte bei einem  Mann Unterschlupf findet, zählt das für Orvil zu den unvergesslichen Abenteuern in seinem bisherigen Leben. So reiht sich Abenteuer an Abenteuer, in denen Orvil die Welt entdeckt, die ihm im Internat ja verboten ist. Als er am Ende der Ferien ins Internat zurückkehren muss, ist er um viele Erfahrungen reicher. Die Rückkehr in die verhasste Schule erträgt er mit einem stoischen Lächeln.

Eine fein gesponnene Erzählung über eine Jungend in England noch vor dem WEltkrieg.

Robert Seethaler, Die weiteren Aussichten. Kein&Aber Pocket

Also gleich noch einmal Seethaler! Auch diesmal nicht mit derselben Begeisterung wie bei den Romanen „Der Trafikant“ und „Ein ganzes Leben“. Obwohl Thematik und Struktur dieses Romans sich in vielen Punkten ähneln, gibt es einiges, das ganz einfach „nervt“.

Schauplatz: Irgendwo in irgendeiner Provinz – „Provinz“ im pejorativen Kontext zu verstehen. Dort gibt es nichts als eine Tankstelle und eine Landstraße, auf der kaum Autos vorbeifahren und daher auch kaum wer zum Tanken stehen bleibt. Herbert Szevko lebt dort mit seiner Mutter und dem Fisch Georg. Er ist  Epileptiker und wird von allen als nicht ganz gesund im Kopf belächelt oder auch gemobbt. Seine Mutter liebt ihn, zwar mit herber Strenge, aber dennoch…

In dieses öde Leben bricht Hilde ein.  Auf einem blauen Klapprad fährt sie vorbei. Hilde ist klein, rund, robust und in Herberts Augen das schönste Mädchen weit und breit. Herbert folgt ihr in das Hallenbad, wo sie als Putzfrau arbeitet, springt für sie sogar vom Fünfmeterbrett und verliebt sich in sie. Und sie in ihn. Ohne große Umstände zieht sie zu ihm. Das mit der körperlichen Liebe klappt noch nicht so recht., Die Mutter ist unzufrieden mit Hilde, schikaniert sie, wo sie nur kann, trotzdem bleibt Hilde. Als die Mutter wegen Krebs ins Krankenhaus eingeliefert wird, beginnt der Teil des Romans, der „nervt“. In einem schier endlosen, absurden, manchmal witzig – eher aberwitzigen Roadmovie entführen Herbert und Hilde die Sterbende aus dem Krankenhaus und rattern mit ihr, die sie auf der Krankenliege festgezurrt haben, durch die Gegend, durch Schlamm, durch Wälder und Wiesen, immer auf der Suche nach Freiheit, nach Freisein von vermeintlichen Verfolgern. Da hat der Autor sichtlich vergessen, die Reißleine zu ziehen. Er begibt sich in ein für ihn ungewöhnliches Fahrwasser – ins abstrus Unwahrscheinliche. Als die Todkranke diesen Horrortrip nicht übersteht und stirbt, graben die beiden unter größten Mühen sie in einem Feld ein. Immer ist der Fisch Geog mit dabei, wird in seinem Aquarium hin und hergeschüttelt. Das wäre recht witzig, wenn Seethaler den Fisch nicht so oft mitspielen ließe …das Motiv wird bis zur Ermüdung ausgequetscht.

Erheiternd ist der Showdown: Hilde und Herbert zünden die Tankstelle an und unter einem heftigen Gewitter mit Blitz und Donner birst diese in tausend Teile. Danach sollen, so berichtet ein Dorfbewohner, die beiden Hand in Hand glücklich die Dorfstraße hinunter gewandert sein, bis sie der Horizont verschluckte. Natürlich Fisch Georg mit dabei. Wie immer gelingt es Seethaler, für die beiden Außenseiter Hilde und Herbert Mit-Leiden und Sympathie beim Leser zu wecken. Und auch Verstehen, das allerdings dann aussetzt, als das Geschehen ins Irrwitzige abtriftet.

René Freund, Niemand weiß, wie spät es ist. Deuticke Verlag

Brillant, witzig, ironisch, spannend – also alle Epitheta ornantia, die eines Schriftstellers Herz erfreuen, passen auf diesen Roman. Unbestritten: Freund kann ungewöhnliche Stories bauen. Diese da erinnert ein wenig an das Froschkönig-Märchen: Der ganz und gar uncoole Typ Bernhard, Veganer und Ordnungsfanatiker, Alles- und Besserwisse entpuppt sich im Lauf der Handlung als wahrer Traummann. Nora allerdings ist nicht gerade die Prinzessin, die ihn wachküsst. Eher er sie. Aber einmal langsam: Nora soll die Asche ihres Vaters irgendwo in Österreich, westlich von Wien, verstreuen. Auf dieser Wanderung mit unbekanntem Ziel – so verfügt es ihr Vater im Testament – wird sie eben jener Bernhard, vom Beruf Notar, im Privatleben Langeweiler, Provinzler – wie Nora meint, begleiten. Nora, eine ziemlich verwöhnte Tussy, macht sich über ihren Begleiter lustig, kann den Tag nicht erwarten, bis sie sich von ihm verabschieden kann.
Im Laufe der Wanderung von Wien in den unbekannten Westen, ändert sich alles. Wie …das soll hier nicht verraten werden.
René Freund kennt seine Figuren ganz genau: die fesche Nora, Gesellschaftsnudel und Exjournalistin, gibt dem Autor genug Gelegenheit, sich über die Bobos lustig zu machen. In Bernhard lebt zunächst das Bild des faden, überkorrekten Gutmenschen auf, der immer Ordnung hält, gut vorbereitet ist und ganz sicher eine politisch korrekte Haltung immer und überall einnimmt. Wie in einem Kaleidoskop ändern sich die Konstellationen, Charaktere und die Perspektiven. Kaum glaubt der Leser, den richtigen Faden und die richtige Einstellung zu den Figuren gefunden zu haben, kippt auf der nächsten Seite wieder alles in die entgegengesetzte Richtung. Diese unerwarteten WEndungen und der flotte Schreibstil machen das Buch zu einem echten Leseknüller.
Silvia Matras empfiehlt dieses Buch!!!

