Wiener Konzerthaus: Patricia Kompatchinskaja & Friends: „Dies irae“

Mit „Colloredo“ und „Company of Music“. Einstudierung: Johannes Hemetsberger. Michael Wendeberg: Klavier, Orgel, Cembalo. Patricia Kompatchinskaja: Violine, Idee, Künstlerische Leitung.

„Warum nur spielen, was wir wissen und verstehen. Besser nach vorne schauen und auf Neues stoßen“, schreibt Patricia Kompatchinskaya auf ihrer Homepage als Motto ihrer künstlerischen Tätigkeit. Das gilt auch für die Zuhörer und ganz besonders für die Rezeption der Aufführung“Dies irae“.Man konnte den Analysemotor abschalten und sich einfach auf das Geschehen einlasssen, das aufregend, spannend und total neu für einen Konzertabend war.

Noch hat das eigentliche Konzert nicht begonnen und doch ist man schon mitten drin. Blaues Licht im Saal, dumpfe Glockenschläge, Tritte von marschierenden Soldaten – man wird von Giacinto Scelsis „Okanogon“ (1968), als Tonaufnahme abgespielt, empfangen. Dann betritt Kompatchinskaja die Bühne, sie wirkt wie eine Teufelsgeigerin auf leerer Landstraße. Sie spielt so lange, bis alle aus der „Truppe“ sie einholen. Die Verzauberung durch die Teufelsgeigerin kann beginnen: Abwechselnd werden Kurzkompositionen von George Crumb (1929-2022) und Heinrich Ignaz Biber (1674 – 1704) gespielt. Die Musiker sitzen nicht festgenagelt auf ihrem Platz, sondern bewegen sich auf der Bühne tänzerisch-spielerisch. „Battalia“ (Schlacht) von Biber mischt sich mit Devil Music von Crumb, bei einer Jimmy Hendrixeinlage kreisen wilde Hornissengeigentöne durch den Saal. Zur“ Crucifixus – Improvisation“ von Antonio Lotti ( 1667-1740) tragen Musiker einen offenen Holzsarg durch die Saalmitte, der später als Echokammer für Hammerschläge dient. Kopatchinskaja stellt in diesem Konzert die Hauptfrage, die alle angeht: Wie viel Zeit haben wir noch, bevor die Natur sich rächt und alle Leben auf der Erde vernichtet sein wird?“ Eine Frage, die schon in dem Gregorianischen Hymnus „Dies irae“ gestellt wurde und von Galina Ustwolskaja (1919-2006) neu vertont wurde. Aufwühlend, atemberaubend endet dieser Abend mit dem Einzug der Trompeter von Jericho, die einst die Stadt zu Fall brachten.

Begeisterter und langer Applaus für die alle Musiker und Musikerinnen, ganz besonders für Patricia Kompatchinskaja.

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Kasematten Wr. Neustadt: Franz Grillparzer: Medea. Eine Produktion des Theaterfestivals „wortwiege“

Regie und Spielfassung: Anna Maria Krassnigg, Bühne: Andreas Lungenschmid, Kostüm: Antoaneta Stereva di Brolio, Musik und Film: Christian Mair

Das diesjährige Motto des Festivals lautet „fragil/fragile“. Es wird nach allen Richtungen von Beziehungen gefragt: Wie zerbrechlich sind zwischenmenschliche Beziehungen, wie sehr kann der Einzelne auf politische Sicherheiten bauen, wie stabil sind Verträge, Friedensabkommen etc… In diesem Sinne wurde der Salon zu einem Art Aquarium umgebaut. Fische, Seesterne und anderes fragiles Getier schweben irgendwie losgelöst im Raum.

Endlich, endlich wieder einmal eine Theateraufführung, bei der das Publikum nicht durch skurrile Regieeinfälle vom Sinn abgelenkt und in krause Gedanken umgelenkt wird. Medea ist die Medea, wie Grillparzer sie schrieb: Eine Frau, die liebt, ausgenützt und verraten wird. Sehr sensibel hat Maria Krassnigg den Text leicht gekürzt, sprachlich hin und wieder der Gegenwart angepasst, doch bleibt Grillparzer Grillparzer! Das Bühnenbild ist schlicht, wird von einem weißgrauen Schafwollteppich beherrscht, der das berüchtigte „Goldene Vlies“ symbolisiert, das alle besitzen wollen, weil es dem Besitzer uneingeschränkte Macht verleiht. Doch mit dem Vlies ist ein Fluch verbunden. Einst aus dem Apollotempel in Delphi geraubt, bringt es Leid und Tod demjenigen, der es besitzt.

Kolchis liegt auf der „dunklen Seite der Welt“ am Schwarzen Meer, wo die schöne Königstochter Medea lebt. Sie hat von ihrer Mutter Zauberkräfte geerbt. Jason ist aus der hellen Welt der Griechen nach Kolchis gekommen, um das Goldene Vlies zu rauben. Medea hilft ihm dabei, geblendet von seiner strahlenden Heldenerscheinung. Beide verbindet Liebe und Verbrechen. Doch Flucht, Verbannung und die Erinnerungen an die Taten der Vergangenheit, die als Filmschatten immer wieder Medea heimsuchen, machen beide mürbe. Die Liebe ist zerbrechlich geworden.

Grillparzers Medea – der letzte Teil der Trilogie „Das goldene Vlies“, setzt ein, als Jason und Medea nach jahrelanger Flucht durch Greiechenland in Korinth landen. Jens Ole Schmieder ist ein müder, verzweifelter Jason, einer, der nur noch hofft, in Korinth eine neue Heimat zu finden. Dafür ist er nach kurzem Zögern bereit, sich von Medea zu trennen. Denn König Kreon (ganz aalglatter Politiker: Peter Scholz) will nur ihn und die beiden Söhne aufnehmen. Jason möchte im Grunde, dass Medea so schnell wie möglich von der Bildfläche verschwindet, denn er ist schon von Kreon als Schwiegersohn für Tochter Kreusa (Saskia Klar) bestimmt. Medea wirkt zu Beginn wie eine Lady aus einem englischen Salon – nichts erinnert an die stolze, wilde und unbeherrschte Zauberin von einst. Alles versucht sie, um Jasons Liebe neu zu entflammen. Sie ist sogar bereit, sich anzupassen und von Kreusa ein Lied zu lernen, das Jason einst so gern gesungen hat. Diese Szene ist eine der stärksten im Stück: Kreusa, naiv und beflissen, singt es ihr vor. Hilflos klingt es aus dem Mund Medeas. Jason, verärgert und sich für Medeas hilflosen Versuch der Anpassung schämend, verbietet es ihr.. Doch in diesem Moment – und es ist das einzige Mal – brechen in Medea Wut, Kraft und Verachtung aus. Ganz die Zauberin, die Wilde, die Barbarin singt sie dieses verhasste Lied „Liebe. Dunkler Erdteil“ – es stammt von Ingeborg Bachmann – nun nicht mehr als die verängstigte Medea, sondern als die selbstbewusste Frau, die sie einst war: „Der schwarze König zeigt die Raubtiernägel“ sie ist der schwarze König, der die Raubtiernägel zeigt., Von dem Moment an ist Medea entschlossen zu handeln: Sie überlässt Kreon das gefährliche Kästchen, das Feuer und Tod bringen wird. Im Palast wird nicht nur Kreusa umkommen, sondern auch ihre beiden Kinder. Wie in fast allen Medeainszenierungen scheuen sich die Regisseure, den Kindermord direkt auf der Bühne zu zeigen. ( Bei Grillparzer ersticht Medea die Kinder in einem Seitentrakt, also nicht auf offener Bühne.) Die Schlussszene überlässt Grillparzer Jason und Medea. Jason, gebrochen vom Schmerz, jammert, doch Medea herrscht ihn an: Lebe und ertrage. Sie selbst wird das Vlies nach Delphi bringen und für ihre Tat einstehen. Schade nur, dass Maria Krassnig die großartigen Schlusssätze Medeas gestrichen hat. „Was ist der Erde Glück? – Ein Schatten! Was ist der Erde Ruhm? -Ein Traum!“ Und dem verzweifelten Jason befiehlt sie: „Trage! Dulde! Büße!“

Ein Abend, der rundum gelungen ist. Eine kluge Regie, eine kluge Textbearbeitung, die dem Autor Grillparzer Respekt zeugt, und vor allem gute Schauspieler: Berührend und stark Nina Gabriel als Medea, Jens Ole Schmieder ein müder Held (man hätte sich mehr Wortdeutlichkeit gewünscht), Peter Scholz ein aalglatter Politiker, Saskia Klar ein argloses, naives Kind. Grillparzer wäre mit dieser Aufführung sicher zufrieden gewesen.

Das Publikum war es eindeutig!

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Volksoper: West Side Story

Idee und Buch: Jerome Robbins und Arthur Laurents, Musik: Leonard Bernstein, Gesangstexte: Stephen Sondheim

Regie: Lotte de Beer, Choreographie: Bryon Arias, Bühne: Christopf Hetzer,Kostüme: Jorine van Beck, Dirigent: Ben Glassberg

„I like to be in America“ – mit diesem Song ist das Hauptthema des Musicals angegeben. Einwanderer aus Puerto Rico wollen als Amerikaner akzeptiert werden und ihren Traum vom Eigenheim und friedlicher Koexistenz verwirklichen – im wunderbaren Song „Somewhere there is a place for as“ in einer erträumten Idylle vertont.. Doch wo schon andere den Platz und das Lebensrecht beanspruchen, kommt es unweigerlich zu Konflikten. Aktuell zu erleben: der Konflikt zwischen Israeli und Palästinensern. In der Literatur dramatisiert in „Medea“ von Euripides, Grillparzer und anderen, besonders aber von Shakespeare. Die aktuelle Aufführung folgt in groben Zügen dem Drama Shakespears „Romeo und Julia“, heruntergebrochen auf die Kämpfe zwischen den Straßengangs. Die Jets unter ihrem Anführer Riff (beeindruckend Oliver Liebl) wollen die „Sharks“, die aus Puerto Rico eingewandert sind, nicht dulden. Das Viertel gehört ihnen. In einer Straßenschlacht soll die Entscheidung fallen.. In atemberaubenden Choreographien (Bryon Arias) entwickelt sich ein mörderischer Kampf, in dem Tony (Christof Messner) versucht, Frieden zu stiften, aber selbst zum Mörder wird. Man kommt aus dem Staunen über die unwahrscheinliche Kraft und Gewalt, mit der diese beiden Gangs aufeinander losgehen, nicht heraus. Eine Szene ist stärker, intensiver als die andere. Man erfährt im Programmheft, dass Bryon Arias aus so einem gewaltbereiten Viertel in Puerto Rico stammt und gerne bei so einer Gang dabei gewesen wäre. Doch die Mutter hatte anders entschieden und ihn in die Ballettschule geschckt. So ist erklärbar, warum die Kampfszenen eine derartige Dichte und Heftigkeit bis fast zur Unerträglichkeit entwickeln, etwa die Vergewaltigung Anitas. Myrthes Montero gibt dieser Figur durch ihre Bühnenpräsenz und tolle Stimme Stärke und Ausstrahlung.

Die Liebesgeschichte zwischen Tony und Maria (stimmgewaltig Jaye Simmons) ist der zweite Strang des Geschehens. Manche mögen sich unter den beiden Figuren (in Erinnerung an den Film, der seit der Uraufführung 1961 immer wieder einmal zu sehen war) vielleicht andere Typen vorgestellt haben als die beiden, etwas bieder wirkenden. Aber ihr Aussehen passt punktgenau in die Rolle, die ihnen zugeschrieben wird: Sie wollen anders sein als all die Gewaltbereiten, weit weg gehen und ein bürgerliches Leben führen. Ihr schwärmerischen Liebesduette gehen zu Herzen und bilden einen Gegenpol. Wie schon bei Shakespeare siegt auch in dieser Story der tödliche Hass.

Begeisterter und langer Applaus, besonders für Jaye Simmons, Myrthes Monteiro, Christof Messner und Oliver Liebl. Ganz besonders viel Applaus für die gesamte Tanztruppe! Anerkennungsapplaus für Ben Glassberg, der mit Verve dirigierte.

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Festsoielhaus St. Pölten: Tonkünstler Orchester: Bruckner 7. Dirigent Yutaka Sado

Es gibt Momente im Leben, in denen „die Dinge …positive Eigendynamik annehmen.“ Diese Erfahrung „findet in der siebten Symphonie von Anton Bruckner eine Kristallisation dieses allem menschlichen Leben innewohnenden Phänomens“. So Klaus Laczika im Programmheft und ähnlich auch in der Einführung zu diesem Abend. Als Bruckner die siebte Symphonie komponierte (1881-1883), war er in einem schwebenden Zustands der Zufriedenheit. Was deutlich zu spüren ist, insbesondere wenn Yutaka Sado die Tonkünstler dirigiert. Sado hat sich die Musik Bruckners (und in logischer Folge die Mahlers) zu eigen gemacht. Die innige Verbundenheit mit ihr war an diesem Abend wieder einmal deutlich zu spüren.

Das Allegro moderato beginnt wie eine Musik aus den Tiefen des Traumes geholt, losgelöst von jeglichen Alltagssorgen. Man ahnt den zukünfigen Komponisten Gustav Mahler, der in seinen Symphonien von diesem musikalischen Giganten stark beeindruckt war. Nach einer wahrhaftigen Himmelsfahrt , aus der die Verehrung für Wagner herauszuhören ist, leitet Bruckner zum Adagio über, das er, den Tod Richard Wagner vorausahnend, als Trauermusik komponierte. Trotz der schrecklichhen Erfahrung des Ringtheaterbrandes am 8. Dezember 1881 schrieb er wie in Trance eine sanfte Musik, in der er auch die Tuba, die Wagner eigens für seine Kompositionen bauen ließ, verwendete. Nach einem machtvollen Anklang an sein „Te Deum“ und einem schwingenden, fast fröhlichen Teil klingt das Adagio aus. Scherzo und Finale „sind „harmonischen Experimenten gewidmet“ (Klaus Laczika im Programmheft) und klingen mit schwebender Fröhlichkeit aus.

Wieder einmal hat sich bestätigt: Wenn Yukata Sado dirigiert, genießt man ein besonders intensives Musikerlebnis. Ohne Eitelkeit und bombastische Gesten führt er das Orchester und dringt gleichsam in die feinsten verborgenen Muskeln der Komposition ein. Und das Orchester folgt ihm im vollen Vertrauen. Gemeinsam schaffen sie jedes Mal ein unvergessliches Musikereignis! Um so betrüblicher ist es, dass Yukata Sado mit dieser Saison das Orchester verlässt.

Begeisterter Applaus

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Theater Akzent: Maria Hofstätter liest Max Maetz: Bauernroman. Weilling Land und Leute.

Musik: Linzer Geiger Trio. Dramaturgie: Maria Hofstätter, Idee und Konzept: Peter Gillmayr (Violine)

Max Maetz ist das Pseudonym für Karl Wiesinger (1923-1991). Als Max Maetz mischte er die literarische Szene durch einen Bauernroman auf, in dem er sich kein Blatt vor dem Mund nahm und keine Scheu vor demaskierender Ehrlichkeit hatte. Er beschreibt die bäuerliche Gesellschaft mit beißender Ironie und hintergründigem Humor, alles in Kleinschreibung, ohne Punkt und Beistrich. Ein „gefundenes Fressen“ – um im Jargon von Max Maetz zu bleiben – für die Schauspielerin Maria Hofstätter. Wer sie aus diversen Filmen wie der Paradiestrilogie von Ulrich Seidl kennt, der weiß, wie gut so ein schräger Text bei ihr aufgehoben ist.