Emanuel Bergmann, Der Trick, Diogenes Verlag

Das ist so ein Buch, von dem man hofft, es endet nie. Geht es dem Ende zu, verspürt man eine gewisse Traurigkeit – denn der Abschied naht. Der Abschied ist hoffentlich nicht so endgültig. Denn so ein grandioser Schriftsteller wie Emanuel Bergmann hat sicher schon seinen 2. Roman im Kopf, wenn nicht gar im Computer. Vielleicht ist der Verlag gerade dabei, ihn zu drucken. Hoffen darf man ja.
Geschickt verschränkt Bergman zwei Zeiten und zwei Kulturen: Da hofft der neunjährige Max Cohn, der mit seinen Eltern in Los Angeles des 21. Jahrhunderts lebt, dass sich seine Eltern nicht scheiden lassen. Er versucht alles, um die Scheidung zu verhindern. Als er von einem Zauberer namens Zabbatini hört, der mit einem Zaubertrick die Liebe zweier Menschen wieder heraufbeschwören kann, macht er sich auf die Suche nach diesem Magier. In Los Angeles keine leichte Sache. Aber Max ist zäh.
Der zweite Handlungsstrang spielt im Prag nach der Jahrhundertwende. Dem Rabbinersohn Mosche Goldenhirsch ist dieses Prag zu eng. Er zieht mit einem Zirkus mit, lernt die Zauberei, wird in Berlin reich und bekannt und nennt sich fortan „Zabbatini“. Selbst SS-Leute und auch Hitler nehmen seine Dienste als „Gedanken und Zukunftleser“ in Anspruch. Seine jüdische Herkunft bleibt lange unentdeckt, bis er eines Tages enttarnt und nach Ausschwitz abtransportiert wird. Jahrzehnte später treffen wir ihn als alten, gebrochenen Mann in Los Angeles wieder. Er hat das Konzentrationslager überlebt. Und Max findet ihn in einem Altersheim. Ohne rührselig zu werden oder in Hollywoodkitsch abzugleiten erzählt Bergmann die Begegnung der beiden.
Silvia Matras empfiehlt: Emanuel Bergmann, Der Trick.

Goran Vojnovic, Vaters Land. Aus dem Slowenischen von K.D. Olof. Folio Verlag

1991 endete abrupt die Kindheit des Icherzählers Vladans. Plötzlich muss er das sommerliche Pula verlassen und mit Mutter und Vater ins für ihn unbekannte und ungeliebte Belgrad aufbrechen. Dort verlässt der Vater die Familie mit den Worten: „Bald wird alles vorbei sein.“ Aber der Vater kommt nicht wieder. Vladan reist mit seiner Mutter zu Verwandten nach Novi Sad, wo sie auf die Rückkehr des Vaters warten. Doch er meldet sich nur hin und wieder telefonisch, alle tun sehr geheimnisvoll, vor allem fällt immer seltener der Name des Vaters, bis seine Mutter ihm eines Tages erklärt, dass er tot sei. Als Vladan schon erwachsen ist, erfährt er, dass sein Vater lebt und als Kriegsverbrecher gesucht wird. Er macht sich auf, um ihn zu finden. Den Vater oder den Kriegsverbrecher? Vladan weiß nicht mehr, was er denken soll. Immer wieder gehen seine Gedanken in die Vergangenheit zurück, er forscht nach, ob sein von ihm so geliebter Vater wirklich die Verbrechen begangen haben soll. Die Suche führt ihn nach Wien, wo er den Vater trifft und ihn vergebens ein Schuldbekenntnis abringen will. Er muss erkennen, dass sein Vater die Verbrechen begangen hat, aber alle Schuld von sich weist. Seine Enstschuldigung ist die allzeit bekannte: Glaubst du wirklich, dass ich eine Wahl hatte? Vladan ist entsetzt, fühlt sich aber auch schuldig, weil er im Grunde seines Herzens den Vater verstehen und ihm verzeihen will, aber nicht kann. Er schämt sich, dass er fast bereit gewesen wäre, die Ausrede des Vaters zu akzeptieren. Kurz nach dieser Begegnung begeht der Vater Selbstmord. Vladans Leben zerfällt ebenso.
Der Autor stellt die Frage nach Schuld und Sühne, zugleich auch die Frage, wer hier richten soll oder darf, wenn alle in diesem furchtbaren Krieg sich schuldig machten? Wie sieht ein Sohn seinen Vater? Als Vater oder als Verbrecher? Wie kann der Sohn dem Vater vergeben? – Zutiefst menschliche Fragen.

Stefanie Schröder: Gabriele Münter. Im Banne des Blauen Reiters. Romanbiografie. Herder Verlag

Einmal mehr beschäftigt sich Stefanie Schröder mit der Biografie einer Künstlerin, die fast ihr ganzes Leben lang um Anerkennung kämpfen muss. Gabriele Münter wächst behütet in einem gut bürgerlichen Haushalt in Bonn auf. Zeichnen war für sie so selbstverständlich wie Essen und Trinken. 1882 besucht sie eine „private Damenakademie“ in München -. Für Frauen war ja die staatliche Akademie für Kunst nicht zugänglich. Für die junge Gabriele, die erst vor kurzem von einem langen Aufenthalt in Amerika zurückgekehrt war und dort die Freiheit in vollen Zügen genossen hatte, ziemlich schwer zu verstehen. 1902 wird Wassily Kandinsky ihr Lehrer und beginnt sie stürmisch zu umwerben. Sie ist zunächst verunsichert, dann aber lässt sie sich auf ein Leben als Geliebte an der Seite des damals schon berühmten Malers ein. Er ist verheiratet, verspricht ihr aber, sich bald scheiden zu lassen. Das „Bald“ tritt erst viele Jahre später ein, Jahre, in denen Gabriele Münter sich ganz den Launen des schwierigen Mannes unterwirft. Sie drängt immer wieder auf Ehe, er weicht aus. Nach 16 Jahren verschwindet er auf Nimmerwiedersehen nach Russland, wo er eine um viele Jahre jüngere Frau ehelicht. Gabriele ist gebrochen. Das Haus in Murnau, das sie für beide als Heim gekauft und eingerichtet hat, wird ihr unerträglich. Ihr früheren Erfolge als Malerin gelten nichts mehr. Unter den Nationalsozialisten gilt ihre Kunst als entartet. Nach dem 2. Weltkrieg lernt sie den Kunsthistoriker Johannes Eichner kennen. Er hilft ihr, wieder zu sich selbst und zu ihrer Malerei zurückzufinden. Im hohen Alter erlebt sie noch einmal die Würdigung ihrer Werke. Viele Ausstellungen werden eröffnet. Mit ihrer Hilfe schreibt Eichner das viel beachtete Werk: Kandinsky und Gabriele Münter. Von Ursprüngen moderner Kunst. Sie stirbt 1962 -vier Jahre nach Eichner – mit sich und der Welt ausgesöhnt.
Der Autorin beschäftigt sich ausführlich mit der Kunstwelt rund um den „Blauen Reiter“ mit Münter, Kandinsky, Franz Marc und August Macke. Eine interessante Zeit, in der die „abstrakte Malerei“ ihre Anfänge hatte und heftig um den Kunstbegriff gestritten wurde. Etwas schwierig wird dem Leser die Lektüre durch eine Anhäufung von Namen gemacht, die heute nicht mehr oder nur mehr wenigen Kunstkennern bekannt sind. Dadurch wird der ERzählfluss dauernd unterbrochen. Man hat den Eindruck, die Autorin schrieb unter großem Zeitdruck. Die beiden Hauptfiguren -Münter und Kandinsky -verliert man dabei aus dem Fokus.

Bachtyar Ali, Der letzte Granatapfel. Unionsverlag

Aus dem Kurdischen übersetzt von Ute Cantera-Lang und Rawezh Salim.Der Autor gilt als der bedeutendste kurdische Schriftsteller. Dieser Roman ist der erste, der auf Deutsch übersetzt wurde.
Eine Art Sheherezade-Erzählung, in der ein Erzählkreis in den anderen übergeht, sich überschneidet, auseinandertrifft und irgendwie wieder zusammenfindet. Diese Art des Erzählens erinnert stark an orientalische Märchen. Ausufernd in den Beschriebungen, sich bewusst wiederholend. Die Wiederholung ist ein deutliches Erzählprinzip: Der Icherzähler Muzafari Subhdam erzählt seine Lebensgeschichte auf dem Boot, das ihn und die Flüchtlinge nach Europa bringen soll:
21 Jahre lang war er in der Wüste gefangen gehalten worden, dann von einem Mächtigen befreit und in ein Schloss im Wald gebracht. Von dort aber macht er sich auf, seinen Sohn Saryasi zu suchen. Ziemlich verwirrend stellt sich heraus, dass es drei Saryasi gibt. Ob alle drei seine Söhne sind oder keiner, wird nicht klar. Wie vieles sehr wirr ist und man als Leser bald die Geduld verliert und quer zu lesen beginnt. Am Ende steht fest: In all den Wirren des Krieges in einem Land unter einem Diktator, unter Bürgerkrieg und Revolutionen ist ein Saryasi tot, einer im Gefängnis und einer in England. Um ihn zu finden, macht sich der Icherzähler auf. Das Ende bleibt offen.

Barbara Krause: Camille Claudel. Ein Leben in Stein. Herder Verlag

Ein großartiges Buch über eine großartige Frau! Bestechend im Stil: Einmal hoch poetisch, dann wieder kühl aufzählend. Die Autorin führt die Leser bis tief in die Seele der jungen Claudel, die schon als Kind wusste, dass sie Bildhauerin werden wollte – und das in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, als man von Frauen nur erwartete, dass sie Klavier spielen, kochen und Kinder aufziehen können. Die Mutter ist dagegen, ihr Vater unterstützt sie und versteht ihren künstlerischen Drang. Als sie die „Schülerin“ Rodins wird, beginnt eine intensive Zeit des Lernens für Camille Claudel. Bald schon ist sie nicht mehr Schülerin, sondern seine Muse, Beraterin und später Geliebte. Doch sie leidet unter der Beziehung, auch daran, dass Rodin nicht eingesteht, dass viele Ideen für seine WErke von ihr kommen, zum Teil auch von ihr verwirklicht wurden. Das grausame Schicksal dieser Kämpferin nimmt seinen Lauf…

Silvia Matras empfiehlt dieses Buch!!!

Brigitte Glaser, Bühlerhöhe. Listverlag

Selten gibt es eine Sommerlektüre mit Niveau! – Brigitte Glaser erfüllt diesen Wunsch punktgenau! Sie ist eine äußerst begabte ERzählerin, zieht den Leser in das Geschehen hinein, und man kann so schnell nicht aufhören. Geschickt verflicht sie die Geschichte Israels nach dem 2. Weltkrieg mit der Geschichte Deutschlands. Bundekanzler Konrad Adenauer will unbedingt das Wiedergutmachungsgesetz durchbringen. Als er wie immer im Nobelhotel Bühlerhöhe Urlaub macht, fürchtet man ein Attentat auf den Kanzler. Manche Gruppierungen – sowohl israelische als auch deutsche – wollen dieses Gesetz verhindern. Aus Israel wird Rosa Silbermann in das Hotel geschickt, um eventuelle Attentate aufzudecken oder sogar zu verhindern. Ihr zur Seite soll Ari, ein gewiefter Geheimagent, der für Israel arbeitet, stehen. Nun ist Rosa Silbermann wider ihren Willen zur Agentin avanciert. Sie erregt bald den Argwohn der Hausdame des Hotels,Sophie Reisacher. Es kommt zu einem recht unterhaltsamen Katz- und Mausspiel, man erfährt einiges über die schwierige Führung eines Grand Hotels und die Gepflogenheiten des Kanzlers, der ja tatsächlich in diesem Hotel, das bis heute existiert, aber zur Zeit geschlossen ist, in den 50er Jahren Urlaub machte. Das im Roman versuchte und verhinderte Attentat im Hotel hat allerdings nicht stattgefunden.
In der politischen Realität dauerte die Debatte um das Wiedergutmachungsgesetz tatsächlich lange an und wurde heftig geführt. Im Vorfeld gab es auch zwei Attentatsversuche – allerdings nicht im Hotel. Der Kanzler wurde nicht verletzt.Im September 1952 unterzeichnete Deutschland ein Abkommen mit Israel und zahlte 3 Millionen DM als Wiedergutmachung an Israel.
Brigitte Glaser hat sorgfältig recherchiert und geschickt die politische Realität dieser Nachkriegszeit mit einem humorig- spannenden Romanplot gemischt.

Julya Rabinowich, Krötenliebe. Deuticke

Ein Buch, das jeden fesseln wird, der sich für Alma Mahler-Werfel und die Wiener Gesellschaft um 1900 interessiert. Noch dazu brillant geschrieben und gründlich recherchiert. Alma, die Männer vergiftet, Alma, die Männer anzieht, von sich stößt, wie es ihr gefällt. Alma ohne Glorienschein. Aber nie reißerisch, eher hoch poetisch. (Allerdings vermisst man manchmal das wachsame Korrektur- Auge eines Lektors!)Schon das Titelbild sagt alles aus: Vier Glasgefäße, in einem ein Lurch, dann Kokoschka, im mittleren Glas Alma, rechts der Naturwissenschaftler Paul Kammerer. Es beginnt mit Dresden 1918, Kokoschka hat sich nach der Trennung eine Almapuppe machen lassen. Doch der sexuelle Akt mit ihr befriedigt ihn keineswegs. Er tobt gegen Alma, verwünscht sie und begehrt sie. Dass wir, die Leser und Nachwelt, überhaupt erst einmal etwas über diesen genialen Naturwissenschaftler Paul Kammerer erfahren, ist das Verdienst der Autorin. Sie brachte diese tragische Figur ans Tageslicht, seine aussichtslose Liebe zu Alma, seinen verzweifelten Selbstmord. Ein faszinierendes Buch, man möchte es in einem Atemzug durchlesen. Aber dazu ist die Sprache zu kostbar. Die sollte man seitenweise genießen. Das Abstoßende, Abgründige ist selten noch in so schlicht-kostbare Sätze gegossen.
Silvia Matras empfieht: J. Rabinowich, Krötenliebe!!!!!

Margaret Mazzantini, Niemand rettet sich allein. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Dumont

Delia und Gaetano treffen sich in einem Restaurant in Rom, um über ihre Trennung zu reden. Es geht um die Erziehung der Kinder, wie sich ihrer beider Zukunft gestalten wird. Jeder für sich alllein. Obwohl sie sich vor der zukünftigen Einsamkeit fürchten, gibt es kein Zurück in die Zweisamkeit. Ein sehr genaues Bild, wie eine Ehe langsam in die Brüche geht. Kein Buch für traurige Tage. Denn es gibt keinen Trost, kein Happyend.
Mazzantini beobachtet die kleinsten Regungen ihrer Protagonisten mit sehr viel Einfühlungsvermögen. Das kann manchmal etwas nerven und man ist geneigt, quer zu lesen. Doch dann ist man wieder mitten im seelischen Dilemma der beiden, erkennt eigene Probleme wieder. Ein Roman, dem man mit Geduld begegnen sollte.