Ort der Handlung: Weilling, ein Dorf mit zwei Bauernhöfen, in der Nähe von St. Florian in Oberösterreich. Max erzählt sein Leben von der Geburt bis zum 27. Geburtstag in Ichform. Schon seine Geburt hat’s in sich: Plumpst er doch aus dem Bauch seiner Mutter, die gerade dabei ist, ihren Ehemann, der den Kriegsdienst verweigerte und von glühenden Nazis auf einen Baum aufgehängt wurde, von diesem herunterzuholen. Dabei hilft ihr der Bauer mit dem Beinamen Vulgo K. Der nimmt Mutter und Kind Max auf seinem Hof auf. Nach dem Tod der Mutter und des Bauern erbt Max den Hof. Später noch den Hof Katharinas, die er das Testament zu seinen Gunsten in der Hochzeitsnacht unterschreiben lässt. Er ist nun Großbauer. Was sich alles in dieser Zeit ereignet, erzählt Max in naiv-ironischer Offenheit. Etwa: Auf der Bauerndemo protestieren die Knechte gegen eine Erhöhung des Dieselpreises, damit sich der Großbauer die Heizung seiner Villa leisten kann. In der Hochzeitsnacht gesteht Max Kathi, dass er es als Bub mit der Kuh getrieben hat. Die Kathi tut empört, aber nach kurzer Zeit ist die Ehe in Butter. Natürlich verzichtet Max nicht auf seine Freundin Susi, die ihn im Stall besucht. Er werkt an ihr, während sie clever und scheinheilig die Ehefrau, die draußen im Garten arbeitet, vom Stallfenster aus fragt, wo denn der Max sei. All das liest Maria Hofstätter mit der „aufrechten“ Stimme eines Max, der am Ende alle mit den Worten „A Bauernhof is ka Puff“ zu mehr Moral ermahnt.

Das Linzer Trio (Peter Gillmayr Violine, Kathrin Lenzerweger Violine, Alvin Staple Kontrabass, der auch für die musikalische Bearbeitung verantwortlich ist) unterbricht an passenden Stellen mit passender, den Text ironisch unterlaufender Musik: Als Max mit Bauer Vulgo an einem „black point“ (eine Straßenstelle, an der besonders häufige tödliche Unfälle passieren) einen Supercrash mit Rettung, Feuerwehr etc erleben, spielt man einen Teil aus Bruckners Te Deum. Nach dem fatalen Geständnis des jungverheirateten Max in der Hochzeitsnacht spielt das Trio einen Teil aus Bruckners „Locus iste“, der besonders tragisch-traurig klingt. Zum Leichenschmaus für die verunfallte Katharina hört man Michael Haydns das Kyrie aus dem Deutschen Hochamt „Hier liegt vor deiner Majestät“ . Dank des aufliegenden Handzettels kann man diese treffende Auswahl nachverfolgen und zum Text passend einordnen.

Begeisterter Applaus für Maria Hofstätter und das Linzer Trio.

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Sabine Thiesler: Romeos Tod. Heyne Verlag

Kein Krimi, ein Thriller nur, wenn man Superspannung mit „thrill“ gleichsetzt. Sabine Thiesler hat mit diesem Buch dem Thriller einen neuen Aspekt, eine neue Richtung gegeben. Nicht das Verbrechen und dessen Aufdeckung und Bestrafung stehen im Fokus, sondern Menschen, die aus einer ganz spezifischen Charakterveranlagung ein Verbrechen begehen. Dass die Autorin ihren Protagonisten ein von tiefem Wissen um die menschliche Psyche geschärftes Profil verleiht, ist ein wesentliches Charakteristikum ihrer Romane.

Diesmal führt Sabine Thiesler den Leser in die Welt des Theaters, genauer hinter die Kulissen, noch genauer in die Seelenzustände eines Schauspielers knapp vor seinen Auftritten. Jan Jepik ist Vollblutschauspieler, wenn er den Hamlet spielt, dann ist er Hamlet, duldet kein „Nur so tun als ob“. Er gibt alles an Kraft in die Rolle, das Publikum tobt. Wenn er den Lenz verkörpert, spielt er dessen Wahn als seinen eigenen. Immer wieder, bei jeder Aufführung neu. Sein Privatleben ist ebenso eine Gratwanderung zwischen Wahn und Wirklichkeit. Ebenso seine Liebe zu Mona, einer hocherotischen und toxischen Persönlichkeit. Wie diese Frau die Überempfindlichkeit Jans und dessen Hang zum Wahn -sinn geschickt ausnützt, ihn manipuliert, ihn zum Mörder werden lässt ….das ist große Erzählkunst. Ein Buch, das man nicht am Abend im Bett beginnen sollte. Es besteht die Gefahr, dass man die Nacht durchliest und man am nächsten Tag arbeitsunfähig ist.

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Konzerthaus: ORF Radio-Symphonieorchester: Debussy, Ravel und Mahler.

Dirigentin: Marin Alsop, Sopran: Louise Alder

Claude Debussy: Prélude à l`après – midi d’un faune

Debussy war von Stéphane Mallarmés Gedicht „L´après -midi d`un faune“ so beeindruckt, dass er es in Musik umsetzte. Als Mallarmé sie hörte, war er schwer beeindruckt und meinte sogar. dass Debussy die Themen Schwermut, Sehnsucht und Schmerz noch besser in Töne umgesetzt hätte als er in Worte. Durch das feinsinnige Dirigat von Marin Alsop, die den Flöten genug Raum lässt, entstanden Stimmungsbilder zwischen Traum und Wirklichkeit.

Maurice Ravel: Shéhérezade. Vertonung von Gedichten von Tristan Klingsor. Sopran Marin Alder

An Stelle von Fatma Said, die kurzfristig krank wurde, sprang die junge Sopranistin Louise Alder als Liedinterpretin ein. Mir ihrem feinen, in allen Lagen sicheren Sopran führte Louise Alder das Publikum in die duftende und verträumte Welt des orientalischen Märchens, sensibel und kongenial geleitet von Marin Alsop. Leider mangelte es der Sängerin an Wortdeutlichkeit. Aber der Zauber ihrer Stimme ließ diesen Mangel vergessen.

Gustav Mahler, Symphonie Nr. 4, Sopran: Louise Alder

Diese Symphonie ist voll von romantischen Zitaten und Symbolen aus der deutschen Liedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“, zusammengestellt von Achim von Arnim und Clemens Brentano. Mahler verwendet Themen aus der Romantik, der Volks- und Militärmusik und macht daraus eine ganz eigenwillige, neue, nie zuvor gehörte Musik. Genau so empfanden es wohl alle Zuhörer an diesem Abend; Man hörte einen Mahler, den man so noch nie gehört hatte: Manch einem mag der Gedanke gekommen sein, dass Marin Alsops feinsinniges Dirigat dieses Wunder vollbrachte. Sie ließ der Stille ihren Raum, hob die einzelnen Instrumente klar heraus, besonders die Flöten und Bläser. Führte sie im 3. Satz zusammen mit den Geigen zu einer Musik des Paradieses. Auch im Finale bleibt sie der Romantik verpflichtet. Am Ende der Symphonie leitet Gustav Mahler zum Lied „Das himmlische Leben“ (aus der Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“) über. Es störte schon nicht mehr, dass Louise Alder die Worte ineinander verwebte. Denn der fein gewebte Klangteppich, in den Marin Alsop den Text bettete, hatte das Publikum bereits sinnlich umfangen.

Langer und begeisterter Applaus für Orchester, Dirigentin und Sängerin!!

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Theater in der Joefstadt: Peter Turrini: Es muß geschieden sein

Regie: Stephanie Mohr, Bühnenbild und Kostüme: Miriam Busch. Musikalische Leitung und Komposition: Wolfgang Schlögl

VOLLTREFFER! Ein Abend, der rundherum überzeugt! Wo Stephanie Mohr draufsteht, ist gut gemachtes, ehrliches Theater ohne Mätzchen drinnen. Die international viel gefragte Regisseurin ist am Theater in der Josefstadt fast zu Hause. Unter den zahlreichen Inszenierungen seien nur an einige erinnert, wie „Der Boxer“ (Felix Mitterer), „Glaube und Heimat“ von Karl Schönherr, „Der Sohn“ von Florian Zeller und zahlreiche Turrini-Inszenierungen. Das Duo Turrini-Mohr verspricht von vornherein gutes Theater. Dazu noch ein Ensemble, das besser nicht sein könnte – all das zusammen ergibt einen Theaterabend, wie man ihn in Wien nur mehr selten erlebt.

Alles dreht sich um die 1848er Revolution in Wien. Es wird geschossen, Anführer werden „füsiliert“, Kaiser Ferdinand „der Gütige“ flieht zweimal aus Wien. Arbeiter kämpfen und werden getötet. Tote Kinder liegen im Volksgarten, nicht weit vom Burgtheater, das „wegen Aufruhr“ geschlossen ist. In unmittelbarer Nähe probt eine Laientheatergruppe Ferdinand Raimunds „Bauer als Millionär“. Starker Auftritt von Günter Franzmeier als Adam Holzapfel. Pro füsiliertem Rebell verdient er einen Gulden. Ohne zu zögern erschießt er den Gefangenen im Hintergrund, um gleich darauf als Hausmeister mit Besen und Kübel die Bühne des Laientheaters zu reinigen. Er wird immer wieder das Geschehen referieren und -je nach politischer Lage – kommentieren. Auf der Bühne geht die Probe zu Raimunds Stück nur mit vielen Hindernissen vonstatten. Immer wieder stört Gefechtslärm. Der Regisseur Ferdinand, Thomas Frank als gelungene Parodie auf die überhektischen Regisseure von heute, will um jeden Preis proben, auch wenn draußen die Revolution tobt. Die Probenszenen sind von umwerfender Komik, wenn etwa Susanna Wiegand als Katharina Glück das Lied der Fortuna singt – eine Glanzleistung! Berührend spielt Johanna Mahaffy die Zäzilie Wagner, die sich als Jugend vom alten Bauer (Michael Dangl) verabschiedet. Der wiederum hat nur eines im Sinn: Am Burgtheater endlich spielen zu dürfen (ein unerfüllter Wunsch Ferdinand Raimunds). Immer lauter wird der Kampflärm von draußen – bis schließlich die Gruppe sich nicht mehr unberührt von dem Geschehen zeigt: Ein Kleiderbündel wird an Stelle des Kaisers aufgehängt, und die Truppe tanzt im Freiheitsrausch! Bis der Regisseur Ferdinand als Leiche hereingebracht wird – er hat sich ins Kampfgetümmel unter die Arbeiter gemischt und wurde erschossen. -Aus mit lustig, aus mit Theater! Die Wirklichkeit holt auch das Liebespaar Zäzilie und Karl, den Jusstudent aus gutbürgerlichem Haus, ein. Karl, mit Julian Valerian Rehrl als zunächst scheuer Einspringer, später als schwer Verliebter ist die ideale Besetzung. Die Kussszenen zwischen Zäzilie und Karl gelingen dank der Unbekümmertheit beider erfrischend witzig.

Worum es Turrini in diesem Stück ging, eröffnet sich gegen Ende: Die Revolution ist niedergeschlagen, die Aufrührer erschossen, die Bürger müssen eine Treueerklärung unterschreiben. Die Freiheit ist Schall und Rauch. Im Theater ist es leer geworden: Das Liebespaar ist im Gefängnis. Aber der Papa von Karl, der reiche Tuchhändler, kann seinen Sohn durch Beamtenbestechung freikaufen – er geht, küsst seine Geliebte und verspricht, sie bald herauszuholen. Aber – er kommt nicht wieder. Als Zäzilie allein an den Pfahl gebunden zurückbleibt und das „Brüderlein“ anstimmt und immer leiser werdend „es muss geschieden sein“ singt – da wird die Theaterpranke Turrinis spürbar!!! Er weiß, wie man starke Szenen schreibt. Und sie noch steigert: Aus dem Hausmeister Holzapfel ist wieder ein Kaiserlicher geworden. Im Namen des Kaisers soll er Zäzilie erschießen. Doch man bekommt pro „Abschuss“ kaum ein paar Groschen. Er zielt, setzt an – nein, das kann er nicht, er wirft das Gewehr weg. Sein Resümee: Die Bürger haben es sich wieder gerichtet, die Beamten sind wieder brav kaisertreu. Die Armen sind noch ärmer. Das Theater – am Ende. Tot oder irgendwo verweht sind die Theaterleute – sie haben ehrlich gekämpft, gebangt. Turrini: „Im Theater gibt es trotz der Schminke das wirklich Ungeschminkte.“ (Zitat aus Programmheft)

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Festspielhaus St. Pölten: AILEY II

The next generation of dance

Gründer: Alvin Alley. Künstlerische Leitung: Francesca Harper. Das Ensemble: Andrew Bryant, Spencer Everett, Jaryd Farcon, Maya Finman-Palmer, Patrick Gamble, Alfred L. Jordan II, Kiri Moore, Corinth Moulterie, Kali Marie Oliver, Tamia Strickland, Kayla Mei-Wan Thomas, Maggy van den Heuvel.

Das „Alvin Alley American Dance Theater“ wurde 2008 zum „lebendigen amerikanischen Kulturbotschafter in der Welt“ ernannt, weil es „die Einzigartigkeit der afroamerikanischen kulturellen Erfahrung erhalte und die Bewahrung und Bereicherung des amerikanischen modernen Tanzerbes feiere“ (Zitat laut Programmheft). Präsident Barack Obama verlieh Alvin Alley 2014 posthum den „Presidential Medal of Freedom“ in Anerkennung seines Engagements für die Bürgerrechte und den Tanz in Amerika. Die Lebensgeschichte Alvin Alleys (1931-1989) ist geprägt von der Zweiklassengesellschaft der 1940er Jahre. Er wollte schon sehr früh die „black culture“ erforschen. In der Modern Dance School of Laster Horton, die auch für People of Colour offen war, erhielt er seine Tanzausbildung. Nach dessen Tod übernahm er die Leitung der Schule und gründete bald eine eigene Gruppe mit einem ganz eigenen Tanzstil. der einen Kontrapunkt zur Tanzszene der Weißen setzte. Seine AAADT genannte Gruppe feierte bald in der ganzen Welt Erfolge. Aus der Kenntnis heraus, dass der Tanz intenational ist, öffnete er später seine Compagnie für alle Nationen und Farben. 1969 gründete er die Alley School und 1974 Alley II, „The Next Generation of Dance“, die nach Alleys Tod 1989 von Francesca Harper geleitet wird.

Es begann mit „Freedom Series“, einer Choreographie von Francesca Harper aus dem Jahre 2021. Das Ensemble – 12 Tänzerinnen und Tänzer – in dunklen Kostümen (Elias Gurrois) vor einer schwarzen Wand tanzte mit Lichtkugeln und schuf so magische Momente. Die Musik von verschiedenen, nicht genannten Komponisten, peitschte sie in Rasanz zu einem Art „Urtanz“, wobei man die unglaublichen Bewegungsformen, die von Gummimenschen stammen könnten, bestaunte. Man versank in Licht, Musik und Tanz. Es waren mystische Moment.

Es folgte „The lark ascending“, Auszug einer Choreographie von Alvin Alley aus 1972. Nach dem Urtanz ein Art von Frühlings- und Liebestanz, komponiert von Ralph Vaughan Williams. Zu Beginn feierte Kali Marie Oliver den Frühling als Fest des Lebens (s. Foto)“. Der pas de deux von Kali Marie Oliver und Andrew Bryant war eine Offenbarung an Zärtlichkeit.

„The Hunt“, ein Choreographie von Robert Battle aus dem 2001. Es war die Bronx, wie man sie aus der „Westside Story“ kennt- nur wilder. Vier Rasende kämpften gegeneinander und formierten sich in Gruppen doch wieder zusammen. Es waren die Spiele der Straße, die sich die Jugend eroberte. „The Tambours du Bronx“ hämmerten auf die Gruppe ein. Interessant war, dass es drei Frauen und ein Mann waren. die in wilder Raserie atemlos über die Bühne tanzten.