Clementine Skopril: Guter Mohn, du schenkst mir Träume. Löcker Verlag

Die Autorin nennt ihr Buch „Kriminalroman“. Aber die Krimistory ist eher dünn und die Auflösung sehr unklar. Jedoch: Clementine Skopril kennt die Geschichte Chinas um 1927 und das Leben damals in Shanghai bestens, leider zu gut. Sie mutet uns unbedarften Lesern einfach zu viel zu. Obwohl sie ein Verzeichnis der erfundenen und historischen Personen voran stellt, tut sich der Leser schwer, mit all den chinesischen Gruppen, Untergruppen und Gegengruppen, den russischen Drahtziehern und letztlich auch den weißen Langnasen, wie die Chinesen die Westler nannten, zu Recht zu kommen. Der Verlauf der Handlung wird immer wirrer und unklarer, man beginnt quer zu lesen.
Die Story beginnt amüsant: Der Icherzähler Wen Pi ist ein armer Schlucker aus dem Elendsviertel Shanghais. Er schlägt sich so recht und schlecht durchs Leben, bis er bei dem Medizinstudenten Lou Mang unterkommt und lesen und schreiben lernt. Seine Informationsquelle über das Leben der weißen Langnasen wird „Anna Karenina“. Jedes Kapitel beginnt mit Gedanken über die Figuren dieses Romans, deren unnötige Sorgen er seinen Problemen in witziger Weise gegenüber stellt. Da kommt schon auch uns Lesern der Gedanke, um welch unwichtige Dinge wir uns sorgen..auf hohem NIveau. Amüsant ist auch, wie WEn Pi so langsam die Fortschritte der Technik kennenlernt und wie er sie benennt: Das Telefon -damals noch brandneu und nur für die Reichen -nennt er elektrischen Sprecher aus zwei Teebechern an der Schnur. WEgen dieser liebenswürdigen Details liest man den Roman gerne.
Dass die Revolution, die der Student Lou Mang mit seinen kommunistischen Kampfgefährten anzettelt, fehl schlägt, ist zwar traurig, aber da fehlt dem Leser die Empathie. Denn er muss sich durch ein Gewirr von Namen und Ereignissen durchkämpfen, bis er erschöpft am Ende angelangt ist.

Marget Greiner, Charlotte Berend-Corinth & Lovis Corinth

Sie hat’s schon wieder getan! Eine Romanbiografie über eine tolle Frau geschrieben! Und wieder ist es wie die Lebensgeschichte der Emilie Flöge ein Buch geworden, zu dem man nur sagen kann: SCHADE, dass es schon aus ist. Ich habe mir jeden Tag nur 10 Seiten verordnet von dem Suchtmittel. Und wünschte mir am Ende, dass das Buch noch 200 Seiten mehr hätte. Denn Margret Greiner kann, wie keine andere Autorin, die Protagonistin – in dem Fall die lebenstüchtige Charlotte Berend – so intensiv vor unser Auge und Herz rücken, dass man nur ungern von ihr Abschied nimmt. Charlotte Berend ist jung und keck. Sie dringt in das Atelier des brummigen Corinth ein, wird seine Schülerin, dann seine Geliebte und später seine Ehefrau. Corinth ist kein einfacher Mensch, ganz Künstler und daher auf sich selbst konzentriert. Charlotte hält all die Demütigungen, die er ihr bewusst und unbewusst zufügt, tapfer aus. Obwohl sie als Künstlerin und schöne Frau von anderen Männern begehrt wird, bleibt sie bei Corinth. Als er stirbt, verkriecht sie sich in ihrer Trauer, um nach 2 Jahren zu sich selbst, zu ihrer Malerei und zu ihrer Lenbensfreude zurückzufinden. Man erfährt viel über das verrückte Berlin der 20er Jahre, über Frauen, die alleine durch den Kontinent reisen, über den Künstler Corinth. Was fehlt, sind Fotos. Ich wäre schon neugierig auf Charlottes Porträtmalerei oder italienische Landschaften. Auch wollte ich gerne wissen, wie die beiden miteinander auftraten. Wie war Charlotte als viel gerühmte Schönheit? Auf dem Titelbild sieht sie eher pummelig und uninteressant aus.
Mein Tipp: Dieses Buch langsam genießen und dabei die hohe Sprachkultur der Autorin bewundern.

Jona Oberski, Kinderjahre. Aus dem Niederländischen von M. Csollány. Diogenes Verlag

Jan Oberski schildert aus der Perspektive eines Kindes die Grauen des Konzentrationslagers von Bergen-Belsen. Dabei nimmt der Autor die Position des Kindes ein, das mit 4 Jahren deportiert und erst mit sieben befreit wird. „Meine Mutter hatte einen gelben Stern auf meinen Mantel genäht. Sie sagte: Sieh mal, jetzt hast du genau so einen schönen Stern wie Papa. Ich fand ihn zwar schön, aber ich hätte doch lieber keinen Stern gehabt.“ Die Eltern versuchen dem Knaben, das Grauen fernzuhalten, es auf eine kindliche, märchenhafte Welt herunterzubrechen. Das Kind durchschaut zwar die Grausamkeit,erklärt sich sie sich zunächst auf seine Weise: „Ich guckte und sah einen Soldaten in grünen Kleidern mit einem großen braunen Hund. Der Hund sah aus wie der Wolf vom Rotkäppchen.“ Doch als sein Vater im Lager stirbt, fällt diese kindliche Schutzperspektive brutal weg. Und als auch seine Mutter stirbt, fällt er in ein tiefes Koma, aus dem er erst nach vielen Tagen erwacht. Da waren bereits die Insassen aus dem Lager befreit und er mit seiner Tante auf dem Weg in seine Heimatstadt Amsterdam. Sie wird ihn adoptieren. Aber er bleibt lange ein traumatisiertes, schwieriges Kind,das seinen Pflegeeltern eine ganze Menge auszuhalten gab, wie er in einem Nachsatz schreibt.
Jan Oberski schildert das Grauen, das er selbst als Kind erlebte, mit den Worten und Gedanken des Kindes, das er einmal war. Durch diese einfache, kindliche Sprache wirkt das Buch direkt in das Herz des Lesers hinein.