Den krönenden Abschluss bildete die legendäre Choreographie Alleys aus 1960: „Revelations“ Ausstattung und Kostüme stammten von Ves Harper für „Rocka my soul“. Eine Szenerie jagte die andere, den Beginn machte eine Gruppe, die Gebete tanzte und sich zu Gruppen formierte, die an Rodins Skulpturen erinnerten. Wunderbare Soli lösten einander ab. Den Schluss bildete das ganze Ensemble: Frauen in hellen, langen eleganten Kleidern, die an die Mode der Südstaaten erinnerten. Mit breiten Hüten und Fächern ertanzten sie ihre Freiheit, Unabhängigkeit. Jetzt haben wir das Sagen! Männer durften assistieren! Ein großer Spaß zu „Rocka my soul“. Das Publikum ging begeistert mit, tanzte fast in den Sesseln und klatschte den Takt. Ein wahres Fest!!

Applaus und große Begeisterung!!!

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Gabriele Reiterer, Anna Mahler. Bildhauerin, Musikerin, Kosmopolitin. Verlag Molden

Über Alma Mahler sind wir bestens durch Autobiographie, Biographien und Romanbiographien informiert. Wenig, bis gar nichts wußte man bisher über die Tochter Anna. Nun hat Gabriele Reiterer diese Lücke gefüllt. Die bibliophile Biografie ist im flüssig, leicht lesbaren Stil geschrieben und ausführlich recherchiert.

Als Tochter von Gustav und Alma Werfel trug sie schwer an diesem Erbe. Den geliebten, wenn auch strengen Vater verlor sie mit 11 Jahren. Die Mutter war mehr mit sich und ihren Liebschaften beschäftigt und kümmerte sich wenig um das Kind. Schulbildung im klassischen Sinn gab es keine. Anna war nicht Tochter, sondern Begleiterin am Klavier. „…Musik ist eine Krankheit, die man nicht los wird“, sagte sie. Der Ausspruch steht als Motto am Beginn der Biografie. Musik ist also der eine Teil des Erbes. Der andere ist wohl der unstete Charakter, den ihr die Mutter mitgab. Ähnlich wie Alma wird sie die Männer um sich scharen, sie heiraten und sie verlassen. Fünf Ehemänner und einen (?)Geliebten – soweit man weiß. Das macht sie nicht unbedingt sympathisch. Besonders nicht die Art, wie sie sich ihrer Männer entledigte. Den letzten warf sie aus dem gemeinsamen Haus, weil er ihr von einem Moment zum anderen mit seinem greisenhaften Gehabe auf die Nerven ging.

Aber: Sie war schön, inntelligent und daher interessant für die Männerwelt. Die Frauen – ja eine oder andere Freundin. Alles und immer beherrschend: die Mutter. Anna suchte die Distanz, wurde aber immer wieder zurückbeordert – und sie kam, auch deswegen, weil sie die finanzielle Unterstützung brauchte.

Annas Lebenssinn war nicht die Musik – die hielt sie für etwas Selbstverständliches, so wie Essen, Sex – sondern zunächst die Malerei. Bis sie erkannte, dass sie mit dieser Kunstform nicht klar kam. Beeinflusst von Rodin und später von Fritz Wotruba, der auch ihr Lehrer wurde, begann sie Bildhauerei zu lernen. Der Stein faszinierte sie. Vielleicht war es auch eine Methode, ihre inneren Schwierigkeiten los zu werden. Sie konzentrierte sich auf die menschliche Figur, besonders auf Porträts. Davon leben konnte sie nicht. Erfolg hatte sie erst gegen Lebensende – die Eröffnung der Ausstellung in Salzburg erlebte sie nicht mehr.

Ihr Lebensweg war bestimmt durch ihre Herkunft, Emigration über London in die USA. Nach Wien wollte sie nie mehr zurückkehren. Gabriele Reiterer zeichnet eine Frau, die mit dem schweren Erbe ihrer Eltern, den Männern, die sie vergöttern, und dem ewigen Ortswechsel leben muss. Sie findet spät, aber doch, Zuflucht und innere Bestätigung in ihrer Kunst als Bidhauerin.

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Charles Lewinsky, Der Halbbart. Diogenes

Hat sich hier der Autor selbst ein literarisches Denkmal gesetzt? Charles Lewinsky ist bekannt dafür, dass er fleißig recherchiert und aus den gewonnenen Fakten(?) eine spannende Geschichte baut, die stimmen kann oder auch nicht. Sein Protagonist Sebi gleicht ihm.

Sebi (Sebastian) wäschst in einem Dorf in Schwyz Anfang des 14. Jahrhunderts auf. Die Familie ist arm, seine älteren Brüder müssen für das naheliegnde Kloster Frondienst leisten. Dabei verliert Geni, der Besonnene, ein Bein. Sebi ist der Jüngste, vielleicht neun oder zehn. Er ist ein heller Kopf, beobachtet und macht sich seinen Reim. So ist er auch der erste und einzige, der den seltsamen Zuzügler namens Halbbart in seiner Hütte am Rande des Dorfes aufsucht. Aus Neugier und Mitleid wird Freundschaft. Als Sebi als Sauhirt im Kloster arbeiten muss, haut er bald ab, weil ihm die Scheinheiligkeit des Betriebes auf die Nerven geht. Zu den Soldaten will er nicht, weil er Gewalt verabscheut. Er schlägt sich wieder bis in sein Dorf durch. Inzwischen hat sich Halbbart einen guten Ruf als „Heiler“ gemacht. Doch bald wird ihm dieser Ruf zum Verhängnis und er wird als einer, der mit dem Teufel in Verbindung steht, angeklagt. Doch – oh Wunder – freigesprochen. Danach erzählt er Sebi und dessen Freunden endlich die Geschichte, wie es zu seinen Brandwunden im Gesicht gekommen ist. Er wurde in Korneuburg (!) von einer von einem Priester verhetzten Masse an die Tür seines Hauses angebunden und angezündet. Doch irgendwie konnte er sich im letzten Moment befreien. Ist die Geschichte so gewesen? Niemand kann es wissen. Sebi jedoch, fasziniert von der Art, wie Halbbart diese Geschichte erzählt, beschließt, sich als Geschichtenerzähler durchs Leben zu schlagen. Als „Meisterstück“ erzählt er, wie die Schweizer 1315 die Habsburger vertrieben haben. Dabei übertreibt er so, dass er selbst nicht glauben will, was er da erzählt. Doch er wird zum Helden hochgejubelt: Ja, genau so muss der Freiheitskampf stattgefunden haben!!

676 Seiten lang hält Lewinsky die Leser bei der Stange – allerdings verliert er sicher einige am Weg. Denn so detailreich er über Klosterleben, Dorfgeschichten und Tratsch, Aberglauben und Grausamkeiten zu erzählen weiß, und wie es Halbbart und Sebi eben auch machen, am Höhepunkt einer Geschichte abrupt abbricht und von ganz anderen Ereignissen neu beginnt, man legt das Buch erschöpft immer wieder beiseite, um dann doch wieder weiter zu lesen. Irgendwie ist man dann froh, am Ende angekommen zu sein. Die Moral von der Geschicht`: Glaub der Geschichte nicht. Es gibt keine „historisch gesicherten Fakten“.

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Konzerthaus Wien: Fatma Said -Reise durch die Welt der Lieder

Am Klavier: Joseph Middleton

Die aus Ägypten stammende Sängerin Fatma Said ist in dieser Saison die Protagonistin der „Porträtreihe“. Bei ihrem ersten Konzert „A Sense of Mosaic“ im November stellte sie sich mit unbekannten Liedern von Brahms. Camille Saint Saens, Francis Poulenc und vielen anderen vor und begeisterte das Publikum.

Nun also setzte sie ihre Reise durch die Welt der Lieder fort. Sie begann mit Mozartliedern. Die Miniaturen waren eine Herausforderung, der sie anfangs nicht so ganz gewachsen war. Zuweilen kratzte die Höhe. Erst im dritten Lied „Männer suchen stets zu naschen“ fand sie den richtigen Ton und brillierte mit dem humorvollen Schluss. Die Schubertlieder waren mehr ihr Terrain – „Der Tod und das Mädchen“ wurde zu einer schlichten, berührenden Miniatur. In den „Nachtviolen“ zauberte ihre Samtstimme Seligkeit und Frühlingsluft. „Ganymed“ wurde zu einem Bekenntnis der ungezügelten Leidenschaft. Schumanns „Widmung“ an seine Frau Clara wurde zu einem innigen Liebesbekenntnis.

Nach der Pause begeisterte sie das Publikum mit „canciones populares“ von Manuel de Falla, darunter besonders intensiv das Wiegenlied „Nana“ und „Tus ojillos negros“ -„Deine schwarzen Augen“ Zart, nur angehaucht gelang das Lied „Del cabello mas sutil“ („Vom feinsten Haar“). Von der Kraft des Gesanges kündete das Lied „Gib mir eine Flöte und sing“ von Najib Hankash – ein fast träumerisches Bekenntnis zu der Kraft der Musik, insbesondere des Liedes. Joseph Middleton war ein einfühlsamer Begleiter am Klavier.

Weitere Termine:

29. Jänner 2024/ ORF Radio Symphonieorchester Wien: Mahler 4. S<mphonie, Sopransolo: Fatma Said

2. März 2024: Il Giardino d‘ Amore und Fatma Said: Arien von Vivaldi und Händel

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Kammerspiele der Josefstadt: Fritz Hochwälder, Der Himbeerpflücker

Regie: Stephanie Mohr, Bühnenbild: Miriam Busch

Als Fritz Hochwälder das Drama „Der Himbeerpflücker“ 1964 schrieb und es danach bis Ende der 70er Jahre auf diversen Bühnen gespielt wurde, war es ein großer Erfolg, weil das Thema längst fällig war. Hatten doch die wenigsten Leute, vor allem nicht die Jugendlichen, eine Ahnung vom Nazionalsozialismus. In den Schulen kannte man kaum Bert Brecht und schon gar nicht Fritz Hochwälder. Dass die Altnazis es sich nach Ende des Krieges „richten konnten“ und wieder in wichtigen Ämtern saßen, war ebenfalls relativ unbekannt. Als in der Zeitschrift „Falter“ der Bericht über den Euthanasiearzt Groß erschien, kostete es diesem keineswegs seinen Posten, im Gegenteil, er wurde von der Republik mit Ehren ausgezeichnet. In diesen gesellschaftspolitischen Sumpf stach nun Hochwälder mit seinem Drama hinein.

In den 90er Jahren wurde „Der Himbeerpflücker“ nicht mehr gespielt. Ist diese Wiederaufnahme aktuell, relevant unf wichtig für unsere Zeit?. Meiner Meinung nach ja, sogar sehr wichtig. Denn die aktuelle politische Atmosphäre ist ebenso wie damals von Freunderlgeschichten, Korruption etc vergiftet. Außerdem bin ich überzeugt, dass viele junge Menschen von dieser Nachkriegszeit kaum etwas wissen.

Stellt sich die Frage, wie man dieses Stück heute spielt, in einer Zeit, wo Show, Slapstick und überdrehte Performance das Theater ersetzen. Deshalb ist es sinnvoll, dass Stephanie Mohr das Volksstück als bewusste Gegenform wählte.. Leider gerieten manche Szenen zu allzu billigem Klamauk – warum muss Susanne Wiegand als Burgerl vor Entrüstung ihre Wäsche ablegen, warum muss Claudius von Stolzmann als Zagl wie der letzte Dorfdepp agieren? Warum muss das Stück wie eine Feydeau-Komödie ablaufen und müssen die Schauspieler eine Türauf- Türzu – Dauerlauf absolvieren? Warum müssen alle immer und immer wieder Wein, Schnaps und Bier saufen? Warum müssen am Schluss die Mannsbilder in einer „Siegesfeier“ fressen wie die Säue? – Das ist zu billige Charakterisierung, es fehlt die Schärfe einer finsteren Komödie. An manchen Stellen wirkt der Text etwas ausgeleiert – wurde es schon zu oft gespielt? Dennoch, noch einmal gesagt: Das Stück ist wichtig und hat seine Berechtigung. Die Regisseurin hat ja mit dem Ensemble eine wahre Goldgrube – warum nützt sie diese Kräfte nicht? Ein Franzmeier, Stolzmann, Reinthaller etc. sind durchaus für subtiles Spiel zu haben! Sie müssen nicht poltern! Ihnen allen liegt die fiese Komödie, das Hintergründige sehr wohl.

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Charles Lewinsky, Sein Sohn. Diogenes Verlag

Ohne modische Versatzstücke erzählt Charles Lewinsky das Schicksal eines Menschen, der von einer Idee besessen ist und sie ohne Rücksicht auf Verluste verfolgt und dabei zugrunde geht. Ein wenig Simplicissimus, ein wenig Don Quijote, ein wenig historische Fakten und sehr viel Erzählkunst, die eben aus der Mischung von nachgewiesener Geschichte und Fiktion besteht. Man könnte den Roman auch als Analyse eines Menschen lesen, der konsequent einer Idee nachgeht. Ob es Wahn oder Wirklichkeit ist – das lässt Charles Lewinsky offen.

Das Buch liest sich wie ein Abenteuerroman aus der Zeit nach der französischen Revolution. Louis Chabos wächst in einem Waisenhaus in Mailand auf. Schüchtern und etwas klein von Wuchs wird er von seinen Mitbwohnern schickaniert. Es quält ihn, dass er nicht weiß, wer seine Eltern sind. Mit 12 Jahren wird er dem Marquese als Diener übergeben. Von ihm lernt er, sich zu verteidigen, mutig zu sein. Als junger Mann meldet er sich zur franzsösichen Armee und macht die Schrecknisse des Rußlandfeldzuges mit. Ziellos und verwundet irrt er nach dem Krieg herum, sucht nach einem Hinweis auf die Idendität seines Vaters. Endlich findet er in einem kleinen Dorf in Rätien eine Heimat, gründet eine Familie und es scheint, als habe er Ruhe gefunden und die quälende Suche aufgegeben. Bis ihn eines Tages eine Spur nach Paris führt, zu König Lous-Philippe I. Die Suche endet tragisch,,,,

Charles Lewinsky ist ein Menschenmaler mit Worten. Die Charaktere werden plastisch herausgearbeitet und in ein historisches Ambiente hineinerzählt. Mit vielen Details, fundiert recherchiert, reichert er das Romangeschehen an, ohne es zu beschweren. Er leitet den Leser vom Waisenhaus in Mailand bis in das von Luxus und schrecklicher Armut geprägte Paris. Am Ende ist man erschüttert von dem Leid, das diesem Chabos widerfährt. Ein Leid, das er selbst herausgefordert hat.

www.diogenes.ch

David Hewson: Die Medici Morde. Folioverlag

Ein Venedigkrimi. Aus dem Englischen von Birgit Salzmann

Der Autor hat sich auf Krimis in Venedig spezialisiert und mit „Der Garten der Engel“ einen großen Erfolg eingefahren. Leider ist der neue Band lang nicht so spannend, die Erzählung verliert sich in langatmige historische Recherchen über die Medici und ihre Zeit.

Marmaduke Godolphin ist ein erfolgreicher Fernsehhistoriker, füttert sein Publikum mit nicht immer historisch gesicherten Mythen und Fakten. Seine Serien hatten Erfolg, der gerade im Abflauen ist.Um den Erfolg abzusichern, inszeniert er ein großartiges Schauspiel in Venedig, wozu er seine ganze Crew eingeladen hat. Es sollten Morde an Medicis nachgestellt und nachgewiesen werden. Doch bevor die Show wirklich zu Ende ist, findet man ihn tot in einem der Seitenkanäle. Bis dahin verheißt die Geschichte Spannung. Doch leider verläuft sich das Interesse, da der Autor nun seitenlange historische Recherchen dem Leser zumutet. Schade… Aber für Historienfreaks mag das Buch empfehlenswert sein.

www.folioverlag.com

Wiener Konzerthaus: Nikolaus Habjan: „Abpfiff 2023“

Oboe: Sebastian Breit, Akkordeon: Tobias Kochseder, Violoncello: Eduardo Antiao, Klavier: Ines Schüttengruber

Gemeinsam mit den vier Musikern kommentierte und pfiff Nikolaus Habjan Arien von Mozart, Rossini, Schubert, Beethoven, Verdi. Milhaud, Dvorak u.a.