Silvia Matras empfiehlt: Jan Oberski, Kinderjahre

Benedict Wells, Fast genial. Diogenes Verlag

In der in Literatur und Film immer wieder gern verwendeten Form eines Roadmovies schildert Wells die wahre Geschichte eines Jungen aus einem Containerviertel, der auf der Suche nach seinem Vater quer durch die USA tourt. Der Haken ist dabei, dass sein Vater ein unbekanntes Genie gewesen sein soll, der seinen Samen einem Forschungsprojekt zur Verfügung stellte. Das eine Zentralthema des Romans ist also die Frage nach Eugenik und ob ein „futurebaby“ ethisch und moralisch zu rechtfertigen ist. Dabei erinnert sich der Leser unwillkürlich an Dürrenmatts Drama „Die Physiker“, wo das Thema der Umsetzbarkeit von wissenschaftlichen ERkenntnissen behandelt wird. Was einmal von findigen Köpfen gedacht und erfunden ist, lässt sich ja nicht mehr tilgen. Es bleibt virulent und gefährlich, wie schon die Frage nach der Atombombe zeigt. Segen oder Fluch der Wissenschaft? – Wells formuliert das so: „Die Leute vergessen nur, dass jede Tür, die einmal geöffnet wurde, nie mehr geschlossen werden kann. Was machbar ist, wird auch getan, egal, wie gefährlich es ist.“(S 178)
Inhaltsmotor des Romans ist die 2. wichtige Frage: Wie geht es einem „Designerbaby“, das nach langer Suche seinen Vater als versoffenen Looser findet. Von Genie keine Spur.Damit muss der Sohn Francis fertig werden.
Wells behandelt die Elternfrage ja auch in dem Roman „Ende der Einsamkeit“. Was passiert, wenn Eltern fehlen, versagen?
Ein Roman, den die junge Generation sicher interessieren kann.

Gioacchino Criaco, Schwarze Seelen. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Folio Verlag

Criaco schreibt so, wie er seine Protagonisten leben lässt: wild, sich um keine Klarheiten kümmernd. Der Roman – wenn es denn einer ist – spielt überall dort in Italien, wo Entführung, ERpressung, Mord und Bestechung zum täglichen Ritual wie Zähne putzen oder essen und trinken gehört. Die männliche Jugend des Dorfes Africo in Kalabrien geht vormittag in die Schule, nachmittag bewachen sie „Schweine“ – so werden die Entführungsoper genannt. Manchmal kommt so was wie Zweifel an dem Tun auf. Aber immer siegt der Wunsch nach Geld. Ein Postraub bringt ziemlich viel, hält aber die Burschen nicht ab, weiter zu morden und zu entführen. Die Freunde enden in einem bombastischen Showdown: Einige sterben bei dem Versuch, der Verhaftung zu entkommen, einige landen im Gefängnis.
Ermüdender Stil.

Benedict Wells: Vom Ende der Einsamkeit. Diogenes Verlag

Drei Geschwister -zwei Brüder und eine Schwester -bilden eine „liebe Familie“, die besonders durch die Mutter zusammengehalten wird. Als die Eltern bei einem Autounfall ums Leben kommen, zerbricht alles. Die Normalität gibt es nicht mehr. Nach vielen Jahren, in denen sie wenig voneinander hören, kommen sie wieder zusammen. Jules, der Jüngste, hat unter dem Verlust der Eltern am meisten gelitten. Marty, der ältere Bruder, ist erfolgreicher Geschäftsmann geworden. Die schöne Liz hat den Boden unter den Füßen ganz verloren, hält sich einen Liebhaber nach dem anderen und kifft sich aus der Realität weg.
2. Teil: Jules ist erwachsen, hat zwei Kinder. Er hat seine Jugendliebe Alva geheiratet. Doch nach acht glücklichen Jahren stirbt Alva an Krebs. Jules rast mit seinem Motorrad gegen einen Baum, überlebt und nimmt das Leben neuerlich an.
Tief im Inneren des Romans geht es um die möglichen und unmöglichen Formen der Liebe und der menschlichen Beziehungen. Da ist einmal die Beziehung der Geschwister untereinander. Sie streiten, sehen einander jahrelang nicht, aber es gibt zwischen ihnen einen tiefen Zusammenhalt. Dann gibt es die unverwirklichbare Liebe Tonis zur schönen Liz, die zwar viele Männer hat,aber immer von einer unerreichbaren Liebe träumt. Für Marty ist Liebe nur ein Wort. Ihm ist Zufriedenheit wichtiger. Zentrum des Romans bildet die tiefe und ausdauernde Liebe Jules zu Alva. Als sie stirbt, beginnt für Jules die Zeit des Erinnerns. Er erkennt, nur wenn er die Menschen an sich heranlässt, gibt es auch Erinnerung und kann er der Einsamkeit entkommen.
Benedict Wells weiß mit dem großen Wort Liebe behutsam und ohne Scheu umzugehen. Gerät nie ins Klischeehafte, obwohl er die Beziehungsformen durchaus auch im Alltäglichen auslotet. Ein Buch, das gut tut.

Arnon Grünberg, Amour fou. aus dem Niederländischen von Rainer Kersten. Diogenes Verlag

Daniel Kehlmann schrieb zu dem Roman ein Vorwort, das auf den Autor neugierig macht.“Ich habe Angst vor Arnon Grünberg“ schreibt er gleich zu Beginn. Als langjähriger Freund kennt er Grünbergg als höflichen, liebenswerten Menschen. Alle seine Romanfiguren sind höfliche Menschen, aber dahinte lautert der Schrecken, schreibt Kehlmann. Besser kann man den Roman nicht charakterisieren.
Marek van der Jagt ist ein Simplizissimus. Ein einfältiger Knabe, der in der Pubertät auf Jagd nach der „amour fou“ geht. Er will hinter dieses in der Literatur so häufig zitierte Phänomen kommen. Doch mit Schrecken muss er erkennen, dass sein Geschlecht Zwergengröße hat und nicht sehr für die ERkundung der amour fou geeignet ist. Seine Familie gleicht eher einem Zerrbild einer Familie: Den Vater lässt alles um ihn herum kalt, ihn interessieren nur geschäftliche Fusionen. Die schöne und exzentrische Mutter quält alle mit ihren Selbstmorddrohungen. Als Marek sie in die Berge nach Bayrischzell begleiten muss, stößt er sie auf einer Wanderung in den Abgrund. Ohne Gewissensbisse kehrt er im Jahr darauf allein dorthin zurück. „Bayrischzell liegt am Ende der Welt, danach kommt nichts mehr, nur noch Berge und nochmals Berge, und dann, zuletzt, Österreich.“ So endet der frivol-heitere-bedrohliche Roman. Und man wird süchtig nach diesem Autor mit seiner überbordenden Fantasie und seiner herrlichen Respektlosigkeit. Ein Feuerwerk an skurrilen Einfällen, Sprachwitz und irrwitzigen Einfällen regnet da auf den Leser herab.

Zülfü Livaneli, Serenade für Nadja, aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Klett-Cotta

Livaneli zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern der Türkei. Aus seinen Romanen ist herauszupüren, dass er Filmemacher und Komponist ist. Denn seine Geschichten sind musikalisch und lesen sich wie Drehbücher -so griffig, ergreifend.
Livaneli baut seine Romane nach einem bestimmten Konzept: Immer steckt in einer Geschichte eine andere – die wesentliche, die wichtige, die erst enthüllt werden muss.Ähnlich wie im Roman „Schwarze Liebe, Schwarzes Meer“ erzählt ein alter Mann einer jungen Frau seine Geschichte – er schält aus der Vergangenheit die schrecklichen Ereignisse Scheibe für Scheibe heraus.
Maya, eine junge Türkin, arbeitet an der Universität in Istanbul.Sie bekommt den Auftrag,den betagten Professor Maximilian Wagner,der zu einem Gastvortrag eingeladen wurde, während seines Aufenthaltes zu betreuen. Das erweist sich als schwieriger als angenommen. Der alte Mann hat eigenartige Wünsche, unter anderem bei Eiseskälte an die Küste gefahren zu werden. Dort spielt er auf seiner Geige ein Musikstück. so lange, bis er fast erfriert. Maya rettet ihn vor dem Erfrierungstod, und Maximilian Wagner erzählt ihr die erschütternde Geschichte seiner Frau Nadja, einer deutschen Jüdin. Sie war auf dem bulgarischen Schiff Struma, auf dem über 700 Juden durch eine Explosion ums Leben kamen. Die Explosion war kein Unglück, sondern von England und der Türkei herbei geführt. Man wollte verhindern, dass diese 700 Menschen nach Palästina einreisen.
Wagner kehrt zurück in die Staaten, Maya kündigt an der Universität und beginnt die Geschichte Nadjas und Maximilians aufzuschreiben.
Livaneli ist ein Autor, dem es darum geht, die Verganheit, insbesondere während und nach dem 2. Weltkrieg, aufzudecken. Dabei schont er niemanden, insbesondere nicht die Rolle des türkischen Staates.
Packend erzählt, ohne ins Reißerische abzugleiten.
Silvia Matras empfiehlt diesen Autor!!

Anna Baar, Die Farbe des Granatapfels. Wallstein Verlag

Anna Baar 1973 in Zagreb geboren verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Wien, Kärnten und auf der Insel Brac. In diesem Roman verarbeitet sie ihre eigenen Erinnerungen. Der Roman ist eine subtil-hochpoetische Verarbeitung der Probleme eines jungen Menschen, der zwischen zwei Kulturen – der des „Vaterlandes mit der Vatersprache“ und „der des Mutterlandes mit der Muttersprache“ aufwächst und in keiner der beiden wirklich beheimatet ist.
Das Kind Anna verbringt die Sommer bei ihrer Großmutter Nada auf einer Insel nahe bei Split. Sie liebt die Kargheit des Lebens und der Insel, auf der es wochenlang nicht regnet, sie nur hin und wieder sich waschen darf, Essen nicht weggeworfen wird. Nada ist eine lebensvolle Frau, die das Kind über alles liebt, es vereinnahmt und nur schwer erträgt, wenn es am Ende des Sommers sie verlässt und nach Österreich zurückkehrt.Genau wird die Sprache, ihre grausamen Redewendungen (z.B. „bis zur Vergasung“) ernst genommen. Immer wieder verfällt das Kind in Angstzustände, ausgelöst von der heiß geliebten Nada. Doch je älter das Kind wird, desto mehr löst sie sich von Nada, aber sie bleibt da wie dort, im Vater-Land und im Mutter-Land, ein Zaungast. Als Nada schon gebrechlich ist und im Altersheim in Zagreb wohnt, erzählt sie der nun erwachsenen Anna von den Schrecken des Jugoslawienkrieges, und Anna „stirbt alle Tode mit“. Haus und Garten auf der Insel verwildern und verfallen.
Dieser Roman braucht, manchmal auch verbraucht die Geduld des Lesers. Starke poetische Bilder und minitiös genaue Beobachtungen sind sprachlich überzeugend formuliert, aber in den Wiederholungen ermüdend. Es lohnt jedoch, sich auf dieses Sprachkunstwerk einzulassen, weil vieles, worüber die Autorin reflektiert, vielleicht auch in der Kindheit und Jugend des Lesers selbst noch unbehoben ruht. Im Lesens steigen ähnliche Erinnerungen auf und machen nach-denklich.

Salvatore Settis: Wenn Venedig stirbt. Streitschrift gegen den Ausverkauf der Städte. Aus dem Italienischen: Victoria Lorini. Wagenbach Verlag

Man kennt die Argumente, die Salvatore Settis vorbringt. Aber wenn man sie alle, akribisch und wissenschaftlich und empirisch gut dargelegt, Wort für Wort zu lesen bekommt, dann wundert man sich, warum niemand etwas gegen diesen Ausverkauf Venedigs und anderer Städte tut. Die Politik geht vor dem gierigen Markt in die Knie. Das ist beschämend und macht hoffnungslos. Dass jede historische Stadt eine Seele hat, die sie an Tourismus- und Bauindustrie ungeschaut und ungestraft verkauft, ist eine Tatsache, deren sich zwar Bürgermeister und Konsorten bewusst sind, die ihnen aber herzlichst egal ist. Mit „Seele“ kann man kein Geld verdienen, meinen sie. Und vergessen, dass eine von Touristen und Spekulanten zu Tode gebrachte Stadt eines Tages nichts mehr einbringen wird. Weil inzwischen schon Reproduktionen dem Original die Show gestohlen haben. Mit Schaudern liest man von den „Projekten, Venedig zu retten“, die da sind: ein künstliches Venedig – Art Disneylandvenedig – gleich vor den Toren Venedigs hinzustellen oder gigantische Türme, die den Markusdom weit an Höhe überragen, im letzten noch genützten Ackerland oder auf den Inseln in der Lagune zu bauen. Wer schon einmal erlebt hat, wie so ein Riesenkreuzfahrtschiff fast direkt vor den Markusplatz ankert, der weiß, wovon der Autor warnt. Obwohl jeder Politiker um die Gefahr weiß, die solche Schiffe für Venedig bedeuten, ist noch immer diesem verbrecherischen Business kein Riegel vorgeschoben worden.
Jeder, der Venedig liebt, jeder, der sich über den Ausverkauf der Städte Gedanken macht, sollte dieses Buch lesen. Vor allem sollte es den Politikern, Baulöwen und Architekten als Pflichtlektüre verordnet werden. Es gibt genug Architekten, die tatsächlich fordern, Venedig müsse „modernisiert“ werden, indem man neue Architektur mitten in die Palazzi stellt. Ihnen ist jede Altstadt nur Spielwiese für ihre eigene Verwirklichung.