Es wurde kein Rückblick über 2023, sondern ein echter Ab-Pfiff: Das Jahr soll abgehen, es war nicht immer schön. Deshalb soll der vorletzte Abend der heiteren Muse gehören. Diesmal brachte Habjan keine Puppen mit, sondern sein Talent zum Kunstpfeifen und vier tolle Musiker. Humorvoll und mit einer kleinen Dosis Respektlosigkeit vor manchem unsinnigen Libretti, kommentierte er jeweils vor jedem „Pfiff“ Sinn und Unsinn der folgenden Arie. Gleich zu Beginn amüsierte er das Publikum mit der Arie des Cherubin aus der „Hochzeit des Figaro“ von W.A.Mozart und meinte dazu: „Es ist die Arie eines voll pubertierenden Knaben, der ganz verrückt nach gleich zwei Frauen ist“: „Voi che sapete“. Das Faszinierende an Habjans „Pfiffarien“ ist, dass man die Figur, die Situation und das Ambiente der jweiligen Arie auch ohne Worte miterlebt. Was vorausseetzt, dass das Publikum opernaffin ist. Der vollbesetzte Mozartsaal und der jeweils begeisterte Applaus zwischen den Arien ließen dies vermuten. Von heiter bis romantisch pfiff Habjan dem Publikum die Ohren voll. Unter den gewählten Arien war auch das berühmte „Lied an den Mond“ aus der Oper „Rusalka“ von Anton Dvorak. Das war hohe Kunst, dieses Sehnsuchts- und Liebeslied, das zu den innigsten dieser Gattung gehört, nicht zu verpfeifen. Habjan pfiff sich in die leisen, ganz leisen, dann auch sehr hohen Töne der Arie hinein und versetzte das Publikum direkt an den Teich, an dem der Prinz und Rusalka im Kuss gemeinsam in den Tod gehen. Begleitet von allen vier Musikern mit Innigkeit und Zartheit.

In Kurzfassung brachte er dem Publikum die Gemütslage des verliebten Müllersburschen aus dem Zyklus „Die schöne Müllerin“ von Franz Schubert näher: Der Verliebtheit des Burschen haftet nichts Tragisches an, es ist nur jugendliche Schwärmerei, die bald vergehen sollte. Deshalb pfiff Habjan den Vogelgesang als heitere, tröstliche Begleitung.

Geschickt verquickte er die verschiedenen musikalischen Interpretationen der Orpheusgestalt, pfiff mit Innigkeit die seelenvolle Arie aus Glucks Oper „Orpheus und Eurydike“ „Ach, ich habe sie verloren“ und kontrastierend die Arie der Eurydike aus Offenbachs Operette „Orpheus in der Unterwelt“ : „Der Tod will mir als Freund erscheinen“ („Eurydike findet die Ehe mit Orpheus langweilig, da haut sie lieber mit dem Gott der Unterwelt ab“ – so Habjan). Besonders soll nochmals das Spiel der vier Musiker hervorgehoben werden, die in den „Erholungspausen“ Habjans das Publikum mit Musik von Bach, Wunderer und anderen Komponisten begeisterten.

Das Publikum bejubelte Nikolaus Habjan und seine Musiker mit langem und begeistertem Beifall. Als Zugabe pfiff er die Arie der Rosina aus Rossinis „Barbier von Sevilla“. Dann wünschte er einen guten Rutsch ins Jahr 2024.

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Wiener Staatsoper: Ballett:“shifting symmetries“

Drei Choreographien: „Concertante“ – Hans van Manen. „In the Middle. Somewhat Elevated“ – Wiliam Forsythe. „Brahms-Schoenberg Quartet “ -George Balanchine

Titelfoto: Concertante, GWielick, ALiashenko © Ashley Taylor

„Shiftng symmetries“- „Verschobene Symmetrien“ wurde als Überbegriff für die drei Ballettchoreografien gewählt. Van Manen, Forsythe und Balanchine sind drei Choreographen, die die Entwicklung des Balletts im 20. Jahrhundert wesentlich prägten.

„Concertante“ – Musik von Frank Martin, zeigt die Choreographie van Manens in konzentrierter Form. Vor schwarzem Bühnenhintergrund bewegen sich die Tänzer zum starken Rhythmus von Frank Martin in großen, raumgreifenden Bewegungen, immer im Blickkontakt zueinaner. aber in Konfrontation der Geschlechter. Vier Paare, die einander in verschiedenen Stadien von Zu- und Abneigung begegnen. Auffallend sind die fordernden Figuren der jeweiligen Pas de deux – Paare zu der starken Musik!! Die interessanten Kostüme (Keso Dekker) erwecken den Eindruck, die Tänzer treten nur in Körperbemalung auf.

In the middle, somewhat elevated“. Elektronische Musik von Tom Willems. William Forsythe zeichnet für Choreographie, Bühne, Licht, Kostüme. Mit dieser Choreographie hat Forsythe gewaltig die Welt des Tanzes verändert.

Die vergoldeten Kirschen, die kaum als solche erkennbar von der Decke hängen, haben keine symbolische Bedeutung – sie waren eine Verlegenheitslösung. Gleichsam die Ironie pur auf jegliches Bühnenbild. Denn nichts sollte vom Tanz ablenken. Es beginnt in völliger Finsternis, plötzlich heftige Donnerschläge, ein Blitz erleuchtet die in grüne, körpernahe Kostüme gekleideten Tänzer und Tänzerinnen. Mit Wucht schlägt die Musik auf Tänzer und Publikum ein – der Boden unter den Füßen erbebt bei jedem Schlag. Da drehen sich keine zarten Elfen und Geister, sondern wuchtige Maschinenmenschen. kraftgesteuert durch die Hammerschläge der Musik. Zwei bis drei Grundbewegungen bestimmen im ersten Drittel das Geschehen. Dann explodieren Paare in spannungsgeladenen Figuren, auffallend anders Davide Dato, den man bisher eher klassisch kannte. Atemlos – das ist wohl der treffende Ausdruck – sieht das Publikum die geballte Gewalt des Tanzes.

„Brahms-Schoenberg Quartet“ (Arnnold Schönberg bearbeitete das Klavierquartett Nr.1 von Johannes Brahms für Orchester)

Einen größeren Gegensatz zu Forsythe gibt es kaum. Man kann es nicht fassen! Da tanzen Ballerinen im eleganten, weißen Tüllröckchen und die Prinzen dazu natürlich im silbrig weißen Wams. Auffallend sexy ist übrigens das Kostüm von Davide Dato, der die Hauptpartie tanzt (Kostüme: Vera Richter). Die Szenerie spielt, wie es sich für ein romantisches Ballett à la Russe gehört, vor einer Schlosskulisse. Allerdings ähnelt es einem Gruselschloss: Schwarze, leere Fensterhöhlen, die Mauern grau-schwarz. Aber dennoch glaubt man sich im „Nussknacker“ oder „Schwanensee“. Man sieht alle beliebten Ballettfiguren, Sprünge, Hebefiguren – halt das ganze klassische Repertoire. Ein Teil des Publikums scheint ganz verzückt danach gewesen zu sein und dankt mit standing ovations. Ein anderer Teil war ein wenig verwirrt – nach Forsythe diese Tüll- und Romantikchoreographie!? Natürlich war es die Absicht Martin Schläpfers, den Bogen von der russischen Klassik bis in die krasse Moderne zu zeigen. Aber nach Forsythe Balanchine – mir erschien das ein wenig unfair. Es war auf jeden Fall ein Abend, an dem der Ballettdirektor die großartige leistung des Wiener Ballettensembles demonstrieren konnte. Das Publikum dankte ihm sehr dafür. Sonderapplaus bekam auch der Dirigient Mattew Rowe, der sehr einfühlend die Tänzer durch die Musik von Martin und Brahms lenkte.

www.wienerstaatsballett.at

Leopold Museum: Gabriele Münter Retrospektive

„Gabriele Münter (1877–1962) war weit mehr als die „Frau an der Seite Kandinskys“. Durch Ausstellungen und Publikationen, insbesondere jene der vergangenen zwei Jahrzehnte, findet sie breite Anerkennung als eine der führenden Protagonist*innen der deutschen Avantgarde. Nun würdigt das Leopold Museum als erste Institution in Österreich ihr Werk im Rahmen einer umfassenden Personale. In zwölf Themeninseln wird die expressionistische Malerin auf ihren Lebensstationen begleitet, die oft mit jeweiligem Stilwechsel oder lebhaftem Interesse an unerprobten Techniken und Sujets koinzidierten.“ (Pressetext)

Die Wände der Ausstellung sind in Blau gehalten, gerade so wenig oder sos viel blau, dass es nicht von den Bildern ablenkt, sie nur angenehm umrahmt. „Angenehm“ ist gleich das passende Attribut für die ganze Ausstellung – kleines Manko: Die Texte neben den Bildern in Minischrift verleiten nicht zum Lesen. Schade!

Farbinstensität und klare Formensprache sind Gabriele Münters Merkmal. Wie sie sich von männlichen Einflüssen freizukämpfen versucht, sich von ihrer Formensprache abbringen lässt, dann doch immer wieder zu sich und ihrem inneren Credo zurückfindet, das wird in der Ausstellung deutlich. Wassily Kandinsky- zuerst Lehrer, dann langjähriger Weggefährte – sucht sie immer wieder von der reinen Abstraktion zu überzeugen. Doch die Versuche in dieser Richtung bleiben Versuche. Auch im Stil der „neuen Sachlichkeit“ versucht sie sich und die Ergebnisse sind beeindruckend. Während des Nationalsozialismus lebt sie mit ihrem neuen Gefährten und späteren Ehemann Johannes Eichner ziemlich unbeobachtet und unbehelligt in Murnau. Unter seinem „Diktat“ sollen möglichst dem Geschmack der Nazis angepasste Bilder entstanden sein. Einige sieht man in der Ausstellung – das war nie ihr Stil. Versuche von Männern, wie Wassily Kandinsky oder Johannes Eichner – auf ihren Malstil Einfluss zu nehmen, werden von ihr nur mit Vorbehalt ausprobiert, um doch dann zu ihrem eigenen Stil zurückzukehren.

Ihre Bilder sind von einer Art „unbeschwerten“, fast „naiven“ Abstraktion und gerade deshalb, in dieser Mitte zwischen Realität und abstrakter Phantasie, heute noch viel ansprechender als je zuvor. In einer Zeit der Digitalisierung der Kunst, in der es entweder um Fake-Kunst oder um Darstellung einer Welt außerhalb des eigenen Denkens geht, tut es richtig gut, sich auf diese Bilder voller Farben-. Lebensfreude und Spiel mit der Realtiät einzulassen. Dass die reine Abstraktion ein Versuch war, zeigt das Bild rechts wohl deutlich.

Die Ausstellung ist noch bis 18. Februar 2024 zu sehen.

www.leopoldmuseum.org

Albertina modern: Herbert Böckl-Oskar Kokoschka – Eine Rivalität

„Die Ausstellung Herbert Boeckl – Oskar Kokoschka. Eine Rivalität zeigt zwei der bedeutendsten österreichischen Künstler des Expressionismus. Präsentiert werden mehr als 100 herausragende Arbeiten auf Papier, eine Auswahl aus den reichen Beständen der ALBERTINA.“ (Zitat aus Ausstellungstext)

Der Zusatztitel ist nicht ganz einsichtig. Rivalen waren die beiden Künstler nie, höchstens hatten ihre Werke manchmal zeitbedingte Ähnlichkeiten, aber nicht mehr. Beide sind in ihrer künstlerischen Veranlagung nur auf den ersten Blick ähnlich – und daher, wenn man so will Rivalen. Aber schon die Fotos beider und ihre Biografie machen deutlich, wie sehr ihre Entwicklung auseinandertriftet.

Kokoschka – ein Wilder, Unangepasster, einer dessen Bilder von den Nazis als entartete Kunst verboten wurden. Er emigriert und kehrt erst nach Ende des Zweiten WEltkriegs zurück. Böckl bleibt, er hat ja eine große Familie, tritt der NSDAP bei, verschweigt es, verliert kurzfristig seinen Posten an der Akademie der bildenden Künste in Wien, wird aber in den späteren Jahren ebenda Lehrer und Direktor. Als Lehrer war er – so die Erzählung meines Vaters, der in seiner Klasse war- unerbittlich. Eigenwilligkeit war nicht gefragt. Und so sehe ich in der Ausstellung Böckls Spuren in den Bildern meines (verstorbenen) Vaters.

Die Unterschiede zwischen Kokoschka könnten nicht größér sein.

Die Augen der beiden Porträts sagen viel über den Maler aus: Kokoschka zeichnet tiefliegende Augen, voller Verzweiflung oder zumindest Zweifel Böckl malt sich selbst als einen Glücklichen. Die Pinselstriche sind gelassen, unaufgeregt – ich habe im Atelier meines Vaters viele ähnlich ausgeführte Porträts gesehen: Ein ruhiger Hintergrund, oft im ähnlichen Braun, das Gesicht fest und klar.

www.albertina.at

Herbert Lackner, Als Schnitzler mit dem Kanzler stritt. Verlag Ueberreuter.

Eine politische Kulturgeschichte Österreichs

Im Kreuzungspunkt zwischen Politik und Kultur gab und gibt es Konflikte. Oft mit tödlichem Ausgang, natürlich für die Künstler, im besten Fall „nur“ Konfrontation. Herbert Lackners Interesse und schriftstellerischer Fokus liegt auf diesem Kreuzungspunkt. Mit akribischer Recherche deckt er Hintergründe und Auswirkungen auf. In dem Buch „Als die Nacht sich senkte“ schreibt er über die Anfänge, als Künstler , besonders jüdische, in der Zwischenkriegszeit mit Anfeindungen zu kämpfen hatten. Im zweiten Band „ Die Flucht der Dichter und Denker“schildert er die Schicksale der Künstler, die dem Naziregime entkamen. Wie ernüchternd für viele die Rückkehr nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in die Heimat war, beschreibt Lackner in dem Band „Rückkehr in die fremde Heimat“

Nun ist also der vierte Band erschienen: „Als Schnitzler mit dem Kanzler stritt“. Als Vollprofijournalist findet Lackner immer attraktive Titel, wie eben auch diesen. Das Streitgespräch fand 1928 im Kanzleramt statt. Ignaz Seipel hatte einige Künstler, darunter auch Arthur Schnitzler, zu einer Diskussion über die Verschärfung des „Schmutz- und Schundgesetzes“ eingeladen. Dabei kam es zu einem heftigen Streit zwischen Seipel und Schnitzler, in dem Schnitzler einem Politiker grundsätzlich die Urteilsfähigkeit über Kunst abspricht. Und genau diese Frage ist das grundlegende Thema des Buches. Lackner zeigt auf, wie sich Politik immer wieder der Kultur und der Frage, was als Kultur gelten darf, bemächtigt. Vor allem deckt Herbert Lackner Hintergründe auf, von denen man bisher nichts wußte, etwa wie viele ehemalige Nationalsozialisten es „sich richten konnten“ und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wieder politische Karriere machten.

Lackner spannt den Bogen von Schnitzlers „Reigen“ bis zum heftig angefeindeten „Heldenplatz“ von Thomas Bernhard und endet bei den heftig umstrittenenen Aktionen rund um „woke“ und „kulturelle Aneignung“. Die Gefahr, Kultur als Politikum zu missbrauchen, ist immer virulent. So gesehen, liest sich das Buch als Aufruf zur Wachsamkeit. Als Leser stellt man sich am Ende die heikle Frage, wo man sich selbst einordnet – als reaktionär? – Nur weil man vielleicht manches nicht gutheißen kann?! Gehört man zu den Rechten, den „ewig Gestrigen“, weil man Gendern und Regietheater lächerlich findet?

www.ueberreuter.at

Musikverein Wien: Andrè Schuen, Lieder von Schubert und Mahler

Am Klavier: Daniel Heide

Andrè Schuen ist auf dem internationalen Musikparkett längst kein Unbekannter mehr. 2023 sang er in der Wiener Oper und bei den Salzburger Festspielen in Mozarts „Le nozze di Figaro“ beide Male den Grafen Almaviva und jüngst war er als Schwanda, der Dudelsackpfeifer im Museumsquartier (Theater an der Wien) in einer wenig geglückten Inszenierung zu erleben. Man spürte ganz deutlich, dass ihm diese Rolle nicht behagte.