Ursula Prutsch, Eva Peron. Leben und Sterben einer Legende, eine Biografie. C.H. Beck

Der Historikerin Ursula Prutsch mit Schwerpunkt Geschichte Lateinamerikas im 19. und 20. Jahrhundert ist ein kleines Wunder gelungen: Aus dem Dickicht von Mythen, Legenden und privater Erzählungen, Verklärungen und Verdammngen so etwas wie „Wahrheit“ über Eva Peron herauszufiltern. Und das auch noch „sine ira et studio“. Tatsächlich spürt der Leser, dass Ursula Prutsch versucht, der Person Eva Perons gerecht zu werden, ohne eigene mögliche Vorurteile aufkommen zu lassen. Wo sie das Geschehen aus Erzählungen wiedergibt, verwendet sie den Konjunktiv. Wo sie auf Fakten stößt, den Indikativ.
Eva Peron, 1919 geboren als Eva Duarte. verschleiert ihre uneheliche Geburt. In armen Verhältnissen aufgewachsen gelingt es der schönen jungen Frau, im Radio- und Theaterleben Fuß zu wachsen. Sie lernt Juan Peron sehr früh kennen und ist bald eine wichtige politische Kraft an seiner Seite, verhilft ihm zum Wahlsieg. Da sie für die Armen immer ein offenes Herz hatte und unermüdlich sich die Bitten und Klagen aus dem Volk anhörte und sich persönlich um Lösungen der Probleme bemühte, wird sie bald so etwas wie eine Heilige und übertrifft ihren Mann an Beliebtheit. Als sie mit 33 Jahren an Krebs stirbt, stürzt ihr Tod das Land in Unruhen. Eva Perons Leichnam wurde gleich nach dem Tod mumifiziert und einige Male umgebettet. Ein skurriler Streit entsteht um den Besitz der Leiche.
Interessant ist vor allem, wie ursula Prutsch immer wieder auf die Charakteristika des Populismus in der Diktatur Perons hinweist, die Funktionsweisen und Tricks aufdeckt, mit denen das Volk eingelullt wurde. Deshalb ist das Buch auch ein wahres Lehrstück in Sachen Politik, und dazu noch ausgezeichnet geschrieben und gut lesbar.
Im letzten Teil behandelt die Historikerin das Wirken dieser Frau nach ihrem Tod, ihre Mythologisierung in der Literatur und Musik, ihr Fortwirken bis heute in Argentinien. Auch in der ehemaligen, langjährigen Präsidentin Cristina Kirchner, deren Vorbild Eva Peron war. „So kann die Geschichte von Eva Peron auch als Lehrstück für das Handeln von Populisten gelten, heißen sie nun Hugo chavez, Victor Orban, Jean-Marie und Maine Le Pen, Jörg Haider und Sarah Palin.“

Lucy Foley, Die Stunde der Liebenden, übersetzt von Chr. Dormagen und B. Heinrich. Insel Verlag

Dieser erste Roman der Autorin ist zwar noch kein „Pageturner“, aber man darf auf den zweiten gespannt sein, mit dem es ihr vielleicht gelingt, auf die Liste der Bestseller ganz nach oben zu klettern.
Noch hat die Autorin nicht ihren eigenen Weg gefunden, folgt zu sehr den gängigen Romantrends der Gegenwart. So arbeitet sie mit all zu häufigen Zeitensprüngen. Eine Episode ist kaum länger als zehn Seiten, manche nur zwei bis drei.Auch der häufige Perspektivewechsel sorgt für Unruhe. Dadurch kommt die Entwicklung der Personen nicht so recht in die Gänge. Denn einmal sind die Protagonisten jung und haben ein ganz anderes Profil, gleich wieder alt.Einmal befinden wir uns in Paris, dann in Korsika, dann in New York und so weiter.
Es ist die Lebensgeschichte der Engländerin Alice alias Celia und des Malers Tom. Aus der Kinderfreundschaft wird Liebe, die jedoch durch widrige Umstände -Krieg, gesellschaftliche Hürden -sie stammt aus einem reichen Elternhaus, er ist ein armer Schlucker – nie so richtig ausgelebt werden kann. Als sie in ganz jungen Jahren
einmal doch zusammenfinden, wird Alice schwanger. Zum Entsetzen ihrer Eltern. Die Mutter sagt ihr nach der Geburt, das Mädchen sei tot, und gibt es zur Adoption frei. Als Alice diesen Betrug aufdeckt und ihre Tochter kennen lernen möchte, ist es zu spät. Denn diese ist in jungen Jahren gestorben. Aber deren Tochter Kate, also die Enkelin lebt. Und die macht sich auf die Suche nach der ihr bis dahin unbekannten Großmutter Alice. Klingt kompliziert, ist es auch. Kate lernt zunächst Tom kennen, der ein berühmter Maler geworden ist und in Korsika lebt. Von ihm erfährt sie Bruchstücke dieser Liebesgeschichte. Später reist sie zu Alice, die in New York und Paris gut gehende Kunstgalerien betreibt, und erfährt den Rest. Auf dieser Suche durch die Zeiten des Zweiten Weltkrieges bis in das Jahr 1986 breitet die Autorin die Liebesgeschichte aus. Dass sich Alice, als sie knapp vor dem Weltkrieg ihren über alles geliebten Tom wieder findet, doch nicht für ein gemeinsames Leben entscheiden kann, kann die Autorin nicht wirklich gut argumentieren. Wohl deshalb,damit der Roman nicht frühzeitig in einem Happy End endet.
Lucy Foley ist eine begabte Autorin. Mit einer etwas stingenteren Erzählweise könnte sie durchaus in die Fußstapfen von Jojo Moyes treten.

Drago Jancar, Die Nacht, als ich sie sah. Aus dem Slowenischen übersetzt von Daniela Kocmut und KlausDetlef Olof. Folio Verlag

Der Titel klingt nach Liebesromanze. Der Roman handelt aber nur zum Teil von der Liebe. Im ersten Teil wird die Liebesgeschichte der schönen, verwöhnten Veronika, die in Ljubeljana mit einem Alligator herumspaziert, der aber dann getötet und ausgestopft werden muss, weil er ihren Ehemann in der Badewanne (sic) gebissen hat.
Was da so skurril und fast heiter-ironisch daherkommt, entwickelt sich zu einem der stärksten Romane über die Zeit, als der Zweite Weltkrieg fast schon zu Ende ging und in Slowenien ein wildes Durcheinander an Kämpfern herrschte. Da gab es noch die königstreuen Truppen des Königs Peter, der aber schon im sicheren Exil weilte. Dann die Deutschen, die die Tito-Partisanen und vermeintliche Kommunisten jagten. Dann jagten die Partisanen die Deutschen und meuchelten die so genannten Verräter an der Sache nieder. Keiner konnte mehr dem anderen trauen. So offen über die Situation knapp vor und nach dem Ende des 2. Weltkrieges in Slowenien hat noch kein Schriftsteller geschrieben. Geschickt knüpft er die Handlung rund um die charismatisch-schöne Veronika, Ehefrau des reichen und etwas zwielichtigen Leo Zarnik. Der junge Stivo, ein begeisterter Königstreuer, soll ihr das Reiten beibringen. Schnell werden die beiden ein Paar, sie verlässt ihren Mann und zieht mit Stivo ganz in den Süden, wohin er zur Strafe wegen dieser unstatthaften Beziehung abkommandiert wird. Doch lange bleibt sie nicht. Schlamm, Hunger und tödliche Langeweile lässt sie wieder zu ihrem Mann zurückkehren, der inzwischen eine Burg gekauft hat. Dort halten die beiden nun Hof. Heißt: Trotz Krieg geben sie Feste, laden Gäste ein, darunter auch Deutsche. Ihr Mann untertützt heimlich die Partisanen, hält aber gute Geschäftsbeziehungen zu den Deutschen, was dem Ehepaar letztendlich zum Verhängnis wird: Ein Arbeiter aus dem Dorf, der auch auf der Burg arbeitet und sich in die schöne veronika verliebt hat, denunziert sie aus verletzter Eitelkeit. Die beiden werden grausam gefoltert und Veronika von der ganzen Truppe vergewaltigt, bevor sie stirbt.
Es ist ein Roman, der von dem Leiden berichtet, das alle Menschen, egal zu welcher Schicht, politischen Partei oder Nation sie gehörten, heimsucht, von der Reue über blutige Taten, die aus blinder Wut und Parteigehorsam geschehen sind und nicht wieder gut zu machen sind. Mit einfühlsamer Sprache ohne Künstlichkeit weiß Drago Jancar den Leser in den Bann zu ziehen.
Silvia Matras empfiehlt: D. Jancar, Die Nacht, als ich sie sah.