Strahlkraft und Sinnlichkeit seiner Stimme kommen am besten im Liedgesang zur Geltung. In der congenialen Begleitung des Pianisten Daniel Heide war er im Frühjahr im Konzerthaus mit seiner Interpretation der „Schönen Müllerin“ von Franz Schubert zu hören. Ein tiefes Erlebnis, das in Erinnerung bleibt.

Nun also am 16. Dezember im ausverkauften Brahmssaal des Musikvereins. Vom ersten Ton an lebt Schuen in der Musik, steigt tief in das Lied ein, lässt sich auf die existentielle Ebene ein, begleitet von dem sensiblen Pianisten Daniel Heide. Am Beginn standen die „Vier Lieder eines fahrenden Gesellen“. Darf man heutzutage noch den Begriff „Inbrunst“ verwenden? Egal – Schuèn sang sie mit Inbrunst, drang mit seinem vollen, weichen Bariton bis in die Tiefen der Existenz ein. Mit Mut zur Dramatik sang er das Universum Mahlers, besonders intensiv etwa das Lied „Ich hab`ein glühend Messer“ , bei dem sein Bariton tief in den Bass hineinreichte. Mt der Auswahl der Mahler- und Schubertlieder bewies Schuen das Gespür für die tiefe Tragik, die beide Liedkomponisten miteinander verband. Auch Querverweise und Übergänge von einem Komponisten zum anderen wurden deutlich.

Für Schubertlieder ist Schuens Vortragskunst ganz besonders ideal. Mit der sensiblen Klavierbegleitung Daniel Heides und seinem samtig-weichen Bariton gestaltetet er die Lieder zu einem Lebensbild des Komponisten, lässt vergebliche Hoffnungen und flüchtiges Liebesglück spürbar werden.

Ein großer, berührender Abend abseits des allgemeinen Musik- und Medienrummels!! Als Zugabe sang Schuen zuletzt ein ladinisches Volkslied aus seiner Heimat Südtirol. Langer, begeisterter Applaus!

www.andreschuen.com und www.musikverein.at

Volksoper Wien: „Lass uns die Welt vergessen“ Volksoper 1938

Ein Auftragswerk zum 125. Geburtstag der Volksoper Wien. Buch von Theu Boermans unter Verwendung der Operette „Gruss und Kuss aus der Wachau“ von Jara Benes, Hugo Wiener, Kurt Breuer und Fritz Löhner – Beda

Karen Kagarlitsky dirigiert die Originalmusik der Operette, sowie zusätzlich Musik von Arnold Schönberg, Viktor Ullmann, Gustav Mahler und eigene Kompositionen.

Selten noch hat eine öffentliche Institution so akribisch, ehrlich und aufwühlend die eigene NS-Vergangenheit beleuchtet. Dem Dreigespann Theu Boermans (Inszenierung), Bernhard Hammer (Bühnenbild) und Anjen Klerks (Video) gelang ein beeindruckendes Gesamtkunstwerk. Mit dem Spiel auf drei Ebenen, die der Probenarbeit zur Operette, zeitgleich mit dem politischen Geschehen „draußen“ und dem Einblick in die Privatatmosphäre aller Beteiligten entstand eine minutiöse Zusammenschau zeitgleicher Ereignisse, die einem manchmal den Atem verschlug.Wie oft hat man schon die Geschichte um den Einmarsch der Hitlertruppen, den Auftritt Hitlers auf dem Heldenplatz und die jubelnden Massen in kurzen Wochenschauausschnitten gesehen! Und wie oft schon davon gehört, gelesen. An diesem Abend jedoch wird man miteinbezogen. Man sieht Hitler am Heldenplatz, die jubelnde Menge und davor die Menschen, die in Furcht ihre Abreise vorbereiten. Starke Szenen wie die, in der die Witwe Bründl (Ulrike Steinsky) die Schönheit der Wachau besingt und sich der jüdische Souffleur Osip Rosental erhängt (beeindruckend Andrea Patton), wird man so schnell nicht vergessen. Während Österreich Schritt für Schritt seine Unabhängigkeit verliert – ebenfalls in Videos eingespielt-, deklariert sich die Hälfte des Volksopernensembles als begeisterte Nazis und übernimmt die Führung im Theater. Nun heißt es: Widerstand oder sich fügen. Wie entscheiden sich die einzelnen Mitglieder? Schnell heißt es : Kunst geht über Politik. Dass aus dem heiter-witzigen Operettenstück im Laufe der Proben unter Naziführung bald der größte Kitsch wird, kann man plastisch miterleben. Ein starkes Ende lässt das Publikum erstarren: Vorne spielen sie das ktischig-fröhliche Finale der Operette, im Hintergrund sehen die K-Insassen auf die unbekümmert – heitere Szenerie herab. Aus dem Off singt Hugo Wiener, der nach Bogotà fliehen konnte: „Im Prater blühen wieder die Bäume“. Der begeisterte Applaus galt den durch die Bank hervorragenden Leistungen der Schauspieler, vor allem aber dem Team der Inszenierung und der Dirigentin. Nicht unerwähnt bleiben soll die akribisch wissenschaftliche Aufarbeitung und Hilfe von Marie Theres Arnbom, Direktorin des Österreischischen Theatermuseums. Das ausgezeichnete Programmheft liefert viele zusätzliche Hintergrundinformationen zur Entstehung des Stückes und zu biografischen Details der an der Operette beteiligten Künstler. Und einmal mehr muss dankbar angemerkt werden: Es ist eine Aufführung frei von didaktischem Erziehungswillen.

www.volksoper.at

Jennifer Ackerman: Die geheime Welt der Vögel.

Untertitel: „Wie sie denken, spielen, sprechen und ihre Kinder erziehen. Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel.

Illustrationen von John Burgoyne

Jennifer Ackerman ist eine weltweit anerkannte Ornithologin. Sie erforscht die Welt der Vögel, ohne sie zu vermenschlichen oder zu verniedlichen. Ihre Forschungsergebnisse hat sie in mehreren Büchern veröffentlicht. In ihrem letzten Werk schreibt sie zwar darüber, wie „Vögel denken, spielen oder sprechen“, aber es folgen keine „lieben“ Geschichten, die man den Kindern am Abend vorliest, sondern faktenbasierte ERgebnisse langer und ausführlicher Beobachtungen. Bei jedem einzelnen Thema, zum Beispiel „Mobbing“ oder „Alarm“, bescheibt sie die für diese Aktion in Frage kommenden Vogelarten. So greifen zum Beispiel Krähen von oben an, Möwen sind besonders fies: sie bekoten ihren Gegner, bis dieser sich nicht mehr rühren kann. Alle Beobachtungen werden in wissenschaftlicher Sprache abgehandelt, aber immrt wieder mal durch witzige Neuigkeiten aus der Vogelwelt aufgelockert. Der Laie wird sich über diese Passagen freuen, der Kenner die wissenschaftlichen Informationen aufsaugen.

Eine ausführliche Literaturliste und ein abundantes Register sind bei der Suche nach spezifischen Themen sehr hilfreich.

www.ullstein.de

SCALA: „Play Strindberg“ von Friedrich Dürrenmatt nach dem „Totentanz“ von August Strindberg

Inszenierung: Babett Arens. Raum: Marcus Ganser. Kostüm: Sigrid Dreger. Musik: Alexander Lutz

In der bekannten großartigen Sicht auf sich und sein Werk meinte Friedrich Dürrenmatt, Strindberg sei ein Genie gewesen, aber heute „sei er literarisch total veraltet“ (Zitat Programmheft)., Also schrieb er den „Totentanz“ so um, dass „fast kein Strindbergsatz mehr übrig geblieben ist“ (Zitat Programmheft). Dem Ehekrieg nahm er die Tragik und formte ihn zu einer bitterbösen Komödie um. Gleichsam wie in einem Boxkampf gehen die Eheleute aufeinander los, schlagen sich gegenseitig knock out, kehren wieder in den Ring zurück. bereit für die nächste Runde.

Konsequent hat Marcus Ganser diese Idee vom Boxkampf umgesetzt und die Schauspieler in einem hohen Maschenkäfig agieren lassen. Jede Runde wird an- und abgepfiffen. Der Nachteil dieser Idee: sie nützt sich nach 6-7 Runden ab und zersägt den Fluss der Dramatik. Die Schauspieler holen aus diesem Konzept das Beste raus, was möglich ist. Allen voran Thomas Kamper als Ekel Edgar. Er hat ja schon in vielen Inszenierungen in der Scala reüssiert, unter anderem im „Tod eines Handlungsreisenden“ oder in der „Liebelei“. Als widerwärtiger Ehemann Edgar, der seine Frau herumkommandiert und sie zur unbezahlten Hausmagd degradiert, ist er richtig gut grauslich. Wie ein Stehaufmandl ist er nach einem kurzen Scheintod immer wieder da und triumphiert über sie. Er ist der verkörperte Philister und Heuchler, dem man als Zuschauer den baldigen Tod wünscht. Vanessa Payer Kumar hat es schwer, als Alice neben ihm sich zu behaupten. Sie ist eher eine elegante, leicht resignierende als widerliche Ehefrau. Ihre Stärke ist das Wort, das sie über ihn ausspeit, wenn er am Boden liegt: „Stirb endlich, aufs Gartenbeet mit dir!“ Aber er sirbt nicht und nicht. Am Ende triumphiert sie über ihn, füttert den Gelähmten, der nur mehr unverständliche Sprachbrocken ausspeien kann. Zwischen diese beiden Kampfhähne gerät der Besucher von draußen – Kurt. Alexander Lutz ist in dieser Rolle perfekt: Eleganter Hochtapler, Verführer, der aber im entscheidenden Moment die um ihn buhlende Alice abblitzen lässt und die Kampfhähne ihrem Schicksal überlässt. Außerdem rundet er mit seiner Musik das Geschehen ab.

Ob aus dem „Totentanz“ Strindbergs wirklich eine Komödie wurde, wie Dürrenmatt meinte, diese Frage mag jeder für sich beantworten. Eine Zuseherin hat sich offenbar wirklich amüsiert, ihr Lachen war nicht zu überhören. Die Orgie des Hasses wirkte eher schockierend.

Gespielt wird jeweils Dienstag bis Samstag um 19.45h vom 12.12. bis 22.12. 2023.

http://www.theaterzumfuerchten.at

Theater Akzent: The Tiger Lillies‘ Christmas Carol: A Victorian Gutter

Martyn Jacques: Erzähler, Akkordeon, Klavier. Adrian Stout: Scrooge, Bass, diverse Instrumente wie singende Säge, Budi Butentop: Percussion und Gesang

Die Geschichte vom Geizhals Scrooge und seiner Verwandlung in einen Menschenfreund hatte 2021 in London Première und war gleich ein Riesenerfolg. Ebenso im ausverkauften Theater Akzent. Das Bühnenbild war eine Mischung aus Marionettentheater und Cabaret und zauberte Weihnachtsstimmung mit Augenzwinkern in den Saal. Die drei Sänger erinnerten an Figuren aus Brechts „Dreigroschenoper“. Martyn Jacques als genialer Bänkelsänger erzählte die Geschichte, mal begleitete er sich am Klavier, mal mit dem Akkordeon. Mit beißendem Humor – so weit man den Text mitbekam – erzählte er von den hungernden Straßenkindern in London, von der menschlichen Kälte des Geizhalses, die erst schmilzt, wenn ihm Sterben in totaler Einsamkeit angedroht wird. Alles ohne didaktischen Unterton, die „Moral von der G´schicht“ war in pures musikalischens Vergnügen verpackt. Man schmunzelte, forschte aber zugleich in seinem Innersten nach, wie es da um die eigene Menschenfreundlichkeit steht.

Das Publikum dankte mit frenetischem Applaus und standing ovations. So manche einer – wie auch die Schreiberin dieser Zeilen – hätte sich Übertiteln gewünscht. Denn man konnte das meiste nur erraten, der feine, hinterlistige Humor der Gruppe blieb leider oft auf der Strecke.

http://www.akzent.at

Ilona Jerger, Lorenz. Piper Verlag

Konrad Lorenz entwarf mit seiner „Vergleichenden Verhaltensforschung“ ganz neue Sichtweisen auf die Welt der Tiere. Seine Vergleiche Tier-Mensch fanden nicht immer die Zustimmung in der Welt der Wissenschaft. Und seine Parteizugehörigkeit zur NSDAP hat er lange verschwiegen, was man ihm schon zu Lebzeiten übel nahm. Dennoch waren die Österreicher mächtig stolz auf ihn, als er 1973 den Nobelpreis erhielt.

Über ihn erschienen schon zu Lebzeiten viele Artikel, seine Bücher erregten Aufsehen. Nun hat sich Ilona Jerger mit dieser schillernden Persönlichkeit befasst und nach langen Recherchen eine interessante, humorvolle und immer spannend geschriebene Biografie vorgelegt. Wobei sie betont, keine reine Biografie verfasst zu haben, sondern eher eine Romanbiografie. So erlaubte sie sich Details einzuflechten, die vielleicht so hätten stattfinden können, für die es aber keine Beweise gab. Sie führt auch in Ichform eine Tierforscherin ein, die den Spuren ihres großen Vorbildes nachgeht. Dieser erzählerische Kapriole wäre allerdings nicht notwendig gewesen, sie verwirrt eher.

Konrad Lorenz‘ Leben (1903-1989) spiegelt die Geschichte des 20. Jahrhunderts wider.Nach seinem Medizinstudium widmet er sich als Privatgelehrter der Tierforschung und richtet 1926 auf dem Grund es elterlichen Anwesens in Altenberg bei Wien eine zoologische Forschungsstätte ein. Er beobachtet Gänse – die Gans Martina geht in die Geschichte ein -, Vögel, Hunde, eben alles, was um ihn herum kreucht und fleucht. Als er sich der nazionalsozialistischen Ideologie andienert, bekommt er einen Lehrstuhl in Königsberg. Doch bald wird er eingezogen, als Arzt an die Ostfront geschickt und von den Russen gefangen genommen. Doch auch in der Gefangenschaft setzt er seine Tierbeobachtungen fort. Dank seiner medizinischen Kentnisse kann er vielen Kameraden das Leben retten. Nach sechs Jahren Gefangenschaft wird er freigelassen und kehrt nach Altenberg zurück. Sein Ruhm als Forscher verbreitet sich, 1950 leitet er die Forschungsstelle für Vergleichende Verhaltensforschung, später wird er Direktor des Max-Planck-Institutes für Verhaltensphysiologie am Eßsee in Oberbayern. Mit steigendem Ruhm werden die Stimmen gegen ihn immer lauter, seine NS -Vergangenheit kommt ans Licht. Doch unbeirrt arbeitet Lorenz weiter, schreibt Bücher, engagiet sich im Umweltschutz – Hainburg. Er bleibt bis zu seinem Tod der berühmte Mann, der mit den Gänsen, Fischen und Vögeln sprach.

Ilona Jergers Buch ist keine trockene Biografie. Mit vielen interessanten und humorvollen Details gelingt es ihr, den Menschen Konrad Lorenz den Lesern nahe zu bringen. Dabei beschönigt sie nichts, zitiert aus Briefen und Vorträgen reichlich unangenehme Zitate, die Lorenz als glühenden Verfechter der Rasssentheorie ausweisen. Seitenhiebe und Details rund um das Hitlerregime verblüffen – etwa, die Tatsache, dass Hitler nicht einschlafen konnte. Erst wenn sein geliebter Schäferhund mit ihm einen Schlafgesang anstimmte, dann fand der Neurotiker einigermaßen Ruhe. Geschichten über den schrulligen Philosophen Heidegger, den Dichter Celan oder Willy Brandt beleuchten die politischen und kulturellen Entwicklugen..