Saphia Azzeddine, Zorngebete. Wagenbach

Dass Saphia Azzeddine zu den besten Schriftstellerinnen des Maghreb zählt, beweist sie wieder einmal in dem Roman „Zorngebete“. Die Icherzählerin Jbara ist 16 Jahre altund hütet die Schafe in Tafafilt, einem Ort in der Wüste, in dem kaum Fremde vorbeikommen. Sie weiß nichts von der Welt, auch nicht, dass sie schön ist. „Schönheit git es nur in der Sprache der Reichen“.Sie lässt sich von einem Jungen aus der Umgebung hin und wieder „besteigen“, ohne zu ahnen, wozu dieser Geschlechtsakt führt. Als sie schwanger wird, wird sie vom Vater, der ihr wegen seiner Pseudoreligiosität verhasst ist, vertrieben. Mit dem Bus fährt sie in die nächste Stadt, wo sie das Kind auf der Straße ganz allein auf die Welt bringt und es einfach liegen lässt. Als Putzfrau und auch als Nutte bringt sie sich durch, immer im Gespräch mit Allah, an dessen Existenz sie glaubt, aber ganz genau weiß, dass nur sie allein sich helfen kann. Die Frage nach dem richtigen Tun stellt sie ihm immer wieder und gibt sich selbst die Antwort. Eines Tages gelingt es ihr, in einer Villa der Reichen als Dienstmädchen zu arbeiten. Man liest mit großem Vergnügen, wie sie das absurde Benehmen der Bewohner beschreibt. Sie wird von ihnen als Mensch nicht wahr genommen: „Die Reichen sehen uns nicht“, auch nicht, als der Hausherr sie regelmäßig fickt und danach gleich wieder vergisst. „Es ist schrecklich, niemandem in Erinnerung zu bleiben“. Obwohl sie nicht lesen kann,lernt sie bald den „Unterschied zwischen einer Sonnenbrille von Fendi und Versace“ erkennen. Mit dem Wissen um das Tun und Treiben der Reichen wird sie bald zu einer gefeierten Stripperin, dann die Edelnutte eines Scheichs. Sie ist jetzt „Geschäftsfrau und ihr Körper ist ihr Büro“. Das geht so lange gut, bis ihr Scheich wegen Drogenhandels des Landes verwiesen wird und sie ins Gefängnis kommt.Nach der Haft heiratet sie einen „braven Imam“ und hofft auf ein ruhiges Leben. Doch die Schiegermutter will es nicht so und drangsaliert sie ordentlich. Als ihr Mann einen Schlaganfall erleidet, füttert und badet sie ihn und singt ihm, um die Schmerzen zu lindern, Lieder ihrer Kindheit vor. Immer wieder richtet sie ihre Zorngebete an Allah, hadert mit ihm, zweifelt an ihm, fragt nach dem Sinn des Leidens und des Bösen, um am Schluss zu erkennen: „Gut und Böse gibt es nicht. Dafür bist Du viel zu scharfsinnig. Allah, Du bestehst nur aus Zwischentönen und darum liebe ich Dich.“
Ein berührendes Buch ganz ohne Rührseligkeit. Dafür sorgt schon die direkte, oft sehr harte Ausdrucksweise. Azzeddine nimmt sich kein Blatt vor den Mund, nennt die Dinge beim Namen, ohne billig zu werden. Wenn sie den Geschlechtsakt beschreibt, so geschieht das sehr direkt, in groben Ausdrücken, denn genau so erlebt ihn Jbara.“Im Grunde kann ich mich nicht beklagen. Ich verkaufe Sex..was ist schlecht daran?“ fragt sie. Erst als sie so etwas wie Liebe zu ihrem sterbenden Mann empfindet, wird sie mit sich eins.
Saphia Azzeddine hat ein packendes Buch jenseits der gängigen Moralvorstellungen geschrieben. Sie geht hart mit den Lebensführungen der Reichen um, schildert mitleidlos den Lebensweg eines Mädchens, das von den Männern ausgenützt wird und das ihre Schönheit umgekehrt auch nützt, um am Reichtum mitzunaschen. Azzeddines Kritk richtet sich vor allem gegen eine Männerwelt, die unter dem Vorwand religiöser Gesetze Frauen schamlos ausnützen und sie, um sich ihrer ganz sicher zu sein, unter einen Schleier stecken. „Scheiße nochmal, dieser Schleier kotzt mich an.“ Und sie wird ihn ablegen. Zum Zeichen ihrer neuen Freiheit.

Saphia Azzeddine, Mein Vater ist Putzfrau. Übersetzung Birgit Leib. Wagenbach Verlag

Er hilft seinem Vater, diverse Büros, Bibliotheken des Nachts zu putzen. Paul ist zu Beginn des Romans ein kluger, flinker Knirps mit einer haarscharfen Beobachtungsgabe. Schonungslos analysiert er die Blödheiten der Erwachsenen, wie sie sch gockelhaft benehmen und wie wenig Hirn in ihnen ist. Nur seinen Vater und Priscilla findet er klasse. Für beide bemüht er sich. Seinem Vater, dessen Schwäche er liebevoll akzeptiert, hilft er, wo er nur kann. Die Liebe ist gegenseitig. Es ist rührend, wie sehr sich der ungebildete Vater um die Erziehung seines Sohnes kümmert. „Du sollst nicht so werden wie ich“, sagt er immer wieder. Das tut Paul weh. Weil er den Vater nicht enttäuschen will, lernt er, bringt es sogar bis zum Abitur. (Allerdings ein wenig erschwindelt – mit einer köstlichen Komödie vor der Mathematiklehrerin). Es ist pures Vergnügen, Paul bis zm Erwachsensein zu verfolgen. Er bekommt – natürlich – seine Priscilla nicht.  Er wird Steward. Als er seinem Sohn diesen Beruf erklärt, fasst dieser zusammen: „Also, du putzt, nur eben in der Luft.“

Einer der berührendsten Romane über eine Jugend am Rande von Paris, ehrlich, witzig, frech! Einfach liebenswert!!