„Lorenz“ von Ilona Jerger ist ein lebendig geschriebenes, interessantes Buch, ohne moralisierende Überlegungen. Die intensive Recherche macht sich nicht als lästiger Überhang breit, sondern wird geschickt in die Handlung eingebaut.

www.piper.de

Wiener Konzerthaus: Plattform K & K Vienna. Fatma Said: „A Sense of Mosaic“

K&K steht für Kirill Kobantschenko, den Primgeiger der Wiener Philharmoniker und Gründer der Plattform, die sich als „Hommage an die kaiserlich-königliche Musiktradition versteht“ (Zitat aus Programm). Kirill Kobantschenko: Violine, Petra Kovacic Violine, Michael Strasser Viola, Florian Egger, Violoncello, Bartosz Sikorsi Kontrabass, Christoph Eggner Klavier.

Fatma Said, geboren in Kairo, erhielt schon zahlreiche Auszeichnungen in der Kategorie Lied und ist auf dem Weg zu einer internationalen Karriere. In der Saison 2023/24 ist sie Porträtkünstlerin des Wiener Konzerthauses. Das Programm war voller Überraschungen. Die größte Überraschung aber war die junge Sängerin! Mit ihrem warmen Sopran, der in den Tiefen wie in den Höhen gleichermaßen rein und verführerisch klang, bezauberte Fatma Said sofort das Publikum.

Zum Auftakt gab es von Richard Strauss die Suite „Der Rosenkavalier“, bearbeitet von der Plattform K&K Vienna. Mit ungezähmter Spielfreude überschütteten die Musiker das Publikum mit den bekannten Motiven aus besagter Oper und gaben damit auch das Thema des Abends vor: heitere Melancholie. das Lebensgefühl um 1900. Fatma Said „sang sich ein “ mit Liedern von Brahms (Ophelia Lieder). Mit „Violons dans le soir“ von Camille Saint-Saens verführte sie das Publikum mit ihrem weichen Sopran, der bis ins Mezzo reicht. Mit ihrem romantisch – minimalistisch, fein ziselierenden Stil formte sie aus jedem Lied eine Miniatur-Kostbarkeit. Dies kam besonders stark in dem Lied des ägyptischen Komponisten Sherif Mohie El Din „Against whom?“ zur Geltung. Von Pianissimi steigerte sie sich zu klangvoller Dramatik. Im Lied „Les chemins de l‘amour" von Francis Poulenc erklangen die „chemins de l’amour“ wie hauchzarte Liebesversprechen. Zum Abschluss sang Fatma Said zwei Songs von George Gershwin: „Sommertime“ und „By Strauss“ und zeigte sich von der humorvollen Seite.

Die Musiker der K&K Plattform Vienna spielten mit vollem Steicherklang von Ottorino Respighi die Suite Nr.3, übten sich in einem Tango von Astor Piazzolla: „Invierno porteno“ – wobei man ein wenig das Bandoneon vermisste – und griffen in die volle Dramatik bei den 3 Stücken von Manuel de Falla „Introduccion“, „El sombrero de tres picos“ und „Danza ritual del fuego“.

Als Zugabe sang Fatma Said den bekannten Song „Somewhere over the Rainbow“ von Harold Arlen.

Man darf auf die nächsten Liederabende mit Fatma Said am 11. und 29. Jänner 2024 im Wiener Konzerthaus gespannt sein.

www.konzerthaus.at

Daniel Kehlmann, Lichtspiel. Rowohlt

Warum ausgerechnet ein Roman über G.W.Pabst? Er war ein Gigant der Stummfilmzeit, einer der ganz Großen, an den sich aber heute kaum jemand mehr erinnert – außer Kenner der Stummfilmzeit. Aber wenn Daniel Kehlmann diese Figur ins Zentrum eines 450 Seiten starken Romans stellt, dann hat er gute Gründe. Die zu entdecken ist für den Leser nicht immer einfach.

Die ersten 80 bis 100 Seiten wirken wie ein schnell hingeschriebenes Filmskript: Personen wechseln im raschen Schnitt, kaum erkennbar. Pabst in Hollywood: niemand kümmert sich mehr um den einst Großen Pabst, er ist frustriert und will nur eines: Filme machen, und zwar gute, herausragende. Längst sind seine Erfolgsfilme wie „Die freudlose Gasse“ (mit Greta Garbo und Wener Krauß, 1929 in Deutschland) vergessen. Ein alarmierender Brief seiner Mutter ruft ihn und seine Frau Trude 1939 von Hollywood nach Österreich zurück. Ab diesem Abschnitt beginnt der Roman Fahrt aufzunehmen, man glaubt zu verstehen, was Kehlmann in dieser Figur eines naiven, zum Bleiben gezwungenen „Rückkehrers“ aufzeigen wollte: Österreich hat sich dem Hitlerdeutschland angeschlossen. Der Nazionalsozialismus blüht und gedeiht. Im eigenen Haus (Schloss in der Steiermark) wird die Familie Pabst bespitzelt. Doch er scheint von der politischen Lage unbeeindruckt zu sein – er will nur Filme drehen- Und er lässt sich in als Galionsfigur vor das Hitlersche Propagandasystem spannen. An diesem Punkt bleibt Kehlmann der Figur einiges schuldig: Aus demr Drang, künstlerische Filme zu machen, scheint Pabst blind für die das politische Geschehen um ihn herum zu sein. Die Frage, ob Kunstauftrag oder der Wille, sich künstlerisch zu verwirklichen, die Kompromisse rechtfertigen. die ein unter den Nazis arbeitender Künstler eingehen muss, bleibt unbeantwortet, besser gesagt: unbewertet. Vielleicht stellt Kehlmann die Frage an den Protagonisten überhaupt nicht – aus dem einfachen Grund, keinen moralisierenden Roman schreiben zu wollen. Er überlässt das Urteil darüber dem Leser. Am Ende des Romans ist die Antwort nicht eindeutig klar. So viel Blindheit glaubt man der Hauptfigur – und daher dem Autor – nicht. Dennoch ist der Roman lesenswert, spannend geschrieben, wenn auch durch häufige Wechsel der Erzählperspektiven manchmal ärgerlich modisch.

www.rowohlt.de

Wiener Staatsballett an der Volksoper: „the moon wears a white shirt“ Drei Choreographien

Titelfoto: „Ligeti essays“ Ensemble

Drittes Klavierkonzert von Alfred Schnittke, Choreographie Martin Schläpfer. Musikalische Leitung aller drei Werke: Christoph Altstaedt

©Ashley Taylor. Mila Schmitt und Gabriele Aime

Fast könnte man sagen: Eine typische Schläpferchoreographie. Es sind die vertrauten Bewegungen mit neuer Musik und neuem Kontext: Mila Schmitt tanzt, wenn man so will, eine Frau auf der Suche nach Beziehungen, Begegnungen. Sie ist eine sensible Sucherin, tanzt wie eine Feder durch den Raum, schwerelos. Begegnungen können harmonisch sein, aber auch unerträglich – so steigt sie auf den Rücken ihres Partners, vorsichtig, aber besitzergreifend und stülpt ihm dann einen schwarzen Schleier über. Völlige Vereinnahmung? Alles ist nach vielen Richtungen deutbar: Kampf der Geschlechter, Annäherung, Abstoßung. Wundervoll getanzt von Mila Schmitt und Gabriele Aime und dem Ensemble der Volksoper.

Musik György Ligeti: „ligeti essays“. Choreographie: Karole Armitage. Gesang: Stephanie Maitland, Annelie Sophie Müller, Birgid Steinberger

©Ashley Taylor: ligeti essays. Ballettensemble Volksoper

Temperatur und Temperamentänderung nach der Pause. Karole Armitage ist eine aufmüpfige Choreographin, sie nennt sich auch gerne „Punkballerina“. Ihr Credo: Tanz in allen möglichen Erscheinungsformen. Eleganz ist gestern, Muskel und durchtrainierter Körper sind gefragt. Die Musikauswahl passt zu dieser temeramentvollen Lady: Ligeti vertonte ungarische Lieder, die ziemlich nach Da-Da klingen – der Text ist in deutscher Übersetzung im Programmheft nachzulesen. Lieder mit Pfeifen, Trommen und Schilfgeigen. Eines der Lieder ist nicht übersetzbar, andere beginnen etwa so: Kuli Stock schlägt Kuli geht geht etc. Der Anfang eines dieser Lieder lieferte auch den Titel des Ballettabends: Es tanzt der Mond im weißen Hemd. Stephanie Maitland, Annelie Sophie Müller und Birgit Steinberger sangen die Lieder im ungarischen Original, was noch einmal mehr zum Humor und Witz dieser Choreographie beitrug. Es tanzten mit Verve und Körpereinsatz, Witz und Humor: Tessa Magda,Olivia Poropat, Una Zubovic,Riccardo Franchi, Aleksandar Orlic, Francesco Scandroglio, Felipe Vieira. Schlagzeug und Blasinstrumente diversester Ausformungen kamen voll zum Einsatz. Fazit: Ligeti und Armitage sind eine congeniale Kombination!

„dandelion wine“ – Musik: Concerto für Violine und Orchester von Pietro Locatelli, Choreograpie: Paul Taylor.

©Ashley Taylor: Ballettensemble Volksoper

Mit der Übersetzung des Titels „Löwenzahnwein“ ist das Thema dieser Choreographie schon klar: Es geht um Frühling – daher die Kostüme von Santo Loquasto in Pastellfarben, der Hintergrund im strahlenen Blau. Die Tänzer werden zu Kinder, die spielerisch den Frühling begrüßen: Reigentanz, angedeuteter Cancan, alles frei und unbeschwert. Dazu geigt Vesna Stankovic virtuos auf. Der Gegensatz zur seelenschweren Choreographie Schläpfers ist sicher beabsichtigt.

Das Publikum bedankte sich nach jedem Stück mit begeistertem Applaus bei dem Tanzensemble, dem Dirigenten Christoph Altstaedt, Gesangsolisten und den Solisten des Orchesters. Ein gelungener Abend!

www.wiener-staatsballett.at/volksoper

Charles Lewinsky, Rauch und Schall. Diogenes

Ein literarisches Kleinod! Ein Tortenstück, das man gierig auf einen Sitz verschlingen möchte. Aber man weiß zu genießen und teilt sich die Stücke/Seiten ein. Nach 30, maximal 40 Seiten schlägt man das Buch zu, um am nächsten Tag auch noch in den Genuss dieser intelligenten Lektüre zu kommen. Und wenn man es zu Ende gelesen hat, dann ist man ein wenig traurig. Ein kluger, witziger Begleiter hat sich gerade verabschiedet.

Charles Lewinsky ist ein brillanter Erzähler. Wie ein Sprach-Gaukler schlüpft er in die Sprache der Goethe- und Weimarerzeit hinein, ohne alterzutümeln. Er kennt sich aus mit all den Hochwohlgeborenen und den nur Wohlgeborenen, die mit leeren Worthülsen, Eifersüchtelein und dummen Spielen den Tag verbringen. Lewinsky persifliert Sprache und Atmosphäre des Weimarer Hofes auf perfid-witzige Art. Goethe, der sehr Verehrte, bleibt da nicht ungeschoren. Im Gegenteil, auf ihn richtet Lewinsky sein ironisches Sprachlorgnon.

Der gute, allseits verehrte Goethe hat eine heftige Schreibhemmung. Um die zu beheben, ist er in die Schweiz gereist, um sich von der imposanten Berglandschaft inspirieren zu lassen. Aber leider bekam er von der anstrengenden Reise in den unbequemen Kutschen statt Inspirationen Furunkeln und Hämorrhoiden. So kehrt er mißmutig nach Weimar zurück. Christiane Vulpius, zu dieser Zeit (es muss wohl um 1779 gewesen sein, genaue Daten gibt Lewinsky nicht an, um nicht den Anschein einer Biografie zu erwecken) noch offiziell seine Haushälterin, inoffiziell seine Geliebte, bereitet ihm einen liebevollen Empfang. Sohn August ist etwa sieben Jahre alt.

Heimgekehrt zieht sich Goethe Tage um Tage in sein Schreibzimmer zurück, doch die Blätter bleiben leer. Christiane versucht alles – wirklich alles -, um ihn aufzuheitern, aber ohne Wirkung. Als ihn dann noch der Auftrag ereilt, für Herzogin Amaliens Geburtstag eine Weihespiel zu schreiben, beginnt sein Dilemma. Mehr sei hier nicht verraten. – Lesen und Genießen empfehle ich allen, die mit Goethe, Christiane Vulpius und Weimar ein wenig vertraut sind. An wem diese Zeit der klassischen Literatur vorbeigegangen ist, der wird sich schwer tun, die Anspielungen und die dahinter versteckte Ironie vollinhaltlich zu genießen.

www.diogenes.ch

Theater an der Wien im Museumsquartier: Schwanda, der Dudelsackpfeifer

Musik: Jaromir Weinberger, Libretto: Milos Kares, Deutsch von Max Brod. Musikalische Leitung: Peter Popelka. Inszenierung: Tobias Kratzer, Bühne und Kostüm: Rainer Sellmaier, Video: Jonas Dahl und Manuel Braun

Es ist schon ein Kreuz mit den verschiedenen Bearbeitungen des Librettos. Ursprünglich war Schwanda ein Dudelsackpfeifer aus den böhmischen Landen, der den Menschen mit seiner Musik Fröhlichkeit bescherte. Weinberger und Kares verknüpften diese Legende mit der Geschichte vom Räuber Babinsky und brachten die „Volksoper“ 1927 mit Erfolg zur Uraufführung. Das Werk sollte in Zeiten des aufkommenden Nationalismus auf die Werte der Tradition hinweisen. Max Brod übersetzte das Libretto nicht eins zu eins, sondern tilgte alle Anspielungen auf tschechische Tradition und machte aus Schwanda, dessen Frau Dorota und Babinsky eine Dreiecksbeziehung. Die jetzige Inszenierung leiht sich dazu noch Ideen aus Schnitzlers „Traumnovelle“, so dass das ganze Werk nun eine nicht immer gelungene Mischung aus vielen Motiven ist, die zu entschlüsseln das Publikum ohne Hilfe nicht imstande ist. Deshalb auch die lange und sehr ausführliche Einführung vor der Aufführung. Doch sollte Theater, Musik an sich nicht ohne Erklärungen funktionieren? Vielleicht hat man zu viel gewollt…

Es beginnt mit einer langen Ouvertüre, in der noch gar nichts passiert. Die Musik ist heftig und verspricht Dramatik, neue Horizonte. Doch dann öffnet sich der Vorhang und gibt den Blick auf eine stincknormale Wohnung mit breitem Bett frei. Dort arbeiten sich gerade Schwandas Frau Dorota und der böse (Räuber?) Babinsky in heftigen Kopulationen aneinander ab. Dann tritt Schwanda ein—und: wirft den Rivalen nicht hinaus, sondern lädt ihn auf eine Pizza ein. Gut, dass alle drei ganz fantastische Sänger und Schauspieler sind, so übersteht man diese skurrile Szenerie leichter. Da ist allen voran Andrè Schuen – er meistert die schwierige Aufgabe, einen tumben Tor, eine Art Parzival, den nichts berührt, darzustellen. Sein weicher, klangvoller Bariton passt bestens in diese Rollenschattierung, die er das ganze Stück über nicht verlieren wird. (Es ist anzunehmen, dass viele unter den Zuschauern – unter anderem auch ich – seinetwegen gekommen sind.) Pavel Breslik macht als Verführer nicht nur eine elegante Figur, sondern betört auch durch seinen vollen Tenorklang. Den Verführer nimmt man ihm ab, den bösen Räuber gar nicht. Am schwierigsten ist die Rolle der Dorota. Sie soll dem Charme Bablinskys erliegen und zugleich Schwanda ihre Liebe gestehen. Mit ihrem hellen Sopran, der durchaus auch in der Höhe sicher ist, gelingt Vera-Lotte Boecker das mühlos. Obwohl sie die meiste Zeit in einem Art Baby Doll auf der Bühne herumläuft, kann sie in dieser Rolle überzeugen. Dann wirds komisch-tragisch und ganz und gar unlogisch. Nach einer langen Videofahrt durch Wien – vorbei an Liebedienerinnen und Pratersensationen – landet Schwanda bei einer gefühlsmäßig eingefrorenen Lady (Ester Palù) – sie soll wohl an die unbekannte Schöne aus Schnitzlers „Traumnovelle“ erinnern. Ein wenig zu vordergründig und fast ungeschickt verführt sie den armen Schwanda – der eigenltich gar nicht will. Dann wird es ganz wild: Dem armen Schanda droht der Tod mit dem Schwert. Henker ist einer der Mönche in roter Kutte und Maske (Traumnovelle). Dorota stürzt herein, fleht um Schwandas Leben, nützt nichts, aber Babitzky ist der Erlöser. Ein Erlöser in die Hölle, wo geilster Sex angesagt ist – das Video lässt keine Wünsche an Deutlichkeit offen – aber auch da zaubert Babinsky Schwanda heraus. Ende gut? Noch nicht ganz -vorher gesteht Babinsky Dorota im trauten Schlafzimmer seine Liebe. Doch sie entscheidet sich für Schwanda.

Fazit: Flotte Musik, alles drin: Walzer, Volksmusik, schrille Neutönende, gut gespielt von den Wiener Symphonikern und temperamentvoll dirigiert. Etwas chaotische Handlung, aber das ist man ja bei Opern gewöhnt. Tolle Sänger!

www.theater-wien.at

Wiener Staatsoper: György Ligeti: Le Grand Macabre.

Text: Michael Meschke und György Ligeti nach Michel de Ghelderode

Musikalische Leitung Pablo Heras-Casado, Inszenierung und Bühne Jan Lauwers, Kostüme Lot Lemm, Choreographie Paul Blackman und Jan Lawers

Es passte alles zusammen: Direktor Bogdan Roscic hatte sich vertraglich verpflichtet, auch Klassiker des 20. Jahrhunderts zu spielen. Der 100. Geburtstag des Komponisten G. Ligeti war ein geeigneter Anlass, diese Pflicht zu erfüllen.. Mit „Le Grand Macabre“ hätte man keinen besseren Griff machen können. Ebenso wenig mit dem Winningteam Heras-Casado, Jan Lauwers, Lot Lemm und dem Choreographen Blackman gemeinsam mit Lawers. Allesamt erfahrene Theatermacher. Und so kam es, dass eine Oper des 20. Jahrhunderts ein Riesenerfolg wurde. Publikum und Kritiker waren begeistert – ein seltener Fall von Einmütigkeit.

Autohupen eröffnen den Abend und stimmen das Publikum auf Unerhörtes, noch nie Gehörtes und noch nie Gesehenes ein. Mit einem Bühenbild – Ausschnitte aus dem „Breughelland“ -, Tänzern in „Nacktkostümen“ hat man genug zu tun, alles zu erfassen – da wird gehüpft, gevögelt, geschlemmt, was das Zeug hält – alles aufgelöst in choreografische Kleinszenen, die nie auch nur die Spur von Ordinärem haben. Ein Kunststück sondergleichen. Wir sind in einem Schlaraffenland, wo alles erlaubt ist. Die Musik karikiert das Geschehen, nimmt dem Obszönen das Geile und formt es zu einer „Commedia dell`Arte“ um. Unterhaltsam wie die Musik sind die Einzelszenen: Da wird nicht angeklagt, nicht angespielt auf Aktuelles, sondern nur einfach das Leben in allen Facetten genossen – wie der Säufer Piet vom Fass ( sehr überzeugend Gerhard Siegel) verkündet. Wer nicht als Mann spurt – dem droht die Peitsche: Marina Prudenskaya ist eine urkomische Mescalina, fordert von ihrem Gespons Astradamus mehr sexuellen Einsatz – Wolfgang Bankl darf gehörig unter ihr leiden. Überhaupt ist Venus gefragt (toll in der Doppelrolle als Venus und Chef der Gepopo: Sarah Aristidou). Mitten in diesem heftigem Treiben taucht der allen unbekannte Nekrotzar auf – eine gesangliche und darstellerische Sonderleistung von Georg Nigl. Er stellt sich vor als der Tod! Durch den Sturz des Kometen sollen Erde und Menschen vernichtet werden – das hat schon bei Nestroy nicht geklappt, und heute noch weniger: Alle fürchten sich, jammern, aber – kein Tod, kein Komet, denn Nekrotzar hat sich zu Tode gesoffen – „consummatum.est“ – heißt es, als er verendet. Dass die Wiener den Tod durch Gesang und Wein vertreiben, das ist Standard. Was Ligeti daraus macht – ist einfach die Parodie auf die Parodie mal drei!! Eine ganz zwielichtige Rolle spielt der Pseudofürst Go-Go (eindrucksvoll der Countertenor Andrew Watts). Seine Herrschaft steht auf wackligen Papierbeinen, wie seine Krone auch.

Ein Wirrwarrbild, das sich immer wieder auflöst, neu bildet – das Publikum ist vollauf beschäftigt. Langeweile – keine Sekunde. Höchstens ein ganz kleines Bisschen nach dem Tod des Todes. Das wäre ein passender Schluss, doch es geht noch weiter. Denn man will ja zeigen, das man den Tod nicht fürchtet. Das allerdings hat das Publikum schon begiffen. Das altbekannte Wiener Motto leitet den Schluss ein: „Fürchtet den Tod nicht, irgendwann kommt er, doch nicht heut.“ und „Wir haben Durst, also leben wir“ singt Piet vom Fass. Wie zur Bestätigung, dass auch Sex und Erotik nicht vertrocknen, singen die beiden Verliebten Amanda und Amando (Maria Nazarowa und Isabel Signoret) von ihrem Liebesglück. Unter heftigem Geschmuse und einer furiosen musikalischen Feier des Lebens geht ein machtvoller Abend mit hintergründiger Musik und vielen ebensolchen Anspielungen zu Ende. Ein Extraapplaus galt dem Dirigenten Heras-Casado, der mit den Sängern mitatmete, die Musik nie über die Sänger triumphieren ließ.

www.wiener-staatsoper.at

Theater Scala: Ödön von Horvath, Figaro lässt sich scheiden

Regie und Bühne: Rüdiger Hentzschel, Kostüm: Anna Pollack

Horvath schrieb das Stück 1936-37, zu einer Zeit , als es politisch in Deutschland und Österreich drunter und drüber ging und der Nationalsozialismus sich rasch ausbreitete. Der Autor bedient sich des altbekannten Personals von Beaumarchais (Der tolle Tag oder Figaros Hochzeit) und Mozart (Le nozze di Figaro) und lässt Graf Almaviva, die Gräfin, Susanna und Figaro gemeinsam vor der Französischen (?) Revolution ins Ausland fliehen. Wie in einem Lehrstück von Bert Brecht werden die einzelnen Szenen einer Flucht und ihre Folgen im ersten Teil gezeigt: Die von Angst Getriebenen, die bestechlichen Grenzbeamten, das Ankommen und die Hilflosigkeit der Emigranten – dieser Begriff wird deutlich an- und ausgespielt -, die erste Orientierung im unbekanten Neuland. Jede Szene und die einzelnen Personen stellen eine für Flucht und Vertreibung allgemein gültige Aussage dar: Der Graf, der sich nicht mit dem Verlust seiner Stellung abfinden kann, die Gräfin, die aus Angst krank wird. Susanne, die aus Menschlichkeit hilft, Figaro, der sich mit seinem Mundwerk und seiner angeborenen Schlauheit durchschlägt, dabei aber sich von Susanne entfremdet. Sie alle wirken wie Versatzstücke, die mit minimalen Variationen typisch in jeder Geschichte über Flucht und Emigration vorkommen könnten.Um diese Szenen rasch aufeinander folgen zu lassen, entwarf Rüdiger Hentzschel eine kreisrunde Bühnenwand mit beweglichen Segmenten. So konnten Requisiten in Windeseile von den Schauspielern herein- und weggetragen werden. Der Effekt: Das Leben besteht aus Hetzjagd und Angst.

Im zweiten Teil werden die Schicksale individueller, der Gang der Handlung ruhiger und an einem Ort verhaftet: Alle – bis auf die inzwischen verstorbene Gräfin – treffen sich im Schloss des Grafen in ihrer alten Heimat wieder. Dort hat sich die Revolution breit gemacht: Aus dem Schloss wurde ein Kinderheim unter der Leitung des revolutionsgläubigen Pedrillo, ehemaliger Stallknecht des Grafen. Bald jedoch sind fast die alten Ordnungen wieder hergestellt: Figaro entmachtet den übereifrigen Revolutionär, der Graf bleibt Graf aber ohne Macht. Susanne verzeiht ihrem Figaro. Fazit: Die Revolution wurde humanisiert!

Warum dieses Stück selten bis gar nicht aufgeführt wurde, liegt wahrscheinlich an seiner etwas lehrhaften Trockenheit und dem unglaubwürdigen Schluss. Um so mehr gilt es zu bewundern, was der Regisseur Rüdiger Hentzschel und das spielfreudige und engagierte Ensemble daraus machten: Eine Komödie über menschliche Schwächen, Ängste und Machtspiele. Vor allem wurde jeglicher Anschein von „Demokratieerziehung“ vermieden, was die Zuschauer mit dankbarem Applaus quittierten. Wertfreies Theater, flott gespielt. Theater um Theater willen. Wer die Moral der Geschichte unbedingt finden will, der wird fündig, wird aber nicht direkt mit der Nase darauf gestoßen.

Es spielen: Dirk Warme, Monica Anna Cammerlander, Simon Brader, Lisa-Carolin Nemetz, Hendrik Winkler, Katharina Stadtmann, Stanislaus Dick, Ildiko Babos, Bernhardt Jammernegg, Christoph Prückner, Helfried Roll.

Vom 14. -30.11., jeweils Dienstag bis Samstag um 19.45h. Ab 9. Dezember 2023: „Play Strindberg“ (Strindberg-Dürrenmatt)

www.theaterzumfuerchten.at

Yavud Ekinci: Das ferne Dorf meiner Kindheit. Kunstmann Verlag

Aus dem Türkischen von Gerhard Meier

Yavud Ekinci ist ein engagierter türkischer Schriftsteller, der für die Rechte der Kurden vehement eintritt, was natürlich im Erdoganregime nicht unbeobachtet blieb. Zur Zeit lebt er in Deutschland. Sein Roman „Das ferne Dorf meiner Kindheit“ hat einen biografischen Hintergrund. Die Handlung umspannt fast ein Jahrhundert.

Im ersten Teil schildert er aus der Sicht des Kindes Rüstem das Aufwachsen in einem kurdischen Dorf irgendwo in den anatolischen Bergen. Seine kindliche Welt scheint zunächst unbedroht: Murmelspiele, die ersten verliebten Blicke auf ein Mädchen. Doch bald trübt sich die heitere Kindheit ein – drohende Wolken ziehen auf: In der Schule wird bei Prügelstrafe verboten, Kurdisch zu reden. Sein älterer Bruder hat sich einer Widerstandsgruppe angeschlossen und wird von den Soldaten gesucht. Das Haus, in dem Rüstem mit seinen Großeltern und dem Vater wohnt – seine Mutter ist schon lange tot – wird von den Soldaten durchwühlt. Als der geliebte Großvater stirbt und alle Häuser des Dorfes von den Soldaten in Brand gesetzt werden, geht seine Kindheit jäh zu Ende.

Im zweiten Teil ist Rüstem ein junger Mann. Er besucht die kranke Großmutter im Spital in der Stadt. Dabei erzählt sie ihm aus ihrer Vergangenheit: Sie ist Armenierin, die durch Zwangsheirat vor dem Genozid „gerettet“ wurde. Ihren ersten Ehemann, den sie sehr geliebt hatte und mit dem sie nur 6 Monate verheiratet war, fand sie als von den Soldaten übel zugerichteten Leichnam. Nun ist es ihr einziger Wunsch, neben ihm begraben zu werden. Rüstem lädt gemeinsam mit seinem Vater den Sarg mit der Leiche seiner Großmutter auf einen Traktor. Sie fahren los, um sie an dem von ihr gewünschten Ort zu begraben. Doch sie werden von Soldaten aufgehalten, der Sarg wird zertrümmert, die Leiche mit Schüssen durchbohrt. Die beiden verbringen eine grauenvolle Nacht in einer engen Gefängniszelle gemeinsam mit der schon stinkenden und von Maden angefressenen Leiche. Am nächsten Morgen werden sie zwar freigelassen, aber die Leiche darf nicht begraben werden. Der Vater Rüstems sperrt sich mit ihr in seinem Zimmer ein und erhängt sich.

Yavud Ekinzi meinte in einem Interview, Literatur müsse immer politisch sein, grausam und hart. Aber ehrlich: Zu viel der sehr detaillierten Schilderungen diverser Leichen tut dem Roman nicht gut – angeekelt liest man darüber hinweg und ist fast erleichtert, als man am Ende angekommen ist. Die Bereitschaft, über das Schicksal der Kurden und der Armenier mehr zu erfahren, nimmt mit zunehmender Seitenanzahl ab.

www.kunstmann.de

Grafenegg stellt Saisonprogramm 2024 vor

Die Sommersaison in Grafenegg findet 2024 vom 20. Juli bis 8. September statt. Die Neuigkeit: Die Reitschule wird erweitert und 2026 unter dem neuen Namen Rudolf Buchbinder Saal“ eröffnet. Die traurige Nachricht: Yutaka Sado wird heuer zum letzten Mal die Festival-Eröffnung (16. August) dirigieren. Am Programm: George Gershwin und Arnold Schönberg. Er verlässt mit 2024 die Tonkünstler. Ihm folgt Fabien Gabel, der am 23. August das Abendkonzert dirigieren wird. Composer in Residence wird Enno Poppe sein. Er wird am 28. August sein neues Werk „Strom“ dirigieren.

Für Gäste, die Übernachtungsmöglichkeiten suchen, werden neben den schon bestehenden Hotels neu B&B in den umliegenden Kellergassen angeboten.

Das ganze Programm im Detail: www.granegg.com

Niccolò Ammaniti: Ich habe keine Angst. Eisele Verlag

Aus dem Italienischen sehr feinfühlig übersetzt von Ulrich Hartmann

Ammaniti ist Fans der italienischen Literatur längst ein Begriff.“Io non ho paura“ ist eines seiner frühen Bücher, das er wahrscheinlich in den späten 90ern schrieb. 2001 erschien es bei Mondadori und nun also in deutscher Fassung („Ich habe keine Angst“) im Eisele-Verlag.

Ein vier Häuser-Seelendorf , irgendwo im Süden Italiens, es könnte in der Toscana oder Apulien liegen. Aber die von Weizen bedeckten goldgelben Hügel lassen eher Sizilien vermuten. Auch die übergroße Armut, von der Ammaniti immer wieder spricht.

Ammaniti erzählt in der Ichform aus der Sicht des 9-jährigen Michele. Später erfährt man, dass es die Sicht und Erinnerung des Erzählers ist, der sich hin und wieder einschaltet. Was sofort beim ersten Lesen auffällt: Ammaniti schreibt aus der Seele des Kindes. In einer authentischen Sprache erleben wir die Zweifel, Ängste und Gewissensbisse des Buben. Ganz ohne Verkindlichung. Im Gegenteil – die Welt in dem Dorf ist hart. Hart die Erziehungsmethoden – die Mutter versohlt Michele ganz ordentlich, effektiver als ein Mann. Zugleich aber liebt sie ihn und verteidigt ihn mit Tritten und Fausthieben gegen jegliche Angriffe. Den Vater liebt Michele vielleicht noch mehr, wohl weil er nicht allzu oft zu Hause ist. Kehrt er von seinen langen Fahrten mit dem Lastwagen zurück, wird er stürmisch begrüßt, besonders von Maria, der um fünf Jahre jüngeren Schwester.

Obwohl Michele sich oft über sie ärgert, weil sie ihm wie ein Hündchen überall nachfolgt, beschützt er sie dennoch. So beginnt der Roman: Michele sorgt sich um Maria, als sie ihm irgendein Wehwechen vorjammert. Obwohl er weiß, dass sie nur Theater macht, klinkt er sich aus dem Spiel mit seinen Freunden aus, verliert auch den ersten Platz im Radwettfahren. Als Barbara, ebenfalls eine nicht gewollte Mitgespielin, vom Anführer Totenkopf dazu verurteilt wird, ihre Hose runterzulassen und ihre Vagina zu zeigen, macht Michele sich erbötig, an Stelle Barbaras die ausgedachte Strafe auf sich zu nehmen: Er muss auf den Hügel hinauf und in das verfallene Haus hineinklettern, in dem er und keiner von den Freunden noch je waren. Dabei fällt er in ein Erdloch, wo er einen zum Skelett abgemagerten Buben findet. Erschrocken will er fliehen, doch dann merkt er, dass das Skelett lebt, und schon regt sich in ihm sein Mitgefühl. Er verspricht ihm zu helfen.

Warum ich darüber so ausführlich schreibe? Weil schon in den ersten Seiten der Charakter Micheles klar wird: Gerechtigkeitssinn und Mitgefühl für andere sind stark ausgeprägt. Das Ende des spannenden Romans ist spiegelbildich zum Anfang komponiert: Er wird unter hohem Risiko diesen Jungen vor dem Tod retten.

Wunderbar baut Ammaniti die Handlung in die Landschaft und das Wettergeschehen ein. „Alles war mit Korn bedeckt. Die niedrigen Hügel folgten aufeinander wie Wellen eines goldenen Ozeans. Bis zum Horizont nur Korn, Himmel, Grillen, Sonne und Hitze.“ (S 10) Das ist nicht die Sprache des Kindes, sondern die des Erzählers, der sich erinnert. Wie die beiden Sprachebenen fast unmerklich ineinander fließen, das ist große Sprachkunst. Die alles verbrennende Sonne raubt den Erwachsenen den Verstand, die Armut treibt sie in das Verbrechen – die Bewohner des Dorfes werden zu Entführern, um von den Eltern Lösegeld zu erpressen. Als die Sonne alle in die Häuser treibt, legt sich bleierne Stille über das Dorf. Doch ein Gewitter entlädt die Spannung – die Bewohner beschließen den im Loch gefangen gehaltenen Buben zu töten, weil die Aussicht auf Lösegeld gleich null ist.

Anfang der 70er bis in die 90er Jahre wurden in Italien Kinder reicher Eltern, namhafter Politiker gestohlen, um Geld zu erpressen. Diese Verbrechen gingen nicht immer zu Lasten der Brigate Rosse, sondern geschahen oft aus bitterster Armut heraus. Sardinien war damals trauriger Vorreiter in Sachen Entführung. Wohl aus diesen Erinnerungen heraus schrieb Ammaniti diesen Roman.

www.eisele-verlag.de

Theater in der Josefstadt: Frank Wedekind: Lulu

Elmar Goerden ist so etwas wie ein Hausregisseur im Theater in der Josefstadt. Man sah von ihm gute Inszenierungen, wie etwa „Kafka“, „Die Verdammten“ Radetzkymarsch“ oder auch „Die Ziege“. Doch manche gingen völlig daneben wie „Rosmersholm“, „Medea“ oder jüngst erst „Sommergäste“, wo er Joseph Lorenz zu einem stummen, spuckenden Geist degradierte.

Nun also inszenierte er „Lulu“. Im Untertitel steht: IN EINER BEARBEITUNG VON ELMAR GOERDEN. Eine Warnung für viele Theaterliebhaber! Oftmals ist der ursprüngliche Text nur ein Handout des Regisseurs, damit er seine oftmals cruden Ideen umsetzen kann. Was auch hier der Fall ist.

Um diese – die cruden Ideen -zu verstehen, ist es ratsam, eine Stunde vor Beginn in Ruhe das PROGRAMM durchzulesen. Dann ist man den wirren Einschüben nicht ganz so hilflos ausgeliefert. In einem Gespräch mit der Dramaturgin Jacqueline Benedikt äußert sich Goerden über seine Regiearbeit. Zusammegefasst meint er, das Stück könne heute so nicht mehr gespielt werden. Im Gespräch mit den Schauspielern sei ihm dies klar geworden. Und er fand, diese Gespräche seien erhellender als das Stück selbst. Deshalb habe er sie als „zweite Ebene“ in das Stück eingefügt. Den ursprünglichen Text Wedekinds verbannt er diskret in eine Ecke der Bühne, wo er unter Glassturz auf einer Säule wie ein Museumsstück aufgebahrt liegt! Hin und wieder weisen die Schauspieler auf Wedekinds Drama wie auf etwas ganz und gar Nebensächliches hin. Dem Publikum bleibt es überlassen zu entscheiden, was ist Wedekind, was Goerden. Keine leichte Aufgabe. Und im Endeffekt ziemlich langweilig und langwierig (fast 2 Stunden ohne Pause).

DIE BÜHNE (Ulf Stengl) besteht aus graublauene Schlangen, die an eine Arbeit aus einer digitalen Werkstatt erinnern. Wer mit dem Drama Wedekinds nicht vertraut ist, fängt damit nichts an. Die Schlangenlinien sollen wohl eine Anspielung an das Tier, die Schlange sein, als die der Autor im „Prolog zum Erdgeist“ Lulu auftreten lässt. Also Verführung und zugleich auch Verführte, wie ein von den Männern ihr zugedachter Name lautet: Eva.

Gleich zu Beginn tritt ein Schauspieler (Joseph Lorenz) an die Rampe und fordert den Regisseur auf, sich an den Text Wedekinds zu halten. Da könnte man noch an eine Satire auf das Regietheater denken. Aber weit gefehlt: Wedekind wird zum Museumstext degradiert, die Personen kommentieren, spielen – Goerden. Dank der guten Schauspielerriege, die der Nährboden der Josefstadt ist, gelingen einige Szenen recht gut, sind von eigenwilliger Komik.

JOHANNA MAHAFFY ist Lulu ohne großes Verführungspotential, eher eine Widerständlerin. Zerstörerin. Und das mit allen Mitteln – sie manipuliert alle, ist doch immer Opfer. Aber sie berührt nicht. Vielleicht will das weder sie noch der Regisseur.

JOSEPH LORENZ überzeugt als Dr. Schön – ein Eiskalter, der glaubt, die Fäden in der Hand zu haben. Aber er glaubt eben nur. Als Chevalier Casti-Piani gibt er dieser schillernden Figur Facetten.

MICHAEL KÖNIG ist vielseitig gefordert – als spießbürgerlicher Ehemann Dr. Goll, als schmieriger Schigolch und als angeberischer Rodrigo. Seine komödiantische Ader lockert das Stück angenehm auf.

MARTIN NIEDERMAIR muss sich mit den unangenehmsten Rollen herumschlagen: Als verliebter Maler Schwarz, großartig als Alwa Schön und belanglos als Dr. Hilti.

Großartig SUSA MEYER als Gräfin Geschwitz. Diese Rolle kann leicht peinlich werden. Sie entgeht dieser Gefahr und spielt die in Lulu verliebte Lesbierin trocken, ganz ohne Pathos.

Dank des großartigen Schauspielerensembles war der Abend erträglich. Freundlicher Applaus und unfreundliche Kommentare nach dem – von allen ersehnten – Ende.

www.josefstadt.org

Serena Dandini, Die Frau in Hitlers Badewanne

Aus dem Italienischen von Franziska Kristen. btb

Was für eine vertane Chance! Eine interessante Frau mit einem aufregenden Leben hätte eine tolle Biografie oder einen ebensolchen Roman verdient. Aber das Buch ist weder noch. Durch Zeitsprünge und langweilige Anhäufungen von Namen, von denen bis auf Man Ray, Picasso, Breton und Max Ernst die anderen ziemlich unbekannt sind, verliert das Buch an Spannung. Außerdem spricht mitten im Text die Autorin über ihre Gefühle, wenn sie die Fotos ihrer Protagonistin ansieht. Was völlig deplaziert wirkt und ebenfalls den Lesefluss stört. Wenn sie die Protagonistin immer mit dem Attribut „die schönste Frau der Welt“ oder Ähnlichem versieht, so wirkt das aufgesetzt und ein wenig einfältig. Warum gibt es kein einziges Foto von Lee Miller? Eine Biografie über eine Fotografin ohne Fotos!?

Lee Miller ist die Frau in Hitllers Badewanne. Auf dem Cover ist eine Frau zu sehen, die in einer Badewanne sitzt und sich dabei selbst fotografiert. Sie ist auf ihrer Fotorecherche durch die Gräuel des Nachkriegsdeutschland und der Konzentrationslager am Ende in der Wohnung Hitlers gelandet und fragt sich entsetzt und verstört, wie so ein Monster so bieder wohnen konnte. Wie um den Mythos Hitler zu zerstören, lässt sie sich in seiner Badewanne nackt fotografieren.

Der Roman/ die Biografie beginnt mit dieser Szene. Dann springt die Autorin in die Kindheit Lees zurück. Elizabeth „Lee“ Miller wurde 1907 in Poughkeepsie , USA geboren. Früh schon lernte sie für ihren Vater als Fotomodell zu posieren. Sehr jung wurde sie zu einem best bezahlten Fotomodell der Vogue. Sie genießt das Party- und flirrende Liebesleben, wechselt ihre Liebhaber, langweilt sich rasch, beschließt die Seite zu wechseln: Sie reist nach Paris und wird zunächst Assistentin, dann Partnerin und Liebhaberin von Man Rey. Von ihm lernt sie die Kunst der Fotografie. Wechselt Liebhaber ohne mit der Wimper zu zucken, heiratet einen reichen Ägypter, bei dem sie sich auch sehr bald langweilt. Wieder in Paris bewegt sie sich im Surrealistenkreis um Breton und fotografiert die Künstlerszene. Im 2. Weltkrieg ist sie eine der wenigen weiblichen Kriegsberichterstatterinnen. Man gewinnt mehr und mehr den Eindruck, dass Lee Miller ihr Leben verbrennt. Aus Langeweile. Die jedoch schlagartig nach den entsetzlichen Eindrücken in Dachau in tiefe Depressionen umschlägt. Ihre letzten Lebensjahre verbringt sie in England, heiratet Roland Penrose, bekommt einen Sohn. All dies lässt sie aber im Inneren kalt. „Der Schritt von der atemberaubenden, schönen Muse zur armen, alten Irre ist nicht allzugroß“ konstatiert die Autorin (S255) Lee Miller -Penrose stirbt 1977 an Krebs. Verhärmt und in tiefer Depression.

www.penguin.de/btb-Verlag

Daniel Gascón, Der Hipster von der traurigen Gestalt.

Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Verlag Antje Kunstmann

Enrique ist ein politischer Naivling. In Madrid zieht er gegen alle und alles, politisch links oder rechts los. Aber irgendwann hat er von all dem Gerede die Nase voll und zieht aufs Land, ins Dorf Canada in der Provinz Teruel. Er will, weil er brav das Buch von Molino, Das leere Spanien studiert hat, das Dorf wieder beleben. Der Hahn kräht, Kirchenglocken,Traktor und Motorpflug sind für ihn Musik der ländlichen Idylle. Seine Tante, die ihn wegen seiner für sie meist unverständlichen Rhetorik bewundert, melkt für das verwöhnte Stadtbubi, der natürlich kein Fleisch isst, täglich das Schaf. Denn Enrique trinkt nur Schafsmilch. Er fühlt sich rundum wohl und beschließt bald, den hinterwäldlerischen Bewohnern auf die Sprünge in die moderne Welt zu helfen. So gründet er unter anderem einen Workshop zur neuen Männlichkeit, zu dem allerdings alle Männer fernbleiben. Nur seine Tante und deren Freundin sind anwesend. Ein glatter Erfolg für Enrique! Ohne dass er es merkt, hebeln die Dorfbewohner ohne Bosheit , einfach, weil es sich so ergibt, all seine Bemühungen aus. Ja, mehr noch, er wird bald einer von Ihnen. Die Rettung des leeren Spaniens wird auf später verschoben. Als er dann noch zum Bürgermeister gewählt wird, ändert er zwar nichts im Dorf, seine hochfliegenden Pläne formuliert er weiterhin in der absurden Sprache der verdrehten Welt. Dennoch geht im Dorf was weiter, – ein Filmcrew meldet sich an. Bald geht es drunter und drüber und man weiß als Leser nicht mehr so recht, wer außer Enrique noch Don Quijote ist. Es scheint, dass der Don-Quijotismus per se erfolgreich ist.

Ein Schelmenroman, in dem alle Ideen unserer Gegenwart, wie Nachhaltigkeit, Klimawandel, Feminismus und vieles mehr, mit viel Humor und geistreicher Ironie ad absurdum geführt werden.

www.kunstmann.de

Konzerthaus: Cleveland Orchestra, Simon Keenlyside, Franz Welser-Möst: Gustav Mahler, Lieder und 7. Symphonie

Sechs ausgewählte Lieder, Bearbeitung für Bariton und Orchester von Luciano Berio, interpretiert von Simon Keenlyside

Gustav Mahler wurde in dieser Woche hoch gefeiert: Die Tonkünstler spielten unter Yudaka Sado im Festspielhaus St. Pölten und im Musikverein die 6. Symphonie (s. den Beitrag dazu auf dieser Webseite).

Und nun also Gustav Mahler im Konzerthaus. Im ersten Teil faszinierte Simon Keenlyside als Liedinterpret. Die von Luciano Berio bearbeitete Fassung der 7 ausgewählten Lieder ist keine Neuinterpretation, sondern eine stärkere Betonung der expressionistischen Elemente . Für den Sänger keine leichte Aufgabe. Simon Keenlyside ist bekannt, dass er Lied oder Arie mit exzellenter Wortdeutichkeit und völlig akzentfrei singt, dabei spiegelt sich der Sinn des Liedes in seiner Körpersprache, Gestik und Mimik ebenso wider wie in seinem Gesang. Die 7 ausgewählten Lieder stammen aus der von Achim von Arnim und Clemens Brentano zusammengestellten Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“, von denen Mahler 24 vertonte. Sieben interpretierte Keenlyside an diesem Abend. Leicht und spielerisch brachte er die ersten beiden Lieder „Frühlingsmorgen“ und „Ablösung vom Sommer“ vor, die Tragik des Soldatenlebens in „Revelge“ lag dem Bariton besonders gut. Doch auch die feine, zarte Romantik im „Urlicht“, in dem bekannte Melodien, die für Mahler so markant sind, zitiert werden. Begeistern konnte er auch in den letzten beiden Liedern „Rheinlegendchen“ und „Hans und Grete“, die er mit dem für das Volkslied typischen Humor vorbrachte. Welser-Möst leitete das Cleveland Orchestra mit feiner Zurückhaltung. Für die ausgezeichnete Interpretation gab es ausführlichen Beifall.

Gustav Mahler, 7. Symphonie

Nach der Pause war es vorbei mit Zurückhaltung. Der volle Einsatz vom Orchester und Dirigenten war verlangt. Und Welser-Möst schonte weder sich noch das Orchester. Ähnlich wie in der 6. Symphonie komponierte Mahler die Untergangsstimmung dieser Zeit, nur legte er die Themen noch collagenhafter an. Die zu entwirren und zu einem klanglichen Ganzen zusammenzuführen, war die grandiose Misterleistung des Dirigenten und des Orchesters. Wie schon in der 6. verwendete Mahler auch in der 7. Herdenglocken, dazu noch Mandoline und Gitarre. Die Vielfalt der Themen zu strukturieren und in präziser Form zu spielen, die Steigerung und Spannung bis zum furiosen und nihilistischen Ende durchzuhalten, gelang Orchester und Dirigenten bis zum tosenden und tobenden Schluss.

Der Schlussapplaus brach orkanartig los und endete in standing ovations.

Anzumerken ist noch: Welser-Möst, der ja krankheitshalber alle Operntermine absagte, versprach alle Termine im Zyklus „Welser-Möst im Konzerthaus“ einzuhalten.

www.konzerthaus.